Fragwürdiger Ahnenkult
"Ahnenkult oder Ahnenverehrung, auch Manismus genannt (von lateinisch manes 'Geister der Verstorbenen'), ist ein Kult, bei dem tote Vorfahren (Ahnen) – genauer: ihre weiterbestehenden Geister – mit bestimmten Ritualen verehrt werden. Die Ahnen stehen entweder in direkter familiärer Linie oder waren Gründer oder Oberhaupt der Gruppe, der die Verehrenden angehören. Fast immer wird der Ahnenkult in Verbindung mit einer Opfergabe durchgeführt, beispielsweise einem Trank-, Speise-, Brand- oder Kleidungsopfer; in manchen Kulturen konnten auch Menschenopfer dazu gehören." (Quelle: Wikipedia)
Sieben Schüsse werden am 9. März 1997 auf Christopher George Latore Wallace abgefeuert, vier davon treffen ihr Ziel und beenden kurze Zeit später das Leben des noch nicht mal 25-Jährigen. Und das, obwohl ihm zu genau dieser Zeit die Musikwelt zu Füßen liegt und alle Wege offenstehen. Dennoch hat er in jungen Jahren schon mehr erreicht, als andere in seinem Alter überhaupt zu träumen wagen. Besonders dramatisch wirkt sein Tod, wenn man den Umstand bedenkt, dass der junge Mann zu seinen Lebzeiten gerade mal ein einziges Album veröffentlichte. Wie eine dunkle Vorahnung liest sich im Nachhinein der Titel eines der besten Alben aller Zeiten: "Ready to Die" erschien am 13. September 1994 und katapultierte den einstigen Kleinganoven 60 Wochen lang in die Billboard-Charts. Bis heute wurde das Album weltweit über sechs Millionen Mal verkauft und erreichte somit sechsfach Platin. Die Veröffentlichung seines zweiten Albums soll er nicht mehr erleben. Der Titel steht dem Vorgänger in Sachen Tragik in nichts nach. "Life After Death" erscheint knapp drei Wochen nach dem gewaltsamen Tod von Christopher Wallace, der den meisten eher unter seinem Künstlernamen The Notorious B.I.G. bekannt sein dürfte.
Doch B.I.G. ist bei Weitem nicht der einzige Tote, den Rap zu beklagen hat. Mindestens ebenso brutal wurden Attentate auf Tupac Amaru Shakur verübt – den Gegenpol zu Biggie Smalls, wenn man so will. Dieser überlebte 1994 nur knapp einen ersten Anschlag in den Quad Studios in New York, in denen sich zeitgleich auch Biggie und Puffy befanden. Fünf Kugeln trafen den Rapgiganten, eine davon sogar in den Kopf. Tupac überstand zwar den Angriff, doch die Freundschaft zwischen ihm und Biggie sollte die Nacht nicht überdauern. Die anfängliche Freude über die eigene Unverwüstlichkeit wich schnell einer ausgewachsenen Paranoia. Da die Polizei die Täter nicht ausfindig machen konnte, begab 2Pac sich selbst krampfhaft auf die Suche nach einem Schuldigen. Und glaubte ihn in seinem ehemaligen Homie B.I.G. und dessen Mentor Puff Daddy gefunden zu haben. Dies war der Beginn der Fehde, die zwar bei beiden Rappern das Business und die Verkaufszahlen ankurbelte, aber auch keiner der beiden überleben sollte. Am 7. September 1996 wurde erneut ein Attentat auf Tupac begangen, dieses Mal in Las Vegas. Sein Manager Suge Knight und er verließen den Veranstaltungsort eines Mike Tyson-Boxkampfes und fuhren im Mercedes zur nächsten Party. Doch auf dieser sollten sie nie ankommen. An einer Ampel wurden sie Opfer eines Drive-by-Shootings. Ein Projektil durchschlug Tupacs Lunge. Obwohl ebenfalls angeschossen, fuhr Suge Knight den Wagen noch ins nächste Krankenhaus. Dem Rapper wurde ein Lungenflügel entfernt und anfangs schien es, dass er wie durch ein Wunder auch diesen Anschlag überleben sollte. Doch schlussendlich erlag er seinen Verletzungen sechs Tage später, am 13. September 1996.
Obwohl beide Rapper komplett unterschiedliche Styles und Skills hatten, verbindet die Künstler doch mehr als nur der gewaltsame Tod. Beide kamen aus eher ärmlichen Verhältnissen und noch dazu aus raueren Ecken, wodurch sie in ihrem Leben mit vielen Problemen zu kämpfen hatten. Beide waren aber auch begnadete Lyriker, die ebendiese Probleme in ihren Songs verarbeiteten. Ausnahmetalente, von denen der Großteil der heutigen Szene schwärmt. Beide hatten HipHop im Blut, verkörperten und lebten diese Kultur. Beide sind mit Rap aufgewachsen und brachten ihn im Vorbeigehen nahezu mühelos auf die nächste Stufe. Beide wurden durch Drive-bys hingerichtet und erlebten nicht einmal annähernd ihren 30. Geburtstag. Und beide verkörperten einen Lebensstil, dem sie schlussendlich selbst erlagen. Keiner der Morde ist bis heute aufgeklärt. Über die Täter gibt es verschiedene Vermutungen. Es wurden Bücher verfasst, Serien und Filme gedreht und natürlich gibt es die absurdesten Spekulationen sowie Theorien zu jedem Überfall. Pac und Biggie waren schon zu Lebzeiten für Tausende von Fans regelrechte Ikonen im Rapgeschäft. Was B.I.G. seinem Westcoast-Pendant in Sachen Technik und Skills voraushatte, machte dieser wiederum mit seiner Selbstinszenierung und Persona wieder wett. Doch beide hatten den Zenit ihrer Karriere erreicht. Der gewaltsame Tod auf der Höhe des Erfolgs ließ nicht nur scharenweise Fans zurück, die ihren Idolen auf Trauerzügen zu Abertausenden die letzte Ehre erwiesen. Er generierte auch einen Boost, der ebenso endgültig scheint wie der Tod selbst. Denn statt am Zenit ihrer Karriere den steilen Weg nach unten anzutreten, bleiben beide unbewegt an der Spitze stehen.
Es ist der gleiche Gipfel des Erfolgs, den auch andere Rapper vor und nach der "Golden Era" erreicht haben. Die zweifellos schöne Aussicht von dort konnten einige länger und andere weniger lang genießen. Doch für sie alle ging es schlussendlich bergab. Namhafte Beispiele tummeln sich im Rapgame zuhauf: Angefangen bei Snoop Dogg über Eminem bis hin zu Nas. Sie alle haben ihren Zenit erreicht und längst überschritten. Neutral betrachtet ist das auch eine logische Konsequenz, da es so gut wie unmöglich ist, ständig an der Spitze eines gewissen Genres zu stehen. Weder in der Musik noch in anderen Bereichen wie etwa im Sport oder in der Technik. Stets wird man von einem hungrigeren Konkurrenten abgelöst. Doch betrachtet man die Raphistorie genauer, so sticht kaum ein Rapper – egal, ob tot oder lebendig – so hervor wie B.I.G. und 2Pac. Und das liegt nicht nur daran, dass beide bereits zu Lebzeiten als Giganten ihres Genres galten, sondern eben auch an dem sprichwörtlichen Knall, mit dem sie gingen.
Obwohl die Musikbranche etliche Tote aufzählen kann, die vor ihrer Zeit gegangen sind – teilweise auch unter mysteriösen Umständen – so ist die Liste derer, die uns tatsächlich auf der Höhe ihres Erfolgs verlassen haben, eher kurz. Dafür sind die Namen umso bekannter: John Lennon, Kurt Cobain, Bon Scott, Falco … Je nachdem, welches Musikgenre man feiert, werden gewisse Künstler mehr oder weniger in den Vordergrund gerückt, doch fallen letztendlich immer die gleichen Namen. Und im HipHop gibt es eben kein Vorbeikommen an den beiden Säulen 2Pac und Biggie.
Doch woher kommt dieser posthume Hype, diese Totenverehrung, die bedingungslose Huldigung eines verstorbenen Idols? Auf der einen Seite stehen der Verlust und die damit verbundene Trauer natürlich im Vordergrund. Riesige Talente ihrer Zeit innerhalb von wenigen Augenblicken ausgelöscht … Und damit auch die Chance auf neue Musik. Auf neue Alben, neue Songs, Live Gigs, Videos, Interviews. Mit dem Künstler geht letzten Endes auch die Chance auf weitere Kunstwerke verloren. Von etwaigen unveröffentlichten Songs, welche es schon im Vorhinein nicht auf ein Album geschafft haben, mal abgesehen. Deshalb werden alte Sachen umso mehr gepusht, gefeiert und gehypt – oder eben auf Hochglanz poliert und neu veröffentlicht. Auf der anderen Seite steht der Fakt, dass der Tod endgültig ist und sich daher niemand anmaßt, schlecht über einen verstorbenen Menschen zu sprechen. Erst recht nicht, wenn er viel zu früh von uns gegangen ist.
Und genau hier bekommt diese Verehrung eine gefährliche Kehrseite. Denn wie das Sprichwort so schön sagt: Der Schein trügt. Diese blinde Hingabe zum verstorbenen Idol wird vom Kapitalismus beinhart ausgenutzt und ausgeschlachtet. Oder um es auf den Punkt zu bringen: Was die Labels Death Row oder Bad Boy mit den Hinterlassenschaften ihrer ehemaligen Schützlinge angestellt haben, war und ist bis heute pure Geldmacherei. Schon vor dem Ableben ihrer Künstler verstanden sie es, diese zu pushen, zu vermarkten und richtig in Szene zu setzen. Doch auch mit ihrem Tod findet die bedingungslose Vermarktung kein Ende. Allein von Tupac werden nach seinem Doppelalbum "All Eyez On Me" elf weitere Alben und eine DVD veröffentlicht. Als wäre das nicht schon genug Leichenfledderei, muss er zusätzlich noch als Hologramm neben Snoop Dogg auf der Bühne auftauchen. An der Eastcoast begnügt man sich hingegen mit vier Alben von Big Poppa nach dessen Doppelalbum "Life After Death". Dafür reibt sich Puff Daddy vermutlich noch heute jedes Mal die Hände, wenn "I'll Be Missing You" aus dem Radio trällert. Nicht nur mit posthumen Alben und Songs wird den einstigen Größen im Rapgame gehuldigt. Auch mit T-Shirts, Postern, Frühstückstassen und Socken versucht man, seinem einstigen Idol der Westcoast zu gedenken. Und natürlich gilt: "Only your credit card companies can judge you." Von B.I.G. gibt es ebenfalls Socken, Pullover, T-Shirts et cetera. Außerdem kann der geneigte Fan den ein oder anderen Wackelkopf auf Amazon erstehen. Vermutlich der einzige Biggie, der dieses Merch abnicken würde.
Nicht nur der posthume Umgang mit den Künstlern offenbart eine sehr fragwürdige Auslegung von Moral. Auch die beiden Aushängeschilder der East- und Westcoast kamen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Trotz all der wirklich guten Musik, die sie zweifellos veröffentlicht haben, sollte man nicht vergessen, dass 2Pac und Biggie bei Weitem keine Unschuldslämmer waren. Der eine verbrachte wegen Kokainhandels neun Monate im Gefängnis, der andere wurde wegen sexueller Belästigung verurteilt und saß seine Strafe ab, während sein Album "Me Against The World" auf Platz eins der Charts einstieg.
Fast jeder Fan kennt diese Geschichten, doch wird ihnen irgendwie nicht genügend oder einfach nur die falsche Aufmerksamkeit zuteil. Möglicherweise aus genau diesem Grund, dass es einem der Anstand gebietet, über Tote nicht schlecht zu reden. Doch bei Prominenten hat das Ganze einen unangenehmen Nebeneffekt. Denn indem man versucht, lediglich die positiven Seiten hervorzuheben, blendet man etwaige Fehler der Person komplett aus. Anstatt eine Verurteilung und einen Gefängnisaufenthalt infrage zu stellen, dient es den meisten Fans eher als Beweis für die tatsächliche Kraft oder Stärke ihres Idols. Anstatt sich von solchen Handlungen – auch als Fan – zu distanzieren oder diese zumindest kritisch zu hinterfragen, werden sie in ein falsches Licht gerückt. Hier beginnt die eigentliche Gefahr der Glorifizierung, eine Art blinde Bewunderung für das persönliche Vorbild, ohne sich selbst einzugestehen, dass auch der gefeierte Rapstar seine Schattenseiten und Schwächen hatte.
Und genau diese blinde Bewunderung, gepaart mit dem kapitalistisch aufgebauten Erfolg, erzeugt wiederum Nachahmer und Fans, die es ihren Idolen gleichtun möchten. Man kann ihnen eigentlich gar nicht vorwerfen, sich für ein solches Leben zu begeistern. Wird ihnen nicht im Fall von Biggie und Pac bereits vorgelebt, dass der Erfolg das Ziel ist und über allem steht? Dass, wenn man erst mal oben angekommen ist, alles andere vergessen ist? Dass der Ruhm auch jedes Vergehen in einem ganz anderen Licht erstrahlen lässt? Daraus resultiert doch letztendlich nur dieser eine Trugschluss, dass man für den Erfolg ruhig auch über Leichen gehen kann. Und fast scheint es so, als würden etwaige Nachahmer von Grund auf weniger Wert auf Anstand und Moral legen. Da sie bewusst oder unterbewusst erlebt haben, dass die Gesellschaft ihnen eine Art Absolution erteilt.
Hier handelt es sich keineswegs um ein US-amerikanisches Phänomen, auch vor der deutschen HipHop-Szene macht eine gewisse Glorifizierung nicht halt. Fragwürdige Aktionen werden von Fans immer noch zuhauf gefeiert, ohne zu hinterfragen, ohne zu reflektieren und – wie bereits beschrieben – ohne zwischen Kunst und Realität zu unterscheiden.
Im Deutschrap gibt es Gott sei Dank noch keinen Künstler, der gewaltsam ums Leben gebracht wurde. Doch steuert man schon sehr in die Richtung der amerikanischen Vorbilder. Manche Rapper vervollständigen die Inszenierung um ihre eigene Person gerne mit dubiosen Gestalten aus der Unterwelt. Wir erinnern uns an ein SPIEGEL-Cover, an Musikvideos, in denen auch namhafte Clanmitglieder auftauchen, oder schlichtweg an Interviews, die bei Streitereien und Beef schon eher mit Managern als mit den Rappern selbst geführt wurden. Clanmitglieder und Rockerclubs sind auch immer wieder Teil von Instagram-Stories, Musikvideos und Interviews. Dienen diese Verbindungen zur Verdeutlichung der eigenen Stärke? Sollen sie den Schutz repräsentieren, den jemand genießt? Oder sind sie schlichtweg als Warnung für die Konkurrenz zu sehen? Provoziert werden gewaltsame Übergriffe zwar immer häufiger, aber noch bleibt Rapdeutschland von Mord und Totschlag verschont.
Doch scheint es dem ein oder anderen Künstler so, als wünsche man sich innerhalb der Community, dass Rapper für ihren Erfolg oder ihre Musik in den Tod gehen. Kool Savas widmet dem Thema einen ganzen Song beziehungsweise Albumtitel. Auf "Märtyrer" rappt er:
"Sie sagen: 'Bring dich mal um!
Töte dich! Tu's für uns, tu's für die Kunst!
Tu alles, was nötig ist, mach 'n Punkt!
Zöger nicht, gibt den Dingen 'nen Grund!
Nimm dir dein Leben, werd' ein Märtyrer!'"
Bedenkliche Zeilen – erst recht, wenn man sie aus der Sicht des Rappers betrachtet. "Tu alles, was nötig ist … […] Zöger nicht …" Verlangt das Publikum früher oder später diesen Schritt? "Tu's für uns, tu's für die Kunst." Treibt der eigene Erfolgsdruck einen Künstler immer weiter? "Nimm dir dein Leben, werd' ein Märtyrer!" Ist man irgendwann so abhängig von der Liebe der Massen, bis man schlussendlich bereit ist, jeden Weg zu gehen?
Natürlich nahmen sich Biggie und 2Pac nicht selbst das Leben, doch war ihr frühzeitiger Tod untrennbar mit ihrer Musik verbunden. Beide sind immer noch die Aushängeschilder unserer Kultur, die bekanntesten Gesichter der 90er Jahre, der "Golden Era". Weder Nas noch Jay-Z, weder Mobb Deep noch der Wu-Tang Clan reichen an ihren Impact auf die Szene heran. Doch werden ihre Namen – zumindest von einem kleinen Teil der Szene – nicht nur mit einem lachenden, sondern auch mit einem weinenden Auge betrachtet. Denn sie sind auch immer noch die Aushängeschilder, wenn es darum geht, aufzuzeigen, wie Karrieren nicht enden sollten. Als begeisterter Rapfan hört man doch lieber ein mittelmäßiges Nas-Album als ein posthum veröffentlichtes Best Of von Biggie. Und man streamt vermutlich auch lieber ein Gospelalbum von Snoop als ein Remixalbum mit 2Pacs alten Texten. Oder um es auf den Punkt zu bringen: Als begeisterter Rapfan supportet man lieber eine lebendige – mitunter etwas peinliche – Ikone, anstatt stets darüber zu grübeln, welch grandiose Musik eine ermordete Legende mit ins Grab genommen hat. Und das kann auch der Biggie-Wackelkopf abnicken.
(Schinie)
(Titelbild von Daniel Fersch, Foto von Laila Drewes)