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Interview

grim104

"Eifer­sucht, Neid, Miss­gunst – das sind wahr­schein­lich alles Sachen, von denen wir uns auch nicht in einer klas­sen­lo­sen Gesell­schaft befrei­en könn­ten." – grim104 im Inter­view über die Ursa­chen von gesell­schaft­li­chem Hor­ror, die Arbeit an "Das Grau­en, das Grau­en" und Schlägereien.

Wahr­schein­lich denkt man zunächst an Zuge­zo­gen Mas­ku­lin und deren poli­ti­sche Tex­te, wenn man den Namen grim104 hört. Doch vor Kur­zem mel­de­te sich der Ber­li­ner Rap­per – sechs Jah­re nach der "grim104"-EP – mit einer etwas ande­ren Mes­sa­ge zurück. Pas­send zu Hal­lo­ween releas­te er eine schau­ri­ge Plat­te mit düs­te­rer Stim­mung und fan­ta­sie­vol­len Tex­ten, die bei genaue­rem Hin­hö­ren rea­lis­ti­scher sind, als sie anfangs erschei­nen mögen. Um sein neu­es Image als Horror-​Rapper abzu­run­den, betritt er als Graf Grim die maro­de Büh­ne des deut­schen Raps, macht inhalts­lo­sen Tex­ten den Gar­aus und ver­ängs­tigt die Mas­sen. Im Inter­view spra­chen wir mit ihm dar­über, wie es dem Gra­fen mit der Arbeit an "Das Grau­en, das Grau­en" erging und wie er zu dem Gräu­el steht, den er in der Gesell­schaft sieht. Außer­dem erfuh­ren wir, woher sei­ne Fas­zi­na­ti­on für Hor­ror und die auf dem Album behan­del­ten The­men stammt. 

MZEE​.com: "Das Grau­en, das Grau­en" ist nach lan­ger Zeit wie­der ein Solo-​Album von dir ohne Tes­to. Wie war es, allei­ne an einer Plat­te zu arbei­ten, nach­dem ihr mit "Alle gegen alle" grö­ße­ren Erfolg hattet?

grim104: Das ist toll, dass das die Wahr­neh­mung ist! (über­legt) Es war am Anfang ein biss­chen befremd­lich und auch schön, weil es da kein Gerüst wie Zuge­zo­gen Mas­ku­lin drum­her­um gab. Auf der ande­ren Sei­te habe ich schon sehr lan­ge nicht mehr so gear­bei­tet. Frü­her waren Solo-​Tracks auf den ZM-​Alben immer addi­tio­nal, wenn man was gemacht hat, wor­auf der ande­re gar kei­nen Bock hat­te. Da muss­te ich mich erst mal dran gewöh­nen. Es fiel mir dann doch erstaun­lich leicht, mich in die­se Stim­mung rein­zu­be­ge­ben und ich hab' auch nicht ein­fach so vor mich hin­ge­schrie­ben. Ich hab' das mit Sil­ker­soft zusam­men ent­wi­ckelt und das hat sich gut eingefügt.

MZEE​.com: Ich kann mir gut vor­stel­len, dass die Pro­duk­ti­on von Sil­ker­soft musi­ka­lisch in eine ähn­li­che Rich­tung wie bei Zuge­zo­gen Mas­ku­lin geht.

grim104: Ja, wahr­schein­lich schon, weil Sil­ker­soft natür­lich auch eine bestimm­te Hand­schrift hat, die öfter mal bei ZM aus­ge­schrie­ben wird. Das Ding ist aber, dass ich es has­se, bestimm­te Sachen dop­pelt und drei­fach zu machen. Ich fin­de das ganz schreck­lich. Das war mein ers­ter Reflex, was ich auf jeden Fall nicht machen woll­te: eine Neu­auf­la­ge der "grim104"-EP 2013. Kenji451 ist ein Freund von mir und ich mag die Musik, die er macht, auch wahn­sin­nig ger­ne. Ich woll­te halt, dass es eben nicht klingt wie die vori­ge EP. (lacht) Um ganz ehr­lich zu sein, woll­te ich am Anfang, dass es sich sehr redu­ziert anhört wie bei "FATHER OF 4" von Off­set. Die­ses bedrü­cken­de, run­ter­ged­ripp­te Trap-​Soundbild, wel­ches vor allem nicht so klingt wie die­ser Dorfbauern-​Trap, den ich auch manch­mal ger­ne höre. Das fand ich am Anfang total schön, hab' aber gemerkt, dass ich als Rap­per so nicht funk­tio­nie­re. Dafür fehlt mir ein­fach das sono­re Organ, damit ich da gelang­weilt drü­ber­fle­xen kann. Sehr lan­ge Ant­wort, um zu sagen: Ja, klar, das klingt ein biss­chen ähn­lich wie bei Silkersoft.

MZEE​.com: Wenn man dei­ne alte EP "grim104" hört, merkt man, dass das Klang­bild die­ser Plat­te damals in Deutsch­land noch nicht so prä­sent war. Ich fin­de, dass die­ser kon­tem­po­rä­re, dunk­le­re Trap-​Sound zu dei­ner Art, zu rap­pen, auch gut passt.

grim104: Hm … (lacht) Ja. Dem kann ich nichts hin­zu­fü­gen. Aller­dings mer­ke ich gera­de, wäh­rend ich für die Tour pro­be, wie sich mei­ne Art, zu schrei­ben und zu rap­pen, ver­än­dert hat. Die­se "grim104"-EP hab' ich nicht mit dem Bewusst­sein auf­ge­nom­men, damit jemals auf Tour zu gehen. Das ist schön, weil ich damals dach­te, dass mein Text genau­so lang sein muss wie der Beat. Zu dem Zeit­punkt war mir noch nicht so bewusst, dass man Beats auch arran­gie­ren kann. Ich habe dann irgend­wel­che 24er-​Parts ver­fasst. Da mer­ke ich jetzt auf jeden Fall, dass eine Evo­lu­ti­on statt­ge­fun­den hat. Und dass ich einen schlau­en Gedan­ken nicht noch zwangs­läu­fig in den vier­ten Part packen muss, son­dern dass es auch in Ord­nung ist, aus weni­ger mehr zu machen.

MZEE​.com: Du hast dein Album zwar nicht lan­ge, aber sehr krea­tiv pro­mo­tet – wie mit der Telefon-​Hotline und Grim­mo­bi­li­en­scout. Bei der Hot­line konn­te man anschlie­ßend noch etwas auf den Anruf­be­ant­wor­ter spre­chen. Was waren die inter­es­san­tes­ten Nachrichten?

grim104: Die inter­es­san­tes­te Fra­ge, die mich wirk­lich zum Nach­den­ken ange­regt hat, war: "Wenn man mit einem Loch in der Socke stirbt und ein Geist wird, hat man dann als Geist auch ein Loch in der Socke?" Und natür­lich die Anschluss­fra­gen, die sich dadurch stel­len las­sen. Damit habe ich mich rela­tiv lan­ge beschäf­tigt. Ansons­ten waren es größ­ten­teils unlus­ti­ge Men­schen, die eine Piz­za bestel­len woll­ten. Oder auch die, die erschro­cken waren, dass wirk­lich ein Anruf­be­ant­wor­ter dran­ging. Selt­sa­me Geschich­ten, Lie­bes­er­klä­run­gen und aller­hand komi­sches Zeug tat­säch­lich. Da sind 2 000 Nach­rich­ten, mitt­ler­wei­le bestimmt sogar mehr. Wenn ich noch mal eine lan­ge Bahn­fahrt vor mir habe, höre ich mir die alle mal an.

MZEE​.com: Wie kamen die­se Ideen zustande?

grim104: Mit Sil­ker­soft. Er arbei­tet ja nor­ma­ler­wei­se bei einer Indie-​Game-​Firma an Com­pu­ter­spie­len. Dar­über haben wir Kon­takt zu einem Ent­wick­ler auf­ge­baut, der auf Insta­gram zer­stoe­rer heißt. Der hat vie­le gute Ideen gehabt und konn­te auch schnell arbei­ten. Wir haben zu dritt dar­an über­legt, wobei er auf jeden Fall den höhe­ren Anteil an schlau­en Ideen hatte.

MZEE​.com: Bei dei­ner vor­he­ri­gen EP lag der Fokus eher auf poli­ti­schen Tex­ten, wäh­rend du auf dei­nem neu­en Album die Men­schen in der Gesell­schaft selbst und deren All­tags­hor­ror the­ma­ti­sierst. Inwie­fern hast du dei­ne Her­an­ge­hens­wei­se ans Schrei­ben verändert?

grim104: Ein poli­ti­scher grim104-​Text: Das sind poli­ti­sche Quer­ver­wei­se, dazu noch ein Rap-​Zitat, et voi­là – fer­tig. (lacht) Das ist so eine Fin­ger­übung. Auf Tracks wie "2. Mai" bin ich schon ziem­lich stolz. Das fasst sehr gut zusam­men, wie ich mich zwi­schen 20 und 25 gefühlt habe. Jetzt gera­de ist das nichts, wobei ich das drin­gen­de Bedürf­nis hat­te, noch mal dar­über zu schrei­ben. Wenn ich wie­der Bock auf so Poli-​Zeug habe, gibt es ja immer noch die gute alte Band ZM, bei der man das aus­le­ben kann. (lacht) Die Fra­gen, die ich auf "Das Grau­en, das Grau­en" behan­delt habe, sind eben Sachen, die mich die letz­ten zwei bis vier Jah­re umtrie­ben haben. Dem­entspre­chend hat sich eben­falls der Fokus ver­än­dert. Ich will mich nicht wie­der­ho­len und auch kei­nen nihi­lis­ti­schen Polit-​Song machen, weil ich das schon mal gemacht habe.

MZEE​.com: Du bist nicht der ein­zi­ge Rap­per, der in der Ver­gan­gen­heit den Fokus auf gro­ße gesell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge gelegt hat und nun Geschich­ten auf einer per­sön­li­che­ren Ebe­ne erzählt. Dafür ist Rap, mei­ner Mei­nung nach, häu­fig auch eher geeignet.

grim104: Ja, auf jeden Fall. Das eine ver­kommt dann schnell zum gerapp­ten Buch. Es ist irgend­wie ein Teil von Pop­kul­tur. Das kann man mal machen. Es gibt ja auch im Rap zwei, drei gute Bei­spie­le für Songs, in denen ein gro­ßes Gesamt­bild gezeich­net wur­de. Die meis­ten davon sind von Zuge­zo­gen Mas­ku­lin. (lacht) Bei poli­ti­schen Tex­ten muss ich immer wie­der Staiger zitie­ren: "Lie­ber ein guter Song übers Ficken als ein schlech­ter Song über Poli­tik." Das gilt lei­der nach wie vor, weil es so schnell banal wer­den kann. Das passt auch in Anbe­tracht des ver­schärf­ten poli­ti­schen Kli­mas. Da muss man dop­pelt und drei­fach hin­gu­cken, damit man kei­nen Schrott macht, nur um einen Song gegen die AfD auf­ge­nom­men zu haben. Ich mache dann lie­ber was anderes.

MZEE​.com: Die Haupt­me­ta­pher dei­nes neu­en Albums ist der Hor­ror, der jeden tref­fen kann. Was sind dei­ne Metho­den, um mit nega­ti­ven Ereig­nis­sen umzugehen?

grim104: Wenn man das Gefühl hat, man bräuch­te eine The­ra­pie, dann hilft es auf jeden Fall, zur The­ra­pie zu gehen und kei­ne Plat­te zu machen. (lacht) Man kann auch bei­des machen – das ist wie­der­um was Fei­nes. Bei dem Satz "Rap ist für mich The­ra­pie" den­ke ich mir: "Da warst du aber noch nie bei einer The­ra­pie." Musik hilft mir dabei, mei­ne Nei­gun­gen aus­zu­le­ben, im Sin­ne von den The­men, die ich so behand­le. Das sind halt The­men, die ich span­nend fin­de. Alles dar­an fas­zi­niert mich irgend­wie und das hilft mir, mei­ne Krea­ti­vi­tät und Schaf­fens­kraft in irgend­was rein­zu­gie­ßen. Das ist auf jeden Fall etwas, was einem gut tut. Aber ich glau­be nicht dar­an, dass ein Album zu machen, eine wis­sen­schaft­li­che Her­an­ge­hens­wei­se erset­zen könnte.

MZEE​.com: Kannst du dir erklä­ren, woher die Fas­zi­na­ti­on für die­se The­men, die du behan­delst, kommt?

grim104: Ich bin als Kind in einen Topf mit Gru­sel­ge­schich­ten gefal­len und davon habe ich mich nie wie­der erholt. (lacht) Die Ant­wort ist zwar flap­sig, aber nicht ganz unernst. Das mer­ke ich auch aktu­ell, da die Fra­ge schon öfter gestellt wur­de und ich jetzt erst anfan­ge, dar­über nach­zu­den­ken. Eine mei­ner ers­ten Erin­ne­run­gen ist an das The­ma Tod geknüpft. Vie­le von den Geschich­ten, die ich als Kind gele­sen oder vor­ge­le­sen bekom­men habe, waren immer ganz schön dun­kel. Ich kom­me aus einer länd­li­chen Regi­on, da ist es oft grau und reg­ne­risch. Das wird alles sein Übri­ges getan haben.

MZEE​.com: Gibt es Eigen­schaf­ten der Figur Graf Grim, die du dir auch im rea­len Leben wünschst?

grim104: Ich glau­be, zu dem Zeit­punkt, als ich das geschrie­ben habe, waren das Unemp­find­lich­keit, Eises­käl­te und Unsterb­lich­keit. Das wird es wahr­schein­lich gewe­sen sein.

MZEE​.com: So etwas wünscht man sich ja nicht unbedingt.

grim104: Das stimmt, das sind Sachen, die man sich eigent­lich nicht wünscht. Außer viel­leicht Unsterb­lich­keit. Und auch das soll­te man vor­sich­tig betrach­ten. Das sind Din­ge, die von der Gesell­schaft aber nicht direkt nega­tiv gese­hen wer­den. Sol­che Sät­ze wie "Reiß dich mal zusam­men, du musst hart wer­den" zei­gen das ja. Gera­de deutsch­spra­chi­ge Rap­mu­sik ist durch­aus affin für die­se har­te Anspra­che. (über­legt) Das sind alles Sachen, die man sich nicht her­bei­sehnt, wenn man ein biss­chen Ver­stand hat. Natür­lich ist Graf Grim auch eine klas­si­sche Gangsterrap-​Figur. Das Alpha-​Raubtier auf der Stra­ße, dem nie­mand etwas anha­ben kann und das schwarz geklei­det durch die Nacht glei­tet. Das sich vor nichts fürch­tet außer viel­leicht Gott – und selbst über dem steht der Graf. Das wird es wohl gewe­sen sein. Und jetzt will ich nur noch flie­gen kön­nen. (lacht)

MZEE​.com: Wo liegt für dich die Ursa­che des Hor­rors, den du auf dei­nem Album behan­delst? In der Gesell­schaft, dem Sys­tem, der Poli­tik oder an ande­rer Stelle?

grim104: Da muss man sich fra­gen, was man als "Hor­ror" defi­niert. Wenn man jetzt sagt, es ist ein Alb­traum, in Groß­städ­ten eine Woh­nung zu fin­den, ist das durch­aus etwas Poli­ti­sches. Vie­le ande­re Sachen sind ein­fach im Men­schen impli­ziert. Ich hab' ein total posi­ti­ves Men­schen­bild – ich mag Men­schen. Das ist eine Spe­zi­es, die mich auch in ihrer Abwe­gig­keit zu Trä­nen rührt, weil ich es schön fin­de, wie Men­schen sind. Natür­lich sind in uns zu vie­le Din­ge ver­an­lagt, die eben zu die­sem Hor­ror füh­ren. Eifer­sucht, Neid, Miss­gunst – das sind wahr­schein­lich alles Sachen, von denen wir uns auch nicht in einer klas­sen­lo­sen Gesell­schaft befrei­en könn­ten. Wenn du in einem Bür­ger­kriegs­land auf­wächst, dann bringt es ver­mut­lich nichts, zu den­ken: "Ver­dammt, Hor­ror­clowns!" Der schlimms­te Hor­ror, den es so gibt, ist men­schen­ge­macht. Es gibt bestimmt ein paar Pla­ge­geis­ter, die man aus­mer­zen kann, aber ande­re eben nicht. Hier das Stich­wort The­ra­pie. Die­se Din­ge kann man offen benen­nen und ver­su­chen, einen Umgang damit zu fin­den. Aber die­ses "Okay, ich darf nichts Schlech­tes mehr den­ken" ist so Alpha-​Mentoring-​Shit. (lacht) Das bringt, glau­be ich, nichts und macht die Leu­te auf lan­ge Sicht dop­pelt und drei­fach unglücklich.

MZEE​.com: Du the­ma­ti­sierst in dei­nen Tracks auch Ber­lin und dei­nen kri­ti­schen Bezug zu der Stadt. Dazu haben wir dir ein Zitat aus dem Film "Fuck­ing Ber­lin" mit­ge­bracht: "Ber­lin ist kei­ne Stadt, Ber­lin ist ein Rhyth­mus. Und ent­we­der du bewegst dich mit ihm oder ver­lierst dich dar­in." – Siehst du das genauso?

grim104: Hm. (über­legt) Die­se Entweder-​oder-​Option … Da weiß ich nicht, ob das so stimmt. Ich hab' auch das Gefühl, dass gera­de Ber­lin mehr als zwei Mög­lich­kei­ten offen­hält. Mehr als: "Du musst dich im Rhyth­mus der Stadt bewe­gen oder du gehst unter." Ich woh­ne jetzt mitt­ler­wei­le seit zwölf Jah­ren hier. Die­se Leu­te, die ver­lo­ren gegan­gen sind, gibt es auf jeden Fall. Das stimmt. Man­che haben das Glück, dass sie aus einem Eltern­haus kom­men, wo eine Ret­tungs­maß­nah­me ergrif­fen wird. Aber ich find' es manch­mal echt inter­es­sant, was die­ses "Mit 20 irgend­wo hin­zie­hen und fei­ern" mit sich brin­gen kann, sodass sol­che Leu­te kaputt­ge­hen und bei ihnen irgend­ei­ne Psy­cho­se aus­bricht. Sowas kann auf jeden Fall pas­sie­ren. Ich glau­be aber, es gibt mehr als die­se zwei Möglichkeiten.

MZEE​.com: Hat­te der Umzug in die Haupt­stadt star­ken Ein­fluss auf dei­ne Musik?

grim104: Ja, natür­lich. So funk­tio­niert Kunst ja. Das Umfeld und die geis­ti­ge Sti­mu­la­ti­on, die man dadurch hat, haben einen hun­dert­pro­zen­ti­gen Ein­fluss dar­auf. (über­legt) Ich muss aller­dings sagen, dass es die­sen grim104-​Kern, den mei­ne Musik bis heu­te aus­macht, auch schon auf dem Dorf gab. Das ist nicht anders gewor­den. Die The­men­viel­falt hat sich aber geöff­net. Ich habe durch den Umzug nach Ber­lin einen ande­ren Blick aufs Dorf gekriegt, der sich bis­her nicht ver­än­dert hat. Als ich 16 war, ist mir klar gewe­sen, dass es irgend­wie schei­ße ist auf dem Dorf. Ich hab' mich gelang­weilt und ein­ge­engt gefühlt. Erst die­se Rück­schau hat dafür gesorgt, dass sich mein Blick geschärft hat. Wer weiß, was pas­siert, wenn ich irgend­wann mein Schloss in Trans­sil­va­ni­en bezie­he – wie ich dann über Ber­lin reden wer­de. In Klam­mern: schlecht. (lacht)

MZEE​.com: Der Track, der mir am meis­ten auf­ge­fal­len ist, war "Abel '19". Er han­delt von einer Schlä­ge­rei aus der Sicht des Opfers, wel­ches merkt, dass es bald ster­ben wird. Wel­che Ver­bin­dung hast du zu die­sem Track?

grim104: Ich hab' den Track geschrie­ben, des­halb eine inni­ge. (lacht) Nein, das soll jetzt nicht so pat­zig klin­gen. Ich über­le­ge mir nur gera­de eine gute Ant­wort. Wel­che Ver­bin­dung hab' ich mit dem Track? Die­se Schlä­ge­rei­en … Das ist ein The­ma, das mich zwi­schen 16 und 20 beschäf­tigt hat, wenn man sowas gehört hat wie: "Am Wochen­en­de gab es 'ne Schlä­ge­rei." Ich war nicht beson­ders aktiv in der Sze­ne, aber man ist zu einem bestimm­ten Zeit­punkt sei­nes Lebens dar­an vor­bei­ge­kom­men. Ich kom­me aus einem Umfeld, in dem meh­re­re Fami­li­en­mit­glie­der medi­zi­ni­sche Beru­fe – also Kran­ken­pfle­ger – aus­üben oder aus­ge­übt haben. Da gab es wirk­lich oft die­se Geschich­ten, bei denen das schief­ge­gan­gen ist. Bei klas­si­schen Knei­pen­schlä­ge­rei­en, die immer so roman­tisch ver­klärt sind. Zwei Typen, die sich danach wie­der die Hand geben. Da pas­siert es aber – lei­der gar nicht sel­ten – dass sich Leu­te ordent­lich ein­schen­ken und einer lie­gen bleibt. Das bleibt halt nicht aus. Das muss ja auch nicht mit Absicht sein. Ich glau­be, wenn du nicht eine tota­le Macke hast, dann gehst du abends nicht in eine Knei­pe mit der Absicht "Heu­te brin­ge ich einen um". Wenn sol­che Sachen schief­ge­hen wie Ein­brü­che, bei denen jemand im Schlaf über­rascht wird und einer die Ner­ven ver­liert und den ersticht. Oder eben umge­kehrt. Drei Jugend­li­che bre­chen irgend­wo ein, haben gehört, da sind Wert­sa­chen – blöd nur, der Haus­herr hat 'ne Schrot­flin­te oder so was. Am Ende stirbt halt jemand bei einer ver­meint­li­chen Klei­nig­keit. Das fin­de ich total fas­zi­nie­rend. Das ist auch so ein "Final Destination"-Gedanke. Du wachst mor­gens auf und am Ende des Tages hast du ent­we­der jeman­den umge­bracht oder wirst selbst umge­bracht, bist Opfer eines Gewalt­ver­bre­chens. Die­se Zufäl­lig­keit ist für mich total inter­es­sant. Das war eine der ers­ten Sachen, die ich in der Zei­tung gele­sen hab', als ich in Ber­lin war. Typ geht in eine Knei­pe im Prenz­lau­er Berg, eine der letz­ten uri­gen Knei­pen dort. Er kriegt einen wich­ti­gen Anruf und geht zum Tele­fo­nie­ren raus und hält die gan­ze Zeit die Tür auf. Vom Tre­sen hört er: "Hey, mach mal die Tür zu." Und der Typ sagt: "Halt die Fres­se, mach' ich doch gleich." Typ vom Tre­sen steht auf und haut ihm auf die Fres­se. Das gro­ße Pro­blem ist, dass der Typ vom Tre­sen ein rich­ti­ger Boxer war. Der haut ihm dann halt so eine run­ter, dass der Typ sich nicht auf­stüt­zen kann. Er fällt ein­fach vol­le Kan­ne mit der Schlä­fe auf die Stra­ße, lan­det direkt im Koma, aus dem er nicht mehr auf­wacht und stirbt ein paar Mona­te spä­ter. Die­se Belie­big­keit fin­de ich eini­ger­ma­ßen dra­ma­tisch. So ent­ste­hen ja die­se trau­ri­gen Geschich­ten. Das pas­siert ja meis­tens nicht irgend­wel­chen Leu­ten, die sich auf dem Acker boxen. Es gibt auch ein, zwei deut­sche Rap­per, die dem­entspre­chen­de Erfah­run­gen gemacht haben. Das pas­siert halt, ist aber natür­lich ganz schreck­lich, wenn es passiert.

MZEE​.com: In der wun­der­sa­men Rap­wo­che erzählst du, dass du dei­ne Mei­nung gegen­über bestimm­ten Din­gen sehr ver­än­dert hast. Bei­spiels­wei­se zum Album "Herr Sor­ge" von Samy Delu­xe, das du heu­te als mutig bezeich­nen wür­dest. Wel­che geän­der­te Ein­stel­lung hat dich selbst am meis­ten beeinflusst?

grim104: Ich muss sagen, ich hab' es nie gehört. (lacht) Ich sag' das nur aus dem Wil­len her­aus, gut zu fin­den, was ganz ande­res zu machen. Das fin­de ich im Nach­hin­ein mutig. Ich glau­be, ich muss das mal hören, bevor ich mich die gan­ze Zeit so lobend dar­über äuße­re. (lacht) Du meinst mit der Fra­ge, wel­che Ansich­ten ich über Bord gewor­fen habe, oder? Ich glau­be, im letz­ten Jahr ganz viel. Wirk­lich viel. Ich fühl' mich noch nicht ganz wohl damit, alles zu äußern, weil es teil­wei­se auch per­sön­li­che Ansich­ten auf das Leben sind. Da bin ich selbst noch am – auf nord­deutsch sagt man – aus­kla­mü­se­rn, wo ich damit hin will. Ich kann euch noch kei­ne zufrie­den­stel­len­de Ant­wort geben. Ich glau­be, es hat viel mit dem Älter­wer­den in einer Jugend­kul­tur zu tun. Es hat auch viel mit mei­ner Ansicht dar­auf, wie ich mit Anfang 30 sein möch­te und jetzt mit Anfang 30 bin, zu tun. Mit mei­ner Erwar­tungs­hal­tung an mich selbst. Mehr kann ich im Inter­view nicht dazu sagen, weil es gera­de noch sehr stark auf einer per­sön­li­chen Ebe­ne pas­siert und ich da noch kei­nen Punkt für mich gemacht habe. Ich bin noch am Rät­seln, wohin mei­ne Rei­se geht.

(Alex­an­der Hol­len­horst und Sicko)
(Fotos: Hotel Rocco)