Er ist in Japan aufgewachsen, hat einige Zeit in El Paso verbracht und HipHop hat sein Leben zerstört. Dennoch übertreibt er nie seine Rolle und führt ein Autoren-/Rapper-/Moderatoren-Leben irgendwo zwischen Angst und Amor. Im Grunde gibt es also mehr als genug, womit man auf den Protagonisten dieses Interviews hinweisen könnte. Dennoch könnte es letztlich wohl auch ausreichen, das Gespräch einfach als "besonders" zu bezeichnen. Denn in ebendiesem Gespräch zu seinem neuen Album "Shibuya Crossing" erzählte "Spießer"-Juse Ju nämlich unter anderem, warum er sich selbst diesen Spitznamen verliehen hat, wie er Angela Merkels Muskulatur einschätzt und warum er mittlerweile anders über Vegeta aus "Dragon Ball" denkt als früher. Außerdem erklärte er uns, was es für Rap bedeutet, dass die meisten Leute noch nie gesehen haben, wie ein Auto explodiert.
MZEE.com: Für dein neues Album "Shibuya Crossing" hast du dich erstmals über einen langen Zeitraum nur auf deine Musik konzentriert und dir mehr oder weniger eine Auszeit von deinem Job genommen. Wieso hast du dich zu diesem Schritt entschieden?
Juse Ju: Es hat sich sehr viel verändert in den letzten Jahren. Bis 2014 war ich halt ein Rapper, der sehr tief im Untergrund war und lange nichts mehr rausgebracht hatte. Dann habe ich aber gemerkt, dass die Leute "Angst & Armor" und davor "Übertreib nicht deine Rolle" so krass aufgenommen haben und da einfach mies Bock drauf hatten. Also habe ich mir gedacht, dass ich einmal diese große Platte mache, die ich schon immer machen wollte. Ich hatte schon immer die Idee, ein Album zu machen, das autobiografisch die Städte meiner Jugend aufgreift. Dafür brauchte ich ein bisschen mehr Zeit und deswegen habe ich meinen Job um die Hälfte reduziert. Bei "Angst & Armor" habe ich das noch nicht gemacht, da habe ich ganz normal Vollzeit gearbeitet. Und ich arbeite auch vielleicht jetzt nach "Shibuya Crossing" wieder Vollzeit. (lacht) Musik ist halt keine so geile Karriereoption, weil man da einfach kein Geld verdient … also, da wird schon Geld verdient, aber halt von den Leuten, die wirklich im Pop oder in anderen Bereichen aktiv und hyped sind. Aber ich sage jetzt mal, mit so Lyricist-Mucke, wie ich sie mache, hat man besser noch 'nen anderen Job. (lacht)
MZEE.com: Auf der Platte kommst du hier und da aber zumindest darauf zu sprechen, dass befreundete Künstler inzwischen von ihrer Musik leben können. Wäre es für dich gar kein Ziel, dich ganz auf die Musik zu verlassen?
Juse Ju: Hm, nee. Ich bin ja mein eigenes Label und mein eigener Manager. Das heißt, ich kenne alle Zahlen und weiß daher auch, was das Album zum Beispiel gekostet hat. Und ich kann auch ungefähr absehen, was das einspielen wird. Und mit einer ganz normalen BWL-Rechnung, wie viel Umsatz man hat und wie viele Ausgaben … im Moment lebe ich ausschließlich von meinem Beruf und nicht von der Musik. Die Musik ist gerade auch nicht mein Nebenjob, das ist, glaube ich, ein Missverständnis. Das kann schon noch besser werden und das Album läuft schon sehr gut und auch viel besser, als ich dachte. Aber an dem Punkt, an dem ich sagen könnte, ich kann davon leben, bin ich bei Weitem nicht. Nicht mal nah dran. Das liegt eben auch daran, dass ich sehr hohe Produktionskosten habe. Ich investiere sehr viel Geld in Qualität für zum Beispiel Mischung, Mastering, Artwork und sowas. Damit es auch gut wird und klingt. Und unter dem Niveau will ich das gar nicht machen. Da ist es mir dann lieber, noch einen Beruf in der Hinterhand zu haben, in dem ich vergleichsweise normal und gut bezahlt werde. Weißt du, die Leute sehen die Ausgaben ja nicht. Die meisten wissen nicht mal, dass es sowas wie Mastering gibt. Und das ist auch nicht deren Problem. Ich als Hörer muss mich ja nicht dafür interessieren, wie Metallica ihr Album aufgenommen haben. Also gut, ich, als jemand, der weiß, was so ein Album für Arbeit ist: Ich kaufe halt gerne Mal 'ne Vinyl, wenn das Leute sind, die ich gut finde. Weil ich finde, dass die das einfach verdient haben.
MZEE.com: Wäre es für dich denn gar keine Option, zu einem größeren Label oder gar einem Major zu gehen, auch wenn dir dann eventuell etwas vorgeschrieben wird?
Juse Ju: Ich bin mir gar nicht sicher, ob Majors einem wirklich was vorschreiben. Ich war noch nie beim Major und weiß das daher nicht. Ich weiß aber auch nicht, inwiefern die da so einfach mal größere Brötchen backen dürfen. Rein statistisch gesehen, floppen neun von zehn Major-Artists. Also heißt Major ja noch lange nicht, dass jemand erfolgreich ist. Was meinst du, wie viele Leute ich kenne, die mal einen Major-Vertrag hatten? Ich kenne viele Musiker, die mal einen hatten und jetzt nicht wesentlich besser oder schlechter verdienen. Und es gibt sicherlich Labels, die einem reinquatschen, aber solange sie dir die Musik nicht vorsetzen … also, ich glaube schon, dass es das gibt, aber eher in anderen Branchen. Ich glaube jetzt nicht, dass die zu einem Sido gehen und sagen: "Hey Sido, wir haben hier einen Songwriter, der hat dir einen schönen Song geschrieben, rapp den doch mal". (lacht) Früher war das vielleicht mal so, aber ich denke nicht, dass das immer noch der Fall ist. Und ich sag's ja auf "Fake it till you make it": Kein Label kam je für ein Signing zu mir. Und das stimmt. Und es gibt auch einen Grund, warum ich nie zu einem Label gehen und sagen würde: "Sign mich doch mal!" Wenn du dich denen aufdrängst und die nehmen dich, dann bist du ja in einer Scheißposition. Die sagen dann: "Du wolltest ja zu uns", und dann investieren die eventuell auch nichts in dich, sondern scheißen drauf. Die Leute denken immer, die Mechanismen wären so: Bist du beim Major, bist du groß; bist du Indie, bist du mittel; biste nirgends, biste klein. Aber das ist doch Quatsch. Guck mal, Fatoni ist größer als ganz, ganz viele Rapper, die auf einem Major gesignet sind. Und Fatoni ist bei gar keinem Label gerade. Das heißt doch alles gar nichts. Die Leute wollen immer Strukturen und Regeln für irgend so 'nen komischen Markt haben. Die gibt es aber gar nicht. In Wirklichkeit ist alles Chaos. (lacht)
MZEE.com: Du warst schon immer schonungslos ehrlich, wenn es darum ging, in deiner Musik deine Gefühle und Gedanken zu beschreiben. Dieses Mal erzählst du aber auch ganz konkrete Geschichten von dir. War das die Idee hinter dem Album, dem Hörer auch mal direkte Eindrücke aus deinem Leben zu vermitteln?
Juse Ju: Dieses Geschichtenerzählen liegt mir einfach. Ich war ja früher auch lange Zeit Drehbuchautor. Und ich liebe einfach gute Geschichten. Ich finde außerdem, dafür, dass ich noch nicht so alt bin – ich bin jetzt 35 –, habe ich vergleichsweise viel in meiner Jugend erlebt. Hätte ich meine ganze Jugend über in Kirchheim gelebt, hätte man das vielleicht in einem Song abfrühstücken können. Aber in meinem Fall ist es halt so, dass da Orte wie Japan und El Paso und einfach diese vielen Eindrücke waren, die doch sehr unterschiedlich sind. Das wollte ich immer mal in so ein Album packen und das habe ich jetzt endlich mal gemacht. Ich find's cool, dass du findest, dass ich schon immer einen emotionalen Zugang hatte. Ich glaube, viele Leute haben mich immer so als den zynisch-ironischen Punchlinetypen gesehen. Aber ich hab' auf den Alben schon immer sehr persönlich und von meinen Gefühlen erzählt. Ich glaube, das geht auch nicht anders. Ich bin kein Gangster. Das heißt, ich kann keine Sachen erzählen, die per se Aufreger sind. Ich kann keinen Actionfilm drehen. Klar, wenn ein Actionfilm im Fernsehen läuft, explodiert da ein Auto und da guckt man erst mal hin. Aber erzähl mal 'nen Arthaus-Film, 'ne normale Geschichte von 'ner normalen Familie – von Leuten wie dir und mir – so, dass sie spannend und emotional wird. Das geht. Die Leute denken immer, das ist der Inhalt. Aber die Form bestimmt, was du machst. Guck dir Casper an: Der ist halt irgendwie in Amerika gewesen, aber die meiste Zeit hat er ja im Hinterland gelebt – wie er das selber sagt. Aber genau das sind die interessanten Emotionen. Die Emotionen, die wir alle haben. Nicht das explodierende Auto. 99,99 Prozent der Leute sehen in ihrem Leben nie ein Auto explodieren. (lacht) Das passiert nur im Film. Ich habe auch das Gefühl, dass das ein bisschen 'ne Altersfrage ist. Die ganzen Teenager kannst du jagen mit so 'ner Platte. Die hören sich kein autobiografisches Album an. Klar gibt es immer wieder Leute, die das machen, aber die meisten Teenager wollen Action. Die sind halt so ein bisschen ADHS-Style drauf und wollen, dass die ganze Zeit was passiert, dass sich Leute streiten, auf die Fresse hauen und schießen – und ich kann das bis zu 'nem gewissen Grad auch verstehen. Als ich 15 war, wollte ich auch lieber die Actionserie gucken und das ist vollkommen in Ordnung. Wobei ich mit 15 halt auch sowas wie Eins Zwo gehört habe. Das war ja eher so wie ich selbst. Es gibt sicherlich auch Teenager, die genau das wollen, aber ich kann dennoch verstehen, dass ein Großteil einfach auf die Kacke hauen will und sich nicht groß für die Lebensgeschichte eines Mittdreißigers interessiert. Aber ich glaube, dass das für jeden mal interessant wird, sobald man erwachsen wird, nicht mehr zu Hause lebt und sich mit der Welt und dem eigenen Leben beschäftigt und dann auch mal auf das eigene Leben zurückblickt – also alles, was Teenager eben nicht machen. Dann kann man auch einen Zugang finden. Ich persönlich finde das wahnsinnig interessant, wenn Künstler so einen Einblick in ihr Leben, ihre Geschichte und ihre Gefühle geben und das in gute Worte packen können.
MZEE.com: Dann lass uns doch mal auf dein Leben und auf deine Zeit in Japan zurückblicken: Welche ist denn deine schönste Kindheitserinnerung an das Land?
Juse Ju: Ich glaube, so der erste Sommer in Tokio, das war schon krass. Da hörst du immer diese Zikaden, Semi heißen die. Die sind auch am Anfang vom Song "Shibuya Crossing" zu hören. Und diese andere Luft, dieser asiatische Sommer und diese ganzen neuen, krassen Eindrücke. Ich weiß, dass mich das auch massiv geprägt hat und ich mich in diesem ersten Sommer sofort in Japan verliebt habe.
MZEE.com: Also warst du auch direkt von der japanischen Kultur eingenommen?
Juse Ju: Na ja, ich meine, Japan war schon ein bisschen geiler als Deutschland in den 80ern. Also so anime- und mangamäßig waren wir einfach weit voraus. Und auch was Süßigkeiten und Snacks angeht, was ja für Kinder sehr wichtig ist. (lacht) Eines ist in Japan total krass: Diese engen Straßen in den Wohngegenden sind halt supersicher. Das hat zur Folge gehabt, dass meine Mutter gesagt hat: "Eigentlich kannst du spielen, wo du willst." Die Menschen tun dir nichts zuleide und die Straßen sind so eng, dass da keine Autos so schnell fahren könnten, dass die Fahrer die Kinder übersehen. Du kannst halt nicht durch diese Straßen heizen. Die sind so breit wie das Auto selber, da fährst du dir höchstens irgendwann in der Kurve den Spiegel ab. Diese Freiheit, die ich da als Kind hatte, war schon krass.
MZEE.com: Du hast grade Manga und Anime angesprochen. Mir sind da auf der Platte auch zwei oder drei "Dragon Ball"-Anspielungen aufgefallen. Interessierst du dich nach wie vor für Anime und Manga oder zumindest für "Dragon Ball" speziell?
Juse Ju: Viele Leute wissen ja nicht, dass "Dragon Ball" erst viel später in Deutschland angekommen ist. Das waren zehn oder noch mehr Jahre Verspätung. Und als ich 1988 in Japan angekommen bin, da lief "Dragon Ball" schon. Noch nicht "Dragon Ball Z", aber die normale Serie. Und das war natürlich sofort meine Lieblingsserie. Ich hab' das am Anfang natürlich gar nicht verstanden, weil ich kein Japanisch konnte, aber die Serie erklärt sich irgendwie auch ein bisschen von selbst. Ich hab' das sofort geguckt, die Karten gesammelt und T-Shirts davon haben wollen – aber nie bekommen. "Dragon Ball" war so meine allererste Lieblings-Animationsserie. Und ich hab' tatsächlich auf der letzten Fatoni-Tour, wo man viel durch das Land fährt und einfach sehr viel im Tourbus sitzt, einfach noch mal alle 42 Bände von "Dragon Ball" gelesen. Das könnte durchaus Einfluss auf den Albumschreibprozess gehabt haben. (lacht)
MZEE.com: Die sollte man aber auch immer mal wieder lesen. Welcher ist dein Lieblingscharakter aus der Serie?
Juse Ju: Ich mag Yamchu – der übrigens auf Japanisch Yamucha ausgesprochen wird –, weil er ein normaler Mensch ist, der einfach diese Wolfstechnik hat und nicht so gottgleich irgendwelche komischen Abstammungen braucht. Die anderen müssen Sayajin oder Namekuseijin sein, aber er ist einfach ein normaler Mensch, der krasse Moves drauf hat. Vor allem ist er auch ein Mensch mit Schwächen und Gefühlen. Und ich weiß, dass er im Internet gemobbt wird. (lacht) Es gibt da so ein ganzes Arsenal an "Warum Yamacha der größte Loser ist, den's gibt"-Sprüchen. Aber ich mag Yamchu und Krillin, der im Original auf Japanisch übrigens Kuririn heißt. Die sind cool. Die spielen zwar in den späteren "Dragon Ball Z"-Episoden keine so große Rolle mehr, aber das sind eigentlich geile, lockere, normale Homietypen. Die könnten auch einfach so meine Freunde sein, weißt du? (lacht) Mit Trunks würde ich doch nicht rumhängen. Der ist ein komischer Schleimer mit einer Nick Carter-Frisur.
MZEE.com: Er hat tatsächlich die schlimmste Frisur der Serie.
Juse Ju: Und warum hat er überhaupt ein Schwert, wenn er ein Supersayajin ist? Das ist doch auch irgendwie Quatsch. Goku ist schon auch ein sympathischer Typ, aber der ist mir einfach zu einfältig. Und Gohan ist halt so ein Streber, den mag ich nicht. Also der ist schon in Ordnung, aber … Vegeta zum Beispiel: Den habe ich mir für die eine Zeile auch ausgesucht, denn Vegeta mag man als Kind halt, weil er so cool ist. Aber er ist eigentlich auch relativ einfallslos und hat eine absolute Profilneurose. Weil er immer der King sein muss, es aber eigentlich nie schafft, weil er faktisch nie Kakarott besiegt. Man muss halt auch sagen, dass Vegeta einfach ein krasser Sadist ist. Ich meine, allein wie viele Planeten er ausgerottet hat. Er ist für mich auf jeden Fall ein grenzwertiger Charakter.
MZEE.com: Dafür steht er dann ja unter Bulmas Fuchtel, das gleicht das vielleicht irgendwie aus.
Juse Ju: Ja, da glaube ich aber irgendwie auch nicht, dass ihm da niemals die Hand ausrutscht und er sie mit so einem Riesenblast ins Jenseits pustet. Aber das ist eben so krass. Irgendwann wird einfach übergangen, dass er eigentlich so ein Killer ist. Manchmal wird drüber geredet, weil er ja zum Beispiel so ein Namekuseijin-Dorf ausgelöscht hat. Als sie sich dann alle wieder ins Leben wünschen, die Freezer getötet hat, fällt auf, dass dieses Dorf fehlt, weil Vegeta sie alle getötet hat und eben nicht Freezer.
MZEE.com: Ich werde jetzt mal ganz dreist wieder auf deine Platte zu sprechen kommen, sonst fragt Lupa mich später, wenn sie das liest, ob ich eigentlich bescheuert bin.
Juse Ju: Wir können auch ein reines Interview über "Dragon Ball" führen. Mit allem, was darin vorkommt.
MZEE.com: Ja, ich hätte damit kein Problem. (lacht) Aber lass uns dennoch noch mal auf "Shibuya Crossing" zurückkommen. Was macht diesen riesigen Platz in Shibuya für dich aus, sodass du dich dazu entschieden hast, das Album danach zu benennen?
Juse Ju: Ich habe halt ein Bild gesucht, das zeigt, wie meine Jugend war. Mit dem Kommen und dem Gehen und vielen Leuten, die an dir vorbeiziehen, das fand ich auf jeden Fall sehr passend. Ich wollte auch unbedingt einen Platz in Japan wählen, um das Album danach zu benennen. Als ich ein Kind war, war es immer so: Mein Bruder war der Teenager und ich das Kind. Ich war in Japan von sechs bis elf und mein Bruder von 12 bis 17. Also, so richtig diese Teenie-Zeit. Und da wollte mein Bruder immer nach Shibuya. Shibuya war cool, weißt du? Da gab's die coolen Klamotten und die Skateboards, die Läden mit den CDs und eben alles, was Teenager cool finden. Und deshalb hat sich das in meiner Kindheit für mich so entwickelt, dass ich dachte, Shibuya sei der krasseste, geilste Ort. Heute sehe ich das natürlich ein bisschen differenzierter. Ich hab' als Erwachsener auch noch mal in Shibuya gearbeitet, ein halbes Jahr als Servicekraft in einem Café. Nur auf Japanisch. Nur mit Japanern zusammen. Und das ist halt so ein Szeneviertel. So wie … vielleicht wie Kreuzberg. Aber Kreuzberg ist halt dreckig, Shibuya nicht. Darum würde ich heute auch sagen, dass es da bessere Viertel gibt. Das Video zu "Shibuya Crossing" beginnt zum Beispiel auch in Shimokitazawa, was zwar ein Teil von Shibuya ist, aber eben schon fast wieder ein ganz anderer Ort.
MZEE.com: Du meintest gerade, dass im Vergleich zu Kreuzberg Shibuya sehr sauber sei. Mich hat kürzlich auch eine Kollegin darauf hingewiesen, dass Japaner ein ganz eigenes Konzept der Müllentsorgung haben und ihren Müll mit nach Hause nehmen. Wird dort wirklich so penibel darauf geachtet?
Juse Ju: Na ja, das Ding ist: Japaner geben einfach weniger keinen Fick. Die schmeißen ihren Müll halt nicht auf die Straße und es gibt einfach keine Mülleimer. Du hast also nur die Möglichkeit, ihn selbst mitzunehmen. Und es funktioniert. Das Konzept mit der Mülleigenverantwortung wird ja auch in Deutschland immer mehr umgesetzt. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass in den S-Bahnen keine Mülleimer mehr sind. Es kostet einfach viel Geld und Personal, die sauber zu machen. Und wenn es keine Mülleimer gibt, dann nehmen die Leute ihren Scheiß halt selber mit. (lacht) Und das ist in Japan genauso – nur halt überall. Insgesamt habe ich in Japan einfach das Gefühl, dass die Gesellschaft weniger egoistisch ist. Da gibt es einfach nicht dieses "Ich parke jetzt über drei Behindertenparkplätze und feiere mich dafür noch". Diese Art von Mentalität ist in Japan nicht so hoch angesehen. Weißt du, in Deutschland würde man so sagen: "Ja, du geiler Typ! Hast sie wieder alle gefickt und den Schwachen ins Gesicht getreten! Geil! Du bist geil!" Das würde man in Japan nicht sagen.
MZEE.com: Würdest du dir das für Deutschland wünschen? Dass man sich diese Verhaltensweise vielleicht ein wenig mehr aneignet und weniger "keinen Fick gibt"?
Juse Ju: Ich glaube, dass dieses "auf nichts einen Fick geben", das sich hierzulande immer mehr einbürgert, eben auch Folgen hat. Dass Zwischenmenschliches nicht mehr so funktioniert und dass man den Leuten einfach nicht mehr vertrauen kann. Die Gesellschaft funktioniert ja nicht nach Gesetzen, also indem du Leuten sagst, was man nicht darf. Eine Gesellschaft funktioniert so, wie eine Gesellschaft funktioniert. Es gibt da Sachen, die einfach Konsens sind. Einige Sachen, wie, dass man sich in einer Schlange anstellt, sind mir ja sogar egal, da scheiß' ich drauf. Es geht mir zum Beispiel eher um Geschäftsbeziehungen. Wenn ich einen Handwerker bitte, meine Küche zu reparieren, will ich nicht denken müssen: "Dem muss ich jetzt krass auf die Hände gucken und alles später noch mal kontrollieren, damit der mir nicht irgendeinen Billigscheiß einbaut. Damit der nicht irgendwie versucht, mich die ganze Zeit übers Ohr zu hauen." Am Ende fickt das halt jeden und vor allem fickt es deinen Kopf, wenn du niemandem mehr vertrauen kannst. Gerade in der Musikbranche kannst du niemandem vertrauen. Die Leute bauen Scheiße und es ist ihnen halt egal. Und ich hab' das Gefühl, dass die Leute in Japan das einfach ernster nehmen. Das klingt jetzt vielleicht wie so ein ganz, ganz furchtbarer Appell für Arbeitsmoral – aber das meine ich gar nicht. Sondern einfach, dass man mag, was man tut, und so ganz altmodische Sachen, wie dass man Leute, die einen bezahlen, nicht übers Ohr haut. Wenn ich in Japan jemanden engagiere und dem Geld gebe, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass das einwandfrei läuft, und muss mir keinen Kopf mehr machen. In Deutschland sehe ich das einfach gar nicht. Da wird jeder irgendwie versuchen, einen Vorteil aus der Sache zu ziehen. Die HipHop-Szene feiert das ja total, aber die Leute verstehen nicht, dass die auch alle kopfgefickt sind. Oder? Wenn du nur Misstrauen und eine "Wer den Nächsten fickt, ist der Geilste"-Mentalität an den Tag legst, ist das einfach anstrengend. In Japan habe ich das Gefühl, wenn die was machen, dann machen sie's richtig. Einfach aus Prinzip.
MZEE.com: Klar, da geht es dann eben auch darum, dass jemand das für sich selbst richtig macht und nicht nur für den jeweiligen Arbeitgeber.
Juse Ju: Das schwingt aber natürlich auch öfter mal ins Gegenteil um. Der Leistungsdruck in Japan ist enorm. Da kann man eben gar nicht locker mit Sachen umgehen. So wird das natürlich zu einem negativen Aspekt, wenn man's übertreibt. Dennoch ist es generell eher positiv, wenn du weißt, dass sich die Leute anstrengen, mit denen du zu tun hast. Weil jeder von uns tagtäglich mit Leuten zu tun hat und wenn die grundsätzlich einen Fick geben, dann ist das Scheiße. Weißt du, gestern zum Beispiel bin ich Taxi gefahren. Da hab' ich ein Taxi gerufen und das kam einfach nicht. Ich musste sehr dringend zu einem Termin, wo ich live in einer Sendung sein musste – und das Taxi kam nicht. Dann hab' ich irgendwann nach zehn Minuten gesagt, ich kann jetzt nicht mehr warten, hab' ein anderes Taxi angehalten und bei der Zentrale angerufen: "Hey, ich hab' mir ein Taxi gerufen, bin jetzt aber in ein anderes gestiegen, weil es nicht kam. Ihr könnt das stornieren." Und dann hat die Frau am Telefon mich angeschnauzt! Die hat so gesagt: "Ja, das ist seit fünf Minuten da!" Wo ich mir dachte: "Sag mal, geht's noch? Ich hab' gesagt, wo ich stehe, da ist der Taxifahrer nicht hingekommen. Sei doch froh, dass ich sogar noch absage." Das würde dir halt in Japan nicht passieren. Da käme die Taxizentrale nicht darauf, dich anzuschnauzen. Und jetzt kann man sagen: "Mimimimi, armer Juse" und ich bin ein bisschen wie andere Rapper, die sich über die Post ärgern oder so. Aber ich verstehe das schon auch. Man kann in Deutschland irgendwie immer dem die Schuld geben, der eigentlich was bekommen sollte und dafür bezahlt hat. Und das ist auch scheiße. Das muss ja nicht sein. (lacht) Spießer-Juse ist am Start. "Spießer-Juse", schreib das auf jeden Fall, bitte!
MZEE.com: Klar, wird genauso in der Headline stehen. Aber nochmal zurück zur Rapszene: Den Track "7Eleven" eröffnest du mit den Worten "Scheiß auf Sexismus – ich hass' alle Menschen gleich" und zitierst damit eine alte Line von dir selbst, die mit "Scheiß auf Rassismus" begann. Warum, glaubst du, sind beide Thematiken nach wie vor so stark in der Rapszene verankert?
Juse Ju: Das ist einfach komplett in dieser Rapszene verankert. Rein faktisch. Ich könnte dir jetzt 20 Songs und Typen nennen, die sowohl Rassismus als auch Sexismus leben. Gut, Rassismus vielleicht tatsächlich ein bisschen weniger, aber für mich ist in dem Fall auch Antisemitismus Rassismus und den gibt es natürlich auch in der Rapszene. Und über Sexismus brauchen wir gar nicht zu reden. Wollen wir ernsthaft darüber reden, ob es Sexismus in der HipHop-Szene gibt? Es gibt ja auch Sexismus in der Gesellschaft, aber in der HipHop-Szene ist Sexismus ja der Normalzustand.
MZEE.com: Es ging auch weniger um das "Ob", als darum "warum" der Sexismus nach wie vor so einen gewaltigen Teil der Szene prägt und Teile der Szene gar nicht erst versuchen, sich davon aktiv loszulösen.
Juse Ju: Rap hat ein Sexismusproblem, weil Rap halt so Lockerroom-Talk ist, weißt du? Ich sag' jetzt mal: Wenn man über Sex rappt, ist das ja nicht gleich Sexismus. Man kann ja auch über Sexualität reden und das ist nicht per se sexistisch. Aber diese alten Bilder sind halt im Rap noch sehr präsent. Ich glaube, das liegt daran, dass Rap noch komplett von Männern geprägt ist. Auch die Battlerapszene. Wie viele Battlerapperinnen kennst du? Breeze kenne ich. Und Pilz hat mal gebattlet. Aber sonst ist das einfach eine komplett männlich geprägte Szene. Und in einer solchen haut halt manchmal einer auf die Frauen drauf. Das geht dann oft auch weit über das Ziel hinaus und ist total bescheuert. Es ist auch immer dieselbe Art von Sexismus, muss man dazu sagen. "Frau" ist "schwach" und deshalb schlecht. Im Battlerap ist das natürlich nochmal was anderes, weil Schwäche im Battle wie Schwäche im Leistungssport ist. Und damit faktisch was Schlechtes. Wobei ich Frauen natürlich nicht allgemein als schwach ansehen würde, das ist auch nur so eine archaische Mittelalteransicht. Auch, dass diese körperliche Muskelstärke das Entscheidende ist. Über die habe ich viel nachgedacht. Und ich hab' so überlegt, wer die mächtigen Menschen in unserer Gesellschaft sind. Also Leute, die Vorstandsmitglieder bei irgendwelchen DAX-Unternehmen sind, Politiker, Leute, die großen Vereinen oder Organisationen vorstehen, oder Schauspieler. Alles Leute, die man so als einflussreich und groß wahrnimmt. Und mir ist aufgefallen, dass es, außer bei Rappern, nicht einen einzigen gibt, der große Muskeln hat. (lacht) Es gibt keine Branche, in der große Muskeln von Vorteil sind, weder in der Politik noch in der Wirtschaft. Große Muskeln sind nur in einer einzigen Branche von Vorteil und das ist deutscher Rap. Ansonsten sind Muskeln nur in Branchen wichtig, die wenig Macht haben: Möbelpacker, Fitnesstrainer. Und das sind ja Menschen mit ganz normalem Beruf. Ich meine das nicht irgendwie sozialverarschend oder so. Ich kenne Leute, die Fitnesstrainer sind, und da ist das wichtig. Im Rap werden Muskeln und Macht immer noch gleichgesetzt, obwohl das in der Gesellschaft überhaupt nicht so ist. Eher im Gegenteil. Solange man jetzt nicht denkt, die Politik ist irgendwie komplett unterwandert – so komplette Echsenmenschen-Fantasien –, dann ist die mächtigste Person bei uns in der Politik Angela Merkel. Und die ist muskeltechnisch ja jetzt kein Lauch, aber auf jeden Fall ein Schwabbel.
MZEE.com: Vielleicht arbeitet sie ja jetzt daran, nachdem sie wieder im Amt ist. Aber du hast auf jeden Fall recht, dass die Rapszene sich immer noch sehr auf diesen körperbetonten Aspekt fokussiert.
Juse Ju: Das ist halt so 'ne Schulhof-Logik. Auf dem Schulhof bringen dir Muskeln vielleicht noch was. Aber viele Leute, die diese Musik hören, sind eben auch noch jünger und wissen nicht, dass das so ab Mitte 20 keinen mehr interessiert. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, fänden es eher affig, wenn ich mit Muskeln ankommen würde. Aber ich finde das ja auch nicht schlecht. Ich liebe Sport. Ich hätte auch gern ein paar mehr Muskeln, aber auch eher, um mich gut zu fühlen und mich gut bewegen zu können, weißt du? Wie sind wir da noch mal drauf gekommen? Ach ja, wegen des archaischen Männlichkeitsbilds in der Rapszene. Na ja, Rap funktioniert halt wie Wrestling. Und Rap und Wrestling darf man, gerade wenn es eher von Teenagern konsumiert wird, einfach auch nicht überbewerten in seiner Boshaftigkeit. Damit will ich Sexismus und Rassismus in unserer Gesellschaft nicht schmälern, aber nicht jeder Scheiß, der von irgendwelchen Jungs aus sexueller Frustration gefeiert wird, hat auch direkt mit der Erwachsenenwelt zu tun.
MZEE.com: Wie ist das denn mit Teenagern, die "Shibuya Crossing" feiern, oder generell mit Leuten, die bisher nur dein neues Album gehört haben und mehr von Juse Ju wollen? Würdest du denen empfehlen, auch die alten Sachen zu hören, oder wäre es dir lieber, wenn sie auf neues Zeug warten?
Juse Ju: Nö, die sollen gerne die alten Sachen hören. Man muss da fairerweise aber auch sagen, die ganz alten Sachen können die gar nicht hören. Das älteste, was man von mir bekommt, ist, glaube ich, "Yo, HipHop hat mein Leben zerstört". Aber das muss man sich schon im Internet auf CD kaufen. Mein erstes Soloalbum verkaufe ich sogar immer noch auf Gigs. Und "Übertreib nicht deine Rolle" und "Angst & Armor" sind ja noch aktuell. Du musst mal überlegen, "Übertreib nicht deine Rolle" kam vor vier, "Angst & Armor" vor zwei Jahren und jetzt das. Ich droppe alle zwei Jahre ein Album und daher ist das für mich alles noch relativ aktuell. Das kann man gerne alles hören und muss nicht erst auf Neues warten. Das ist auch Quatsch. Ich bin nicht Money Boy, ich droppe nicht jede Woche ein Mixtape. Das kann ich nicht leisten. Irgendwann haben ja alle so die Entdeckung ihres Lebens gehabt: Heureka! Man darf für einen Song nicht länger als 'ne Stunde brauchen, sonst ist er scheiße. Und plötzlich waren alle so: "Boah, das ist die neue Bibel! So muss man Songs schreiben", wo ich mir denke: "Ja, für ein paar wenige Künstler funktioniert das, aber bei ganz vielen Leuten kommt dann einfach nur noch Schmutz raus und ganz, ganz viele Leute werden dann einfach nur beliebig." Wenn du alle drei Monate ein Mixtape raushaust, hört dich doch keiner mehr. Ich geb' mir lieber Mühe. In jeden einzelnen Song stecke ich so viel Arbeit wie manch anderer in ein Mixtape. Und dann ist das am Ende vielleicht doch interessanter und durchdachter und hat eben doch mehr Ideen. Ich hab' mal gehört, dass einer meinte, dass es doch egal wäre, ob er ein Album in einem oder in drei Monaten macht. Da denke ich mir: "Nee, das ist doch so, als würde ich sagen, ich habe in einem Monat genauso viele Ideen wie in drei Monaten oder in einem Jahr".
MZEE.com: Heißt das dann, dass das nächste Juse-Album auch wieder in genau zwei Jahren erscheinen wird?
Juse Ju: Ich plane das nicht so, so darfst du dir das nicht vorstellen. Ich schreibe Songs und habe auch jetzt schon Ideen, aber ich kann dir jetzt auch nicht sagen, was ich machen will. Mein Album ist seit ein paar Tagen draußen und ich bin auch ganz froh, dass es jetzt da ist, aber rechnet bitte nicht damit, dass von mir jetzt alle halbe Jahre ein neues Album kommt, das wird nicht passieren. Ich glaube auch, dass niemand das wirklich will. Denn wenn du in einem halben Jahr das Album schon langweilig findest, dann habe ich auch was falsch gemacht. Und klar, man hört jetzt auch nicht ein Album ein halbes Jahr lang durch, aber guck mal, wie alt ist das Trettmann-Album? Das kam irgendwann Ende letzten Jahres und ich kann das immer noch ab und an hören. Vielleicht nicht mehr so intensiv wie am Anfang, aber das ist doch immer noch gut. Ich kann mir das immer noch geben. Es kann immer noch in die Playlist … Das ist mein Ziel! Dahinzukommen, dass man das auch in zwei, drei Monaten über mich sagt, weil man immer wieder neue Songs vom Album findet, die einen inspirieren. Die Singles sind irgendwann durch, aber dann findet man einen neuen Albumsong. So waren Alben für mich früher. "Gefährliches Halbwissen" von Eins Zwo oder "Jetzt schämst du dich" von Huss & Hodn oder das erste M.O.R.-Album. Da findet man dann auch immer wieder neue Favoriten. So muss ein Album für mich sein. Das muss durchdacht und gut sein und das muss man mehr als einmal hören wollen. Diese Mixtape-Kacke, die andere da abliefern, hörst du doch nur einmal durch. Das ist dann aber doch die Arbeit nicht wert. Perlen vor die Säue.
MZEE.com: Dann doch lieber etwas, das länger gebraucht hat, dadurch aber auch einen gewissen Wert erlangt hat.
Juse Ju: Nimm doch zum Beispiel mal die beiden Klassiker-Casper-Alben "XOXO" und "Hinterland" – ich kann mir die immer noch anhören und finde da auch was Neues drauf. Weil man auch merkt, dass er versucht hat, in jede Zeile was reinzustecken. Aber wenn deine Zeilen immer nur "Baby, crazy" sind, dann ist man halt auch schneller wieder weg. Aber hey, ich sag' ja gar nix! Sollen alle Leute denken, ein Mixtape in einer Woche aufzunehmen ist der absolute Shit und dabei kommt dann ganz, ganz, ganz, ganz, ganz große Kunst bei rum! Weißt du? Dann ist das so. Geil! Mach doch nur das! Ihr seid dann doch von Gott gesegnet und müsst nur eine Woche arbeiten und habt ein Album fertig. Ich muss anderthalb Jahre dafür arbeiten. Mensch, seid ihr schlau und schnell. Das ist doch geil für die. Ich muss mir den Arsch aufreißen und die schießen das einfach locker aus der Hüfte.
MZEE.com: Ich finde, das ist ein sehr schönes Schlusswort. Oder möchtest du dem noch etwas hinzufügen?
Juse Ju: Ich möchte noch hinzufügen: Hört euch einfach mal "Shibuya Crossing" an. Und wenn's euch nicht gefällt, schreibt mir einfach eine Hassmail oder Drohung.
(Daniel Fersch)
(Fotos von OH MY)