An dieser Stelle möchten wir Gedanken zu aktuellen Geschehnissen aus dem Deutschrap-Kosmos zum Ausdruck bringen, die woanders keinen Platz finden. Dabei kommt nicht nur die MZEE.com Redaktion zu Wort, sondern auch andere Szene-affine Persönlichkeiten wie Rapper, Veranstalter oder Produzenten. Wer sich also mitteilen möchte, soll hier auch die Möglichkeit haben, dies zu tun. Die jeweils dargestellte Meinung entspricht jedoch nicht zwangsläufig der unserer Redaktion – wir sehen aber ebenfalls nicht die Notwendigkeit, diesen Stimmen ihren Raum zu nehmen.
Im folgenden Text beschäftigen sich unsere Redakteure Daniel und Lukas mit der Verantwortung von HipHop-Medien am Beispiel des Shapira-Fler-Eklats.
"#unhatewomen: Es ist Zeit, etwas zu ändern." – So lautet der Titel des Videos, welches der Verein für die Menschenrechte für Frauen, Terre des Femmes, im Februar dieses Jahres auf seinem YouTube-Channel veröffentlichte. Im Video lesen Frauen Zitate vor. Zitate aus Raptexten, die Frauen denunzieren, beleidigen und herabwürdigen. Dabei wird immer auch eingeblendet, von welchem Künstler die jeweiligen Zeilen stammen. Es sind Namen wie Finch Asozial, Farid Bang, Kollegah, Bonez MC und auch Fler. Letzterer wird zitiert mit: "Will keine Frauen, ich will Hoes. Sie müssen blasen wie Pros."
Dass es sich bei dieser Zeile noch um eine der "harmlosesten" im Video handelt, wirkt keinesfalls beruhigend. Denn nachdem eine junge Frau Fler auf Instagram auf die Kampagne aufmerksam macht, indem sie alle im Video stattfindenden Rapper verlinkt, reagiert Fler mit der Androhung von körperlicher Gewalt. Er redet davon, "selbst zum Täter zu werden" und setzt letztlich sogar Kopfgeld auf eine weitere, in die Diskussion involvierte Frau aus. Die zuerst genannte Frau macht Screenshots der entsprechenden Nachrichten und leitet diese an Shahak Shapira weiter. Woraufhin der Comedian und Autor seine mediale Reichweite nutzt, um auf die Geschehnisse aufmerksam zu machen, und dabei auf ein Problem stößt: deutsche HipHop-Medien.
Das Problem besteht vor allem darin, ob und wie HipHop-Medien in Deutschland mit Kritik umgehen – ganz besonders, wenn diese Kritik von außen kommt. Dieses Phänomen wird immer und immer deutlicher. Besonders in den letzten Jahren, in denen sich die Szene stetig derartige Ereignisse und Vorfälle geleistet hat. Es ist aber keinesfalls neu.
Angefangen, Rap zu hören, habe ich mit etwa 13 Jahren, als mir ein Klassenkamerad das damals neu veröffentlichte Album "Maske" von Sido auslieh. Ohne davor einen wirklichen Bezug zu HipHop gehabt zu haben, nahm mich dieser Sound recht schnell für sich ein. Auch die Musik beziehungsweise Künstler aus Sidos Umfeld empfing ich mit offenen Ohren, besonders B-Tight und Fler.
Der Umgang mit Sprache, Reimen, Bildern und Vergleichen, vor allem aber auch die Inszenierung der einzelnen Künstler war für mich unheimlich faszinierend. Genauso verstand ich das Ganze auch: als Inszenierung. Wenn Sido über das Leben als Straßenjunge, B-Tight über den Konsum von Gras oder Fler über seine Liebäugelei mit überzogenem Patriotismus rappte, nahm ich das nie für voll. Zwar missfielen mir Texte mit rassistischen, homophoben oder sexistischen Inhalten, doch für gewöhnlich reagierte ich darauf mit Ignoranz. Ich blendete diese Zeilen aus, weil ich sie für einen schlichten Bestandteil einer Rolle hielt. Es war eben ein überspitztes Image und die Typen dahinter vermutlich ganz anders oder zumindest deutlich weniger extrem.
Damals hätte ich wohl die gleiche "Schauspieler"-Argumentation vorgebracht, wie sie bis heute immer gern von Künstlern und Fans geäußert wird, die man mit extremen Texten und Inhalten konfrontiert. Schließlich sei das alles nur Show, ein Image. Dafür dürfe man niemanden belangen. Ein Bryan Cranston etwa würde ja auch nicht in den Knast wandern, weil er als Walther White Meth kocht.
Die Einstellung, Kunstfigur und Privatperson müssten stets klar getrennt werden, unterstützten damals auch die entsprechenden Medien. Schließlich wurde in der JUICE nicht davon geschrieben, dass Rapper XY eine Frau geschlagen hatte oder zu Hause auf seiner Couch Heroin konsumierte. Die Texte drehten sich in erster Linie um die Musik. Und wenn in einem Interview mal eine gesellschaftskritische Frage gestellt wurde, wurden die Antworten vor der Veröffentlichung nochmals von Künstler oder Management auf Unverfänglichkeit geprüft. Auch sonstige Berichte klangen eher harmlos. Hefte wie die BRAVO oder ihr HipHop-Ableger berichteten höchstens darüber, wie teuer Flers Ketten und Autos waren. Oder auch, wie "crazy" doch ein Sido wäre, wenn er seine Goldplatte auf dem Klo aufhängen würde.
Wenn von Bild und Co. doch mal negativ berichtet wurde, dann mit der nötigen Portion Sensationsgier. Dabei schwang immer mit, dass man natürlich missbilligen würde, was diese "Rüpelrapper" da sagten und taten. Aber dennoch freute man sich ein heimliches Loch in den Bauch, darüber berichten zu können. Im Falle solcher "außenstehender" Medien war man sowieso der Meinung, die hätten gar keine Ahnung von der Szene und würden ihre Artikel ungerechtfertigt aufbauschen. Am Ende des Tages handelte es sich dabei auch nie um einen Blick hinter die Fassade. Es war einfach nur ein zusätzlicher Beitrag zur Inszenierung eines Images – also weiterhin nichts, was Anlass gäbe, diese Rapper zu hinterfragen.
Irgendwann wird man dann aber älter und nicht nur der Geschmack verändert sich, sondern auch die eigene Einstellung. Moral, Werte, die Dinge, die eine Persönlichkeit eben ausmachen, festigen sich und wirken sich darauf aus, was man an Unterhaltungsmedien konsumiert. Auch wenn ich so manche Platte von Aggro Berlin heute noch im Regal stehen habe – die Lust auf inszenierten Straßen- und Gangsterrap ist mir längst vergangen. Heute sehe ich die Texte von damals in einem anderen Licht. Ich bemerke auch die Auswirkungen, die solche Inhalte haben können. Auswirkungen, unter denen ich selbst nie hatte leiden müssen, die aber sicherlich vielen anderen schadeten. Schwächeren. Unterdrückten. Minderheiten. Und ganz speziell eben Frauen.
Selbst wenn es insofern gar nicht mehr relevant wäre, ob diese Texte deckungsgleich mit dem tatsächlichen Mindset des Interpreten sind, haben uns die letzten Jahre unter anderem mit Social Media die Möglichkeit gegeben, einen direkten Vergleich anstellen zu können. Statements, Videos, Instagram Stories – inzwischen können wir ungefiltert am Leben von Rappern teilhaben, ohne auf HipHop-Medien zurückgreifen zu müssen, deren Texte zuvor vom Management abgenickt wurden. Und hier wird uns immer und immer wieder bewusst, wie nah die Texte vieler Künstler doch an der Realität sind. Nicht hinsichtlich der Selbstinszenierung, sondern ihrer Moral, Vernunft und dem mangelnden Sinn für Gleichberechtigung. Dazu kommt, dass Rap, je weiter er in die Gesellschaft vorgedrungen ist, auch umso eingehender von den Medien mit Berichten bedacht wird. Wenn Künstler heute Leichen im Keller haben, kriegt man das in den meisten Fällen auch mit – egal, ob sie diese für ihre Inszenierung nutzen möchten oder nicht.
Doch gerade von diesen Leichen gibt es reichlich. Oftmals von der Sorte, bei der man nicht mehr von Image, Kunstfigur oder dergleichen reden kann – und insbesondere Medien dies nicht mehr dürften. Etwa, weil bestimmten Straßenbanden Sexualdelikte vorgeworfen werden oder sie in ihren Postings ganz offenherzig harte Drogen konsumieren. Gerade auch, weil die Szene in solchen Fällen immer fordert, dass außenstehende Medien sich heraushalten sollten, schließlich könne man sowas nur szeneintern verstehen und thematisieren. Nur leider macht es viel zu oft den Anschein, als sei der Wunsch nach Klärung gar nicht gegeben. Man will sich einfach nicht reinquatschen lassen, wenn man über Grenzüberschreitungen hinwegsieht, statt sie aufzudecken, über sie zu informieren und sie zu kritisieren.
Dabei wäre genau hier die Verantwortung der Magazine zu finden. In der eigenen Szene aufzuräumen und anzusprechen, was nicht zu akzeptieren ist. Anzusprechen, was sich nicht mit Kunstfreiheit, Image und anderen halbgaren Argumenten rechtfertigen lässt. Und diese Künstler letztlich von der Berichterstattung auszuschließen, die allein auf Promo abzielt.
Leider findet genau das nicht statt und der Dreck am Stecken mancher Rapper wird von den entsprechenden Organen mit dem Mantel des Schweigens überdeckt oder mit relativierender Farbe überpinselt. Wer das sieht und hinnimmt, ist Teil des Problems. Stattdessen muss solches Fehlverhalten thematisiert werden. Immer und immer wieder. Egal, ob es um Fehlverhalten von Künstlern, Fans oder Medien geht.
Wenn also Shahak Shapira an die Öffentlichkeit trägt, dass Fler Frauen bedroht und Kopfgelder anbietet, dann sollten HipHop-Medien genau dies aufgreifen. Sie sollten thematisieren, dass Fler sich ohnehin immer wieder mit negativen Äußerungen und Handlungen in ein mehr als schlechtes Licht rückt. Weil er eben nicht nur der positiv verrückte Spinner ist, der diese Szene, jeden Beef und auch sich selbst ein bisschen zu ernst nimmt. Sie sollten darüber berichten, dass er, abseits von "epischen Interviews" und viral nutzbaren Zitaten, moralische Grenzen überschreitet und in Kauf nimmt, dass andere Menschen zu Schaden kommen.
Was sie nicht tun sollten, ist, in den Fokus zu rücken, dass Shapira unsympathisch und nervig sei. Dass er sich doch gefälligst aus Dingen raushalten sollte, die nur die Szene angingen. Genauso wenig sollten sie ihm vorwerfen, dass er sich nur in der Aufmerksamkeit suhlen und als White Knight inszenieren wolle. Und am wenigsten sollten sie aus stumpfer Impertinenz dann auch noch das neue Album jenes Künstlers promoten, durch dessen Fehlverhalten die gesamte Debatte ins Rollen gebracht wurde. Es ist völlig egal, ob an den Vorwürfen und Unterstellungen gegenüber Shapira und Co. etwas dran sein mag oder nicht. Denn in dem Moment, in dem das Problem bei einem Frauen bedrohenden Typen liegt, spielt der Rest keine Rolle.
Natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass es sie durchaus gibt, die Texte aus dem Inneren der Szene, die hier – wie auch in früheren Fällen – gezielte und richtige Kritik anbringen. Leider handelt es sich dabei meist um die letzte und einzige Konsequenz, die gezogen wird. Kurz darauf wird dann wieder zugunsten des jeweiligen Rappers zu dessen Promo beigetragen, über die neueste Single oder die Veröffentlichung einer Tracklist geschrieben. Ein solch inkonsequenter Umgang erscheint dabei genauso falsch wie die Argumentation mancher Kommentatoren, man solle doch erst gar nicht über solche Skandale und derartiges Fehlverhalten berichten. Weil dies ja sicherlich nur Teil der Intention dahinter wäre und auch ein kritischer Artikel zur Bewerbung eines neuen Albums beitrüge. Das Problem ist dabei eben nicht, kritisch zu berichten – im Gegenteil! Diese Themen müssen angesprochen werden, derartiges Verhalten von Rappern muss aufgedeckt und thematisiert werden. Es darf nicht unbehelligt innerhalb ihrer Bubble existieren und dort vielleicht sogar noch auf Zuspruch durch Fans treffen, denen es an Empathie und Verständnis für Betroffene und Opfer mangelt.
Denn wenn ein Magazin selbst keine Konsequenz aus seiner Kritik zieht und in Zukunft nicht davon absieht, sich vor den Promokarren des Künstlers spannen zu lassen, stellt auch die kritische Auseinandersetzung kaum mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein dar. Letztlich sind die erwähnten Texte, die auch einmal ansprechen, was die Szene sonst gern ignoriert, ohnehin viel zu rar gesät. Stattdessen ist die Sorte Artikel am populärsten, in welchen besonders laute Stimmen den Fakt nutzen, dass es sich mal wieder um "Außenstehende" handle, die Kritik üben. Denn diese Argumentation eignet sich nun mal bestens dafür, sich erneut in die Opferrolle der "gesellschaftlich nicht akzeptierten Jugendkultur" zu flüchten, statt Selbstkritik zu üben.
Selbst als das Epizentrum dieser Debatte noch weitere Kreise zieht und Fler ein Kamerateam körperlich angreift, werden Artikel geschrieben, die all dies mit Flers schwerer Kindheit legitimieren wollen. Die mutmaßen, dass Shapira ja nur darauf warte, wieder die "Judenkarte" ziehen zu können und an einem solchen Punkt noch fragen, ob man hier nicht mit "Kunstfreiheit" argumentieren könne.
Jedem vernünftig denkenden Menschen dürfte klar sein, dass es hier längst nicht mehr um Diffamierungen geht, die auf dem Wettbewerbscharakter der Szene fußen, und auch lange nicht um die Selbstdarstellung eines Comedians als moralisch überlegen. Jedem Menschen, der sich nur im Ansatz mit Rap beschäftigt, fällt sofort auf, dass an einem Punkt, an dem aus frauenfeindlichen, gewaltverherrlichenden Texten handfeste Tatsachen und aus Berichterstattung Krankenhausaufenthalte werden, auch die Diskussion über Kunstfreiheit längst auf der Strecke geblieben ist.
Warum schreiben junge Männer dennoch Artikel wie diesen hier? Um "ihre" Szene zu schützen? Weil Kritik an Dingen, die man mag – seien es nun bestimmte Individuen, deren Musik oder eine generelle Einstellung – auch fordert, die eigene Person zu hinterfragen? Weil es einfacher ist, wegzusehen, als sich ausführlich damit zu beschäftigen – besonders, wenn es um eine Kultur geht, die sich mehr und mehr zu einem reinen Konsumgut entwickelt? Oder weil der Druck der Künstler und Labels selbst zu groß ist?
Am Ende ist es eigentlich völlig egal, was der Grund dafür ist. Klar ist, dass es dringend aufhören muss. HipHop-Medien müssen kritisch über Internes sprechen. Kritischer als bisher. Und mit mehr Nachdruck. Dringend!
Ich scrolle mich durch die Kommentarspalten von Artikeln zur Causa Fler/Shapira und lese Posts von Leuten, die Shapira wer weiß was wünschen und betonen, dass Fler nach wie vor "King" sei. Ich sehe mir die Profile dieser Kommentatoren an und stelle fest, dass sie auf ihren Profilbildern teilweise mit Frau und Kind posieren. Kinder, die etwa in dem Alter sein müssten, in dem ich angefangen habe, Rap zu hören. Ich frage mich, ob ein Kind in diesem Umfeld überhaupt irgendwann von selbst darauf kommen kann, wie man all diese Textzeilen verstehen sollte. Und dass es sie zu kritisieren gilt.
Dürfte verdammt schwierig werden, wenn die Szene selbst und allen voran ihre in diesem Bereich wichtigsten Organe – die eigenen Medien – nicht bereit sind, als Vorbild zu agieren …
#unhatewomen – Punkt.
(Text von Daniel Fersch in Zusammenarbeit mit Lukas Päckert)
(Titelbild von Daniel Fersch)