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Interview

Tua – ein Gespräch über Religion

"Ich glau­be nicht an einen güti­gen Gott. Das ist ein Anthro­po­mor­phis­mus. Wir ver­mensch­li­chen etwas, um dem The­ma einen Sinn abzu­rin­gen, wäh­rend die Sach­la­ge kom­ple­xer und es völ­lig egal ist, was wir als Ein­zel­ne davon hal­ten." – Tua im Inter­view über sein Ver­hält­nis zu Glau­ben und Religion.

Wer schon ein­mal vom bren­nen­den Dorn­busch, der Schöp­fungs­ge­schich­te oder der Offen­ba­rung des Johan­nes gehört hat, wird ver­mut­lich mit der ver­brei­tets­ten Reli­gi­on Deutsch­lands auf­ge­wach­sen sein. Ob man wei­ter­hin an das Chris­ten­tum und die damit ver­bun­de­nen Leit­mo­ti­ve glaubt, steht jedoch auf einem ande­ren Blatt: 34 Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land leben inzwi­schen kon­fes­si­ons­los. Ein Rekord­hoch, auf das der deut­sche Kir­chen­bund ver­mut­lich all­zu gern ver­zich­tet hät­te. Auch, wenn irdi­sche Pro­ble­me wie immer prä­sen­ter wer­den­de Miss­brauchs­vor­wür­fe oder erhöh­te Kir­chen­steu­ern oft­mals Grün­de für einen Aus­tritt dar­stel­len, sind die­se Zah­len den­noch Indi­ka­to­ren dafür, dass vie­len Men­schen hier­zu­lan­de offen­bar der Glau­be nicht mehr so wich­tig ist wie noch vor 100 Jahren.

Einer, der mit jener reli­giö­sen Meta­pho­rik, die vie­le von uns allen­falls aus tro­cke­nen Reli­gi­ons­stun­den ken­nen, immer wie­der spielt, ist Tua. Sein Song "Kyrie Elei­son", benannt nach der bekann­ten katho­li­schen Lita­nei und geschrie­ben vor über 15 Jah­ren, ist nur ein Bei­spiel sei­ner wie­der­keh­ren­den Anspie­lun­gen auf die­sen The­men­kom­plex. Nun erschien sein neu­es Album "Eden" und hat ver­mut­lich rein zufäl­lig den­sel­ben Namen wie das irdi­sche Para­dies in der Bibel, wel­ches Gott für die Men­schen schuf, ehe er sie dar­aus ver­trieb. Oder? Grund genug für uns, den Reut­lin­ger zur Beich­te zu bit­ten. Wir haben mit ihm über sein Glau­bens­ver­ständ­nis im Lau­fe des Lebens, sei­ne Sinn­su­che in der Reli­gi­on und eine neu ent­deck­te Form der Spi­ri­tua­li­tät gesprochen.

MZEE​.com: Ich wür­de gern eine Grund­satz­fra­ge zu Beginn des Inter­views klä­ren, um eine Basis für die­ses sehr gro­ße The­ma zu schaf­fen: Bist du ein reli­giö­ser Mensch? 

Tua: Ich wür­de mich nicht als Christ im engs­ten Sin­ne bezeich­nen. Ich bin aller­dings christ­lich erzo­gen wor­den. Mei­ne Eltern waren sehr gläu­big, es wur­de oft zu Hau­se gebe­tet und ich bin mit der Bibel auf­ge­wach­sen. Heut­zu­ta­ge lebe ich aber anders: Ich glau­be nicht an die­se Din­ge, aber ich fin­de sie trotz­dem schön. Ich wür­de mir wün­schen, dass das Leben mehr so wäre wie die Geschich­ten, die ich als Kind wahr­nahm. Ich gehe auch bis heu­te ger­ne in die Kir­che. Ich emp­fin­de es als jam­mer­scha­de, dass Kir­chen stän­dig geschlos­sen sind, ein­fach, weil ich dort ger­ne rein­schau­en und zehn Minu­ten zu mir kom­men wür­de. Daher bin ich nicht reli­gi­ös im kon­fes­sio­nel­len Sin­ne, aber die Sym­bo­lik spielt für mich pri­vat wie auch in mei­ner Musik eine gro­ße Rolle.

MZEE​.com: Eben­je­ne reli­giö­se Sym­bo­lik fin­det sich schon sehr früh in dei­nem musi­ka­li­schen Schaf­fen, dein Song "Kyrie Elei­son" auf "Grau" vor über 15 Jah­ren zum Bei­spiel. Wie genau hat sich dein Ver­hält­nis zu Reli­gi­on im Lau­fe dei­nes Lebens verändert?

Tua: Als Kind habe ich sehr viel davon mit­be­kom­men und für bare Mün­ze genom­men, ehe ich als Jugend­li­cher und jun­ger Erwach­se­ner eine kras­se Abkehr von die­ser The­ma­tik erfuhr. In dem Alter rebel­lierst du bekannt­lich gegen alles, was dir ein­ge­impft wur­de, auch gegen den Glau­ben, den man dir ein­bläu­te. Als ich den Song mit … (über­legt) 22 oder 23 Jah­ren geschrie­ben habe, trat dies deut­lich in mei­ner Musik zuta­ge. Das hat sich im Lau­fe der Jah­re stark ver­än­dert. Mein Ver­hält­nis zur Reli­gi­on an sich hat sich eben­so gewan­delt: Auf "Grau" habe ich das gan­ze The­ma noch sehr wört­lich genom­men und so straight for­ward ist der Song auch geschrie­ben. Mitt­ler­wei­le neh­me ich die­se The­men deut­lich dif­fe­ren­zier­ter wahr.

MZEE​.com: Inwie­fern dif­fe­ren­zier­ter? Weni­ger klas­sisch kon­fes­sio­nell? "Stän­dig geschlos­se­ne" Kir­chen, wie du zu Beginn sag­test, klingt für mich nicht nach einem klas­si­schen Mes­se­be­such am Weihnachtsabend. 

Tua: Frü­her bin ich aber auch ab und an zu Mes­sen gegan­gen! Nicht aus dem Gefühl her­aus, das Wort Got­tes hören zu wol­len: Ich woll­te eher zurück­bli­cken. Als Kind war ich oft in Got­tes­diens­ten, ehe ich das min­des­tens zehn Jah­re lang alles blöd oder lächer­lich fand. Ich woll­te also wis­sen, was ein Kir­chen­be­such mitt­ler­wei­le in mir aus­löst. Da spannt sich auch der Bogen zu der Fra­ge, was ich mit einem dif­fe­ren­zier­te­ren Blick auf das The­ma mei­ne: Ich möch­te offen­blei­ben und die Erfah­run­gen sam­meln, die man dort macht. Ich weiß nicht, wie vie­le eurer Leser:innen in letz­ter Zeit in irgend­ei­ner reli­giö­sen Ein­rich­tung saßen und 50 Leu­te einen Chor sin­gen hör­ten. Wenn man ansatz­wei­se offen gegen­über der gan­zen Idee ist, fühlt sich das krass an. Da muss man schon hart sein, wenn das so gar nichts in einem aus­löst. Die­se Form der Selbst­tran­szen­denz zieht mich in den Bann. (über­legt) Ich hof­fe, es klingt nicht so, als wäre ich der üble Hardcore-​Christ, wenn ich das beschrei­be. Das wäre total falsch. Ich mag die­se Form der Selbst­auf­lö­sung ein­fach und suche sie aber nicht nur aktiv in der Kir­che. Die erfah­re ich auch in der Natur. Wenn ich auf den Kana­ren um eine Ecke fah­re und plötz­lich einen unfass­ba­ren Anblick vor­fin­de, löst sich Zeit für einen Moment auf. Je näher du bei dir und offen für sol­che Momen­te bist, des­to schö­ner wird die­ser Augen­blick. So was kann man auch im reli­giö­sen Kon­text erfahren.

MZEE​.com: Das klingt nach einem sehr spi­ri­tu­el­len Erle­ben. Wür­dest du von dir selbst behaup­ten, dabei an eine höhe­re Macht oder einen Gott zu glauben?

Tua: (über­legt) Ich weiß es nicht. Ich weiß es ehr­lich nicht. Ich stel­le mir die­se Fra­ge oft und mer­ke, wie situa­ti­ons­ab­hän­gig das ist. Bei­spiels­wei­se fal­le ich in ver­zwei­fel­ten Momen­ten in Glau­bens­sys­te­me zurück, die ich als Kind lern­te, und möch­te an eine höhe­re Macht glau­ben, die die­sen Augen­bli­cken einen Sinn gibt. Dage­gen steht dann mein erwach­se­ner, nihi­lis­ti­scher Blick­win­kel, gegen den man auch nicht ankommt. Die­se bei­den Posi­tio­nen wrest­len stän­dig in mei­nem Kopf. Ich möch­te ger­ne an eine über­ge­ord­ne­te Rea­li­tät glau­ben, mache es aber nicht aktiv. Zeit­gleich miss­traue ich bei­den Welt­an­sich­ten glei­cher­ma­ßen. (lacht) Übri­gens, ein inter­es­san­ter Fun­fact: Es gibt streit­ba­re Stu­di­en dar­über, dass es man­chen Leu­ten leich­ter fällt, zu glauben.

MZEE​.com: Das kommt doch pri­mär auf Prä­gun­gen und ein all­ge­mei­nes Welt­ver­ständ­nis an, oder?

Tua: Es gibt wohl, über die Erzie­hung hin­aus, begüns­ti­gen­de neu­ro­lo­gi­sche Fak­to­ren. Eine Fähig­keit, die man hat oder eben nicht, wenn man so will. Wenn du mich jetzt fra­gen wür­dest, ob ich ger­ne mehr an einen Gott glau­ben wür­de, wür­de ich das sofort beja­hen. Bis zu einem gewis­sen Maß kann ein Glau­be total hei­lend sein. Im Grun­de den­ke ich, dass es Leu­ten bes­ser geht, wenn sie einen höhe­ren Sinn in ihrem Schaf­fen sehen. Fast jeder ant­wor­tet auf die Fra­ge, ob man gläu­big ist, dass man nicht reli­gi­ös sei, aber schon an etwas glau­be. In der Sekun­de, in der du aber tie­fer gehst, merkst du sofort, dass die Leu­te doch zumeist an das glau­ben, womit sie auf­ge­wach­sen sind. Da ist es wie­der­um fun­da­men­tal unter­schied­lich, ob du aus dem tiefs­ten Bay­ern oder Ost­deutsch­land kommst. Zumeist den­ken die Leu­te näm­lich doch über eine über­ir­di­sche Macht nach – ihnen ist es nur zuwi­der, an einen alten Mann mit Rau­sche­bart zu glau­ben, der über Gutes und Böses richtet.

MZEE​.com: Da möch­te ich noch mal auf ein Zitat aus "Kyrie Elei­son" zu spre­chen kom­men: "Von den 10 Gebo­ten brach ich die Hälf­te allei­ne erst ges­tern." Auf dem Song sprichst du über dein Ver­hält­nis zu Gott und eine Gesell­schaft, die von reli­giö­sen Grund­wer­ten deut­lich abweicht. Obwohl spe­zi­ell west­li­che Län­der eine star­ke Abkehr von reli­giö­sen Insti­tu­tio­nen erfah­ren, wirkt die Moral hin­ter eini­gen Gebo­ten prä­sent wie eh und je. Löst sich ein all­ge­mei­nes Moral­ver­ständ­nis ein­fach von der Reli­gi­on? Äußert sich Reli­gi­on inzwi­schen anders als in die Kir­che gehen, Beten und einem from­men Leben?

Tua: Natür­lich. Glau­be hat sich immer schon gewan­delt. Schon in der Bibel fin­den sich Refe­ren­zen auf über 5 000 Jah­re alte spi­ri­tu­el­le Geschich­ten, auf denen die Erzäh­lun­gen fußen. Schon weni­ge Jahr­hun­der­te nach der Zeit Jesu Chris­ti hat das Aus­üben einer Reli­gi­on nur noch wenig mit dem zu tun gehabt, wie Glau­be zu sei­nen Leb­zei­ten prak­ti­ziert wur­de. Heut­zu­ta­ge mul­ti­pli­ziert sich das noch mal in einer stän­dig schnel­ler wer­den­den Welt. Das Inter­net ist inzwi­schen voll von Yoga-Lehrer:innen, Eso­te­rik und dem Wunsch nach Selbst­tran­szen­denz oder Sinn­su­che. Aus­wüch­se davon fin­dest du in Fes­ti­vals, bei Fuß­ball­spie­len und über­all, wo Leu­te in einer Sache auf­ge­hen. Das sind am Ende auch neue Arten von Glau­bens­er­fah­run­gen, aber eben nicht klas­sisch kon­fes­sio­nell geprägt.

MZEE​.com: Spe­zi­ell mit einem kri­ti­schen Blick auf The­men wie Eso­te­rik: Wür­dest du das wirk­lich als durch­weg posi­ti­ve Ent­wick­lung beschreiben?

Tua: Das Pro­blem ist nicht das Ange­bot, son­dern Men­schen, die lie­ber auf sehr ein­fa­che Ant­wor­ten rein­fal­len, als tie­fer in die The­men ein­zu­stei­gen. In einem Zeit­al­ter mit so vie­len ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen sind die Mög­lich­kei­ten für eine dif­fe­ren­zier­te Betrach­tung der eige­nen Spi­ri­tua­li­tät so groß wie nie. Es gibt Zugän­ge zu tie­fe­rem Wis­sen über das Chris­ten­tum wie Scha­ma­nis­mus glei­cher­ma­ßen, das ist doch erst ein­mal super. Das Pro­blem ist, dass die Mensch­heit auch hier auf die lau­tes­ten Markt­schrei­er mit den schnells­ten Ant­wor­ten hören möch­te, wie es immer schon der Fall war. Wer kann es ihnen aber ver­den­ken? Ich spre­che hier gera­de aus einer super­pri­vi­le­gier­ten Lage her­aus: Als Künst­ler in den Pan­de­mie­jah­ren war ich oft im Aus­land und hat­te sehr viel Zeit, um mei­ne eige­ne Form der Spi­ri­tua­li­tät zu ent­de­cken. Die­se Zeit haben vie­le Men­schen nicht. Wer weiß, ob ich die­sem The­ma so viel Bedeu­tung bei­mes­sen wür­de, wenn ich die­se Mög­lich­kei­ten nicht hätte?

MZEE​.com: Es klingt gera­de so, als wür­dest du an einen bestimm­ten Moment aus den Pan­de­mie­jah­ren zurück­den­ken, in denen du dei­ne Spi­ri­tua­li­tät gefun­den hast.

Tua: Die habe ich nie wirk­lich gefun­den, ich habe mich nur mehr mit ihr beschäf­tigt. Um es weni­ger abs­trakt zu machen: Ich medi­tie­re schon seit Jah­ren, doch seit 2020 mache ich das deut­lich inten­si­ver und regel­mä­ßi­ger, und das hat einen Grund. Das mag jetzt pro­fan klin­gen, aber ich hat­te das Ziel, glück­li­cher zu wer­den. Ich woll­te nicht Opfer mei­ner eige­nen Pro­phe­zei­ung und der ewig schlecht gelaun­te Guru der Melan­cho­lie wer­den. (lacht)

MZEE​.com: Was löst eine Medi­ta­ti­on in dir aus, um dem Ziel eines glück­li­che­ren Lebens näherzukommen?

Tua: Für mich baut es Distanz zu mei­nen Gefüh­len und Gedan­ken auf. Medi­ta­ti­on ist für mich wie ein Alarm, der aus­schlägt, wenn ich eine zu star­ke Gefühls­re­gung habe. Durch die­ses Trai­ning ent­steht inzwi­schen immer öfter ein klei­nes Zeit­fens­ter, in dem ich mich bewusst ent­schei­den kann, ob ich einem Gedan­ken­zug fol­gen möch­te oder ob die­ser gar nichts Gutes in mir bewirkt. Mei­ne Gefüh­le rich­ten sich dank der Medi­ta­ti­on mehr nach innen als nach außen. Wenn wir da wie­der auf "Kyrie Elei­son" zu spre­chen kom­men wol­len: Da ver­han­de­le ich per­ma­nent Din­ge mit mir und der Außen­welt, die mir als unge­recht erschei­nen. Je älter ich wer­de, des­to mehr rich­tet sich das nach innen. Abschlie­ßend wür­de ich sagen, dass ich durch Medi­ta­ti­on kei­ne neue Spi­ri­tua­li­tät gefun­den habe, son­dern mich selbst und das The­ma dif­fe­ren­zier­ter wahr­neh­me. Wenn wir im Chris­ten­tum blei­ben wol­len, könn­te man sagen, dass ich mehr zu den Mys­ti­kern ten­die­ren wür­de, denen es eher um die Erfah­rung von Gott geht als um das Konzept.

MZEE​.com: Sol­che Sät­ze ken­ne ich auch. Wenn mir aber jemand sagt, ich sol­le Gott spü­ren oder erleb­bar für mich machen, schreckt mich das vom Glau­bens­the­ma eher ab, als dass es mich einen dif­fe­ren­zier­ten Umgang mit dem The­ma lehrt. 

Tua: Viel­leicht schreckt dich ja eher der Kirchen-​Slang ab? Wir ver­bin­den die­se Welt und die­se Aus­drucks­wei­sen mit so viel weir­dem Scheiß. Da kann ich jeden ver­ste­hen, der lie­ber zu- als auf­macht. Am Ende des Tages sind das aber Meta­phern und ganz welt­li­che Erfah­run­gen kön­nen auch etwas Spi­ri­tu­el­les oder Reli­giö­ses an sich haben. Fall­schirm­sprin­gen oder ähn­lich extre­me Momen­te füh­ren bei einem zu ähn­li­chen selbst­auf­lö­sen­den Gefüh­len. Man möch­te sich dabei eben­so selbst spü­ren. Wer lie­bend ger­ne Bungee-​Jumping macht oder lei­den­schaft­lich auf Ber­ge mit über 7 000 Höhen­me­tern klet­tert, sucht mei­ner Mei­nung nach das Glei­che, was Mystiker:innen in reli­giö­sen Tex­ten deu­ten. Sol­che Erfah­run­gen beschreibt man nur nicht mit spi­ri­tu­el­lem Voka­bu­lar. Wenn du von sol­chen Wor­ten abge­schreckt bist, was wür­dest du denn als extrems­te Erfah­rung dei­nes Lebens nennen?

MZEE​.com: Die ergänzt sich pas­sen­der­wei­se mit einer klas­sisch reli­giö­sen Erfah­rung. Im Novem­ber letz­ten Jah­res bin ich auf den Toubkal (Anm. d. Red.: der höchs­te Berg Nord­afri­kas und des Hohen Atlas­ge­bir­ges) geklet­tert. Unse­re Berg­füh­rer, zwei gläu­bi­ge Mus­li­me, haben dort bei Son­nen­auf­gang ihr Mor­gen­ge­bet gespro­chen – auf grob geschätzt 3 700 Metern. Ohne viel mit dem Islam zu tun zu haben, berührt mich die­ser Moment bis heu­te. Daher ver­ste­he ich, was du mit dem Ver­gleich meinst.

Tua: Geil! Ich wünsch­te, ich wäre dort gewe­sen. Wis­sen über den Islam brauchst du auch gar nicht, um einen sol­chen Moment beson­ders zu fin­den. Ich den­ke, es geht um den Kno­ten, der in dei­nem Kopf bei sol­chen Ein­drü­cken platzt. Das ist viel spi­ri­tu­el­ler, als einem Mann mit Rau­sche­bart zu glau­ben. (über­legt) Wobei ich selbst nicht genau weiß, wo die­ses Bild­nis von Gott über­haupt her­kommt. Es ist ja eigent­lich ver­bo­ten, Gott abzu­bil­den, das sind ja auch nur Ver­bild­li­chun­gen von Men­schen, die glau­ben, so sähe die­ses Wesen aus.

MZEE​.com: Die­se Bild­nis­se beru­hen prin­zi­pi­ell auch nur auf der Aus­le­gung der Bibel. Auf jenes The­ma möch­te ich jetzt zu spre­chen kom­men. Wir haben jetzt viel über posi­ti­ve Aspek­te der Reli­gi­on gespro­chen, das greift aber nicht zuletzt in der aktu­el­len Zeit zu kurz. Unter dem Deck­man­tel der Reli­gi­on wer­den Anders­gläu­bi­ge bis heu­te ver­folgt und getö­tet sowie gan­ze Krie­ge geführt. Eine Fra­ge, die dabei häu­fig auf­kommt, ist, wie ein "güti­ger Gott so was zulas­sen kann". Wis­sen­schaft­lich gespro­chen: Sie stel­len die Theo­di­ze­efra­ge. Was wür­dest du die­ser Fra­ge entgegnen?

Tua: Ich glau­be nicht an einen güti­gen Gott. Das ist ein Anthro­po­mor­phis­mus, den wir Men­schen geschaf­fen haben. Wir ver­mensch­li­chen etwas, um dem Leben einen Sinn abzu­rin­gen, wäh­rend sich die Sach­la­ge wahr­schein­lich viel kom­ple­xer dar­stellt und es völ­lig egal ist, was wir als Ein­zel­ne davon hal­ten. Dar­über haben wir vor­hin gespro­chen: Es gibt Momen­te, in denen ich mir einen güti­gen Gott wün­schen wür­de, vor allem beson­ders in trau­ri­gen Momen­ten. Wenn dein Kind mit 41 Grad Fie­ber allein im Raum mit dem Arzt blei­ben muss, wünscht sich dein Kinder-​Ich doch wie­der den Mann mit dem Rau­sche­bart zurück, der alles gut gehen lässt. Das wäre für die eige­ne Lebens­rea­li­tät viel befrie­di­gen­der, weil es dem Über­le­ben des Kin­des dabei einen höhe­ren Sinn bei­misst. Das ist aber genau­so unrea­lis­tisch, wie an ein flie­gen­des Spa­ghet­ti­mons­ter zu glau­ben. Den­ke ich also, dass es einen lie­ben­den Gott gibt? Nein. Wün­sche ich mir, dass es einen gibt? Ja. In west­li­chen Län­dern glau­ben wir inzwi­schen an Natur­wis­sen­schaf­ten, die die brei­te Bevöl­ke­rung in der Tie­fe aber wie­der­um genau­so wenig ver­steht – ich jeden­falls nicht. (lacht) Wir wis­sen nur, dass es mehr Bewei­se für die­se Theo­rien gibt als für einen christ­li­chen Gott. Was wür­de ich also auf die Theo­di­ze­efra­ge ent­geg­nen? Dass ich sie nicht beant­wor­ten kann. Ganz ein­fach. Die gesam­te Fra­ge wirkt auf mich, als wür­de man ein psy­chi­sches Pro­blem mathe­ma­tisch lösen wol­len. Man kann sie gar nicht beant­wor­ten, wenn man schon am Kon­zept der Güte scheitert.

MZEE​.com: Um auf Krie­ge im Namen der Reli­gi­on zurück­zu­kom­men: Müss­ten wir es nach Jahr­hun­der­ten der Auf­klä­rung nicht bes­ser wis­sen? Wie­so sehen Men­schen die wah­ren Beweg­grün­de hin­ter den Aus­ein­an­der­set­zun­gen inzwi­schen nicht schon klarer?

Tua: Das Pro­blem ist hier­bei nicht die Reli­gi­on, son­dern die Men­schen, die Reli­gi­on für Macht, Geld, Ein­fluss, ihre Zie­le oder ihren Hass instru­men­ta­li­sie­ren. Men­schen wer­den hin­ter Grup­pen­ge­fü­gen gesam­melt, wie Bau­ern, Chris­ten, Mus­li­me, Sozi­al­de­mo­kra­ten et cete­ra. Das hat nichts mit Tran­szen­denz oder Reli­gi­on zu tun, son­dern gibt den Men­schen eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keit. Der Glau­be ist auch ein Mus­ter, hin­ter dem sich vie­le Men­schen ver­sam­meln. Men­schen glau­ben an gemein­sa­me Geschich­ten. Wir möch­ten an einen über­ge­ord­ne­ten Sinn glau­ben. Unse­re Wahr­neh­mung ist eine Inter­pre­ta­ti­ons­ma­schi­ne, die wir über unse­re Sin­nes­or­ga­ne erfas­sen, und reli­giö­se Geschich­ten ver­bin­den uns genau­so, wie es die Geschich­te eines Fuß­ball­ver­eins schaf­fen kann. Das ist für vie­le Men­schen sinn­stif­tend, und solan­ge es Men­schen gibt, ver­su­chen sie, den Sinn hin­ter ihrer Exis­tenz zu ent­de­cken. Men­schen sind so gestrickt, dass sie an eine kohä­ren­te Geschich­te glau­ben wol­len, auch wenn sie viel­leicht nicht halt­bar ist. Frü­her war das evo­lu­tio­när bedingt über­le­bens­wich­tig: sich als ein Stamm zu iden­ti­fi­zie­ren. Eine Anzahl von Men­schen, die über ihre Stam­mes­ge­schich­te mit­ein­an­der ver­bun­den ist. Eine Stam­mes­ge­schich­te konn­te auch etwas sein, an das alle gemein­sam geglaubt haben. Aus die­ser Ver­bun­den­heit kann das Bes­te ent­ste­hen, aber eben auch das Dümms­te – bis heute.

MZEE​.com: Damit haben wir tief in die Ver­gan­gen­heit und in die Ent­ste­hung von gemein­sa­mem Glau­ben geblickt. Zum Abschluss wür­de ich mit dir gern in die Zukunft schau­en, wohin Reli­gio­nen sich ent­wi­ckeln. Ein all­um­fas­sen­der Blick ist dahin­ge­hend unmög­lich, aber dei­ne eige­ne Ein­schät­zung wür­de mich inter­es­sie­ren: Inwie­weit haben klas­sisch kon­fes­sio­nel­le Reli­gio­nen, bei­spiels­wei­se das Chris­ten­tum, ausgedient?

Tua: Ganz ehr­lich? Die Sta­tu­ten der Kir­che sind so wack, Alter. (lacht) Welt­li­che Ver­spre­chen von Gemein­schaft oder selbst einem ver­damm­ten Kita-​Platz kön­nen sie nicht hal­ten, bei einer kirch­li­chen Trau­ung muss min­des­tens ein katho­li­scher Trau­zeu­ge mit dabei sein und so wei­ter. Das wirkt auf mich ein­fach nicht zukunfts­ge­rich­tet. Riten und Bräu­che, die im katho­li­schen Glau­ben über­lebt haben, wir­ken auf mich wie ein spi­ri­tu­el­ler Muse­ums­be­such. Ich ver­ste­he, war­um das Men­schen frü­her Kraft und Sta­bi­li­tät gab, und eigent­lich suchen Men­schen bis heu­te ver­zwei­felt den Halt, den die Kir­che frü­her ver­sprach. Egal, ob sie Yoga machen, medi­tie­ren oder in ande­ren Din­gen spi­ri­tu­el­len Anklang suchen. Das sind Ver­su­che, mit einer Welt klar­zu­kom­men, die stän­dig und unglaub­lich schnell auf den Kopf gestellt wird. Mit Ende 30 habe ich das Gefühl, dass sich alles alle zwei Jah­re kom­plett ändert – egal, ob wir von der poli­ti­schen Lage spre­chen oder der simp­len Idee, wie Musik ver­mark­tet wer­den muss. Die Fra­ge nach dem Sinn bleibt, die Gege­ben­hei­ten, in denen man ihn sucht, wer­den aber immer unste­ter und ver­wor­re­ner. Dabei bleibt die Kir­che aber ein Relikt der Ver­gan­gen­heit, das Men­schen eher in frü­he­ren Zei­ten Halt geben konnte.

MZEE​.com: In wahn­sin­nig lan­gen Pan­de­mie­jah­ren und solch kom­pli­zier­ten Zei­ten ist in der Theo­rie doch eigent­lich das per­fek­te Umfeld geschaf­fen, um wie­der durch Insti­tu­tio­nen wie die Kir­che Bestän­dig­keit zu erfah­ren, oder?

Tua: Ja und nein. Die Kir­che ist aus irgend­wel­chen Grün­den offen­bar nicht die Ant­wort. Viel­leicht liegt es auch an den Aus­drucks­wei­sen, von denen wir vor­hin schon spra­chen? Wer bin ich, um das zu beant­wor­ten? Viel­leicht turnt es vie­le ab, wenn man von der Erleb­bar­keit Got­tes spricht, aber Men­schen wer­den bei Begrif­fen wie "Peak Per­for­mance" oder "Selbst­op­ti­mie­rung" hell­hö­rig. Scha­de eigent­lich, denn auf der Couch lie­gend in dein scheiß Smart­phone zu schau­en, wird dich nicht näher zu dir selbst füh­ren. Auch wenn so ein Kir­chen­be­such krass sein kann, das muss es doch nicht ein­mal sein! Ein ein­fa­cher Spa­zier­gang wäre schon ein Anfang. Ein­mal durch den Wald gehen, ohne Han­dy. Wie vie­le Men­schen gibt es, die das gar nicht mehr kön­nen?! Ich lebe am Wald­rand und gehe mehr­mals die Woche ein­fach lau­fen. Das, was ich dabei spü­re, ist für mich auch eine Form der Spi­ri­tua­li­tät, wenn man so will. Eine Form der Selbst­auf­lö­sung. Das fin­dest du nicht auf dei­nem Han­dy. Das Video, in dem mir eine solch tran­szen­den­te Erfah­rung via Smart­phone erklärt wird, muss ich erst noch fin­den. (lacht) Ich glau­be, ich wäre Mit­te 20 aber nicht anders gewe­sen. Das klingt so, als wür­de ich tech­ni­schen Fort­schritt ver­teu­feln, aber das will ich gar nicht.

MZEE​.com: Das wür­de ich auch bei Gott nicht ver­teu­feln wol­len, denn … (unter­bricht und überlegt)

Tua: Bei Gott nicht ver­teu­feln also. Das hast du selbst bemerkt, oder? (alle lachen)

MZEE​.com: Was ich sagen woll­te: Ich emp­fin­de es als gro­ßes Geschenk, Infor­ma­tio­nen so schnell und so gut ver­füg­bar zu haben.

Tua: So schnell? Ja. So gut? Ich weiß nicht. Ich fin­de Such­ma­schi­nen so schlecht wie noch nie. Bei wirk­li­chen Fach­fra­gen fin­de ich gar nichts mehr. Auf­grund von Algo­rith­men und Spon­so­rings fin­de ich meist Ergeb­nis­se, die mich nicht zufrie­den­stel­len. Infor­ma­tio­nen sind oft­mals sehr schwer zu fin­den. Wenn ich wis­sen will, wie ich mei­nen Fahr­rad­rei­fen fli­cke, muss ich zuerst 17 Sei­ten Wer­bung für Insta­gram­sei­ten, Online­shops und Wer­be­an­zei­gen über­sprin­gen, bevor ich eine Ant­wort bekomme.

MZEE​.com: Du mein­test ja selbst, dass sich alles im zwei­jäh­ri­gen Tur­nus ändert. Was ich selbst mitt­ler­wei­le mache, um das zu umge­hen: Kom­ple­xe­re Fra­gen stel­le ich zuerst ChatGPT, bevor ich die Ant­wort der KI noch mal prüfe.

Tua: Genau das mache ich auch! Als Song­wri­ter fin­de ich das jetzt schon unglaub­lich inter­es­sant: Wenn ich vier eher poe­ti­sche Zei­len schrei­be, die auf den ers­ten Blick kau­sal gar nicht zusam­men­hän­gen, und ChatGPT nach einer Psy­cho­ana­ly­se des Autors fra­ge, bekom­me ich schon jetzt eine erstaun­lich akku­ra­te Ant­wort. Das sind fast schon horo­sko­pi­sche Ant­wor­ten. Du kannst dort recht wahl­lo­se Infor­ma­tio­nen rein­kip­pen, um über­ra­schend tref­fen­de Ant­wor­ten her­aus­zu­be­kom­men, weil die KI Aber­mil­lio­nen von Erfah­run­gen und Daten als Refe­renz zur Ver­fü­gung hat. Um damit auf die eigent­li­che Fra­ge zurück­zu­kom­men, wie Reli­gi­on künf­tig aus­se­hen kann: Ich glau­be, dass in KI eine Men­ge Reli­giö­ses steckt. Men­schen wer­den mei­ner Mei­nung nach star­ke Gefüh­le für so was haben und mit spi­ri­tu­el­len Fra­gen an so was wie ChatGPT her­an­tre­ten. Mit der Sinn­su­che in der Bibel ver­such­ten Leu­te auch Ant­wor­ten auf die Fra­gen des Lebens zu geben. Wenn Men­schen frü­her behaup­te­ten, die Bibel spre­che zu ihnen, lag das mög­li­cher­wei­se dar­an, dass sie die­ses Buch inter­pre­tier­ten und Schlüs­se über ihr Leben dar­aus zogen.

MZEE​.com: Das heißt, wir enden damit, dass du behaup­test, ChatGPT kann eine künf­ti­ge Welt­re­li­gi­on wer­den? (lacht)

Tua: Eine Welt­re­li­gi­on ist wahr­schein­lich zu viel. Es scheint mir aber der Geist unse­rer Zeit zu sein, sehr brei­te, spi­ri­tu­el­le Fra­gen dort in Erfah­rung brin­gen zu wol­len. Dann gibt es noch Mög­lich­kei­ten von VR-​Brillen wie sol­che, die Apple vor Kur­zem auf den Markt brach­te – wenn du die Mög­lich­kei­ten einer alter­na­ti­ven Rea­li­tät an eine KI wie ChatGPT kop­pelst, ist das Sze­na­rio eines gott­glei­chen Ora­kels als App nicht mehr so weit. (grinst)

(Sven Aumiller)
(Fotos von Leo­nel Ruben)