Wer schon einmal vom brennenden Dornbusch, der Schöpfungsgeschichte oder der Offenbarung des Johannes gehört hat, wird vermutlich mit der verbreitetsten Religion Deutschlands aufgewachsen sein. Ob man weiterhin an das Christentum und die damit verbundenen Leitmotive glaubt, steht jedoch auf einem anderen Blatt: 34 Millionen Menschen in Deutschland leben inzwischen konfessionslos. Ein Rekordhoch, auf das der deutsche Kirchenbund vermutlich allzu gern verzichtet hätte. Auch, wenn irdische Probleme wie immer präsenter werdende Missbrauchsvorwürfe oder erhöhte Kirchensteuern oftmals Gründe für einen Austritt darstellen, sind diese Zahlen dennoch Indikatoren dafür, dass vielen Menschen hierzulande offenbar der Glaube nicht mehr so wichtig ist wie noch vor 100 Jahren.
Einer, der mit jener religiösen Metaphorik, die viele von uns allenfalls aus trockenen Religionsstunden kennen, immer wieder spielt, ist Tua. Sein Song "Kyrie Eleison", benannt nach der bekannten katholischen Litanei und geschrieben vor über 15 Jahren, ist nur ein Beispiel seiner wiederkehrenden Anspielungen auf diesen Themenkomplex. Nun erschien sein neues Album "Eden" und hat vermutlich rein zufällig denselben Namen wie das irdische Paradies in der Bibel, welches Gott für die Menschen schuf, ehe er sie daraus vertrieb. Oder? Grund genug für uns, den Reutlinger zur Beichte zu bitten. Wir haben mit ihm über sein Glaubensverständnis im Laufe des Lebens, seine Sinnsuche in der Religion und eine neu entdeckte Form der Spiritualität gesprochen.
MZEE.com: Ich würde gern eine Grundsatzfrage zu Beginn des Interviews klären, um eine Basis für dieses sehr große Thema zu schaffen: Bist du ein religiöser Mensch?
Tua: Ich würde mich nicht als Christ im engsten Sinne bezeichnen. Ich bin allerdings christlich erzogen worden. Meine Eltern waren sehr gläubig, es wurde oft zu Hause gebetet und ich bin mit der Bibel aufgewachsen. Heutzutage lebe ich aber anders: Ich glaube nicht an diese Dinge, aber ich finde sie trotzdem schön. Ich würde mir wünschen, dass das Leben mehr so wäre wie die Geschichten, die ich als Kind wahrnahm. Ich gehe auch bis heute gerne in die Kirche. Ich empfinde es als jammerschade, dass Kirchen ständig geschlossen sind, einfach, weil ich dort gerne reinschauen und zehn Minuten zu mir kommen würde. Daher bin ich nicht religiös im konfessionellen Sinne, aber die Symbolik spielt für mich privat wie auch in meiner Musik eine große Rolle.
MZEE.com: Ebenjene religiöse Symbolik findet sich schon sehr früh in deinem musikalischen Schaffen, dein Song "Kyrie Eleison" auf "Grau" vor über 15 Jahren zum Beispiel. Wie genau hat sich dein Verhältnis zu Religion im Laufe deines Lebens verändert?
Tua: Als Kind habe ich sehr viel davon mitbekommen und für bare Münze genommen, ehe ich als Jugendlicher und junger Erwachsener eine krasse Abkehr von dieser Thematik erfuhr. In dem Alter rebellierst du bekanntlich gegen alles, was dir eingeimpft wurde, auch gegen den Glauben, den man dir einbläute. Als ich den Song mit … (überlegt) 22 oder 23 Jahren geschrieben habe, trat dies deutlich in meiner Musik zutage. Das hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. Mein Verhältnis zur Religion an sich hat sich ebenso gewandelt: Auf "Grau" habe ich das ganze Thema noch sehr wörtlich genommen und so straight forward ist der Song auch geschrieben. Mittlerweile nehme ich diese Themen deutlich differenzierter wahr.
MZEE.com: Inwiefern differenzierter? Weniger klassisch konfessionell? "Ständig geschlossene" Kirchen, wie du zu Beginn sagtest, klingt für mich nicht nach einem klassischen Messebesuch am Weihnachtsabend.
Tua: Früher bin ich aber auch ab und an zu Messen gegangen! Nicht aus dem Gefühl heraus, das Wort Gottes hören zu wollen: Ich wollte eher zurückblicken. Als Kind war ich oft in Gottesdiensten, ehe ich das mindestens zehn Jahre lang alles blöd oder lächerlich fand. Ich wollte also wissen, was ein Kirchenbesuch mittlerweile in mir auslöst. Da spannt sich auch der Bogen zu der Frage, was ich mit einem differenzierteren Blick auf das Thema meine: Ich möchte offenbleiben und die Erfahrungen sammeln, die man dort macht. Ich weiß nicht, wie viele eurer Leser:innen in letzter Zeit in irgendeiner religiösen Einrichtung saßen und 50 Leute einen Chor singen hörten. Wenn man ansatzweise offen gegenüber der ganzen Idee ist, fühlt sich das krass an. Da muss man schon hart sein, wenn das so gar nichts in einem auslöst. Diese Form der Selbsttranszendenz zieht mich in den Bann. (überlegt) Ich hoffe, es klingt nicht so, als wäre ich der üble Hardcore-Christ, wenn ich das beschreibe. Das wäre total falsch. Ich mag diese Form der Selbstauflösung einfach und suche sie aber nicht nur aktiv in der Kirche. Die erfahre ich auch in der Natur. Wenn ich auf den Kanaren um eine Ecke fahre und plötzlich einen unfassbaren Anblick vorfinde, löst sich Zeit für einen Moment auf. Je näher du bei dir und offen für solche Momente bist, desto schöner wird dieser Augenblick. So was kann man auch im religiösen Kontext erfahren.
MZEE.com: Das klingt nach einem sehr spirituellen Erleben. Würdest du von dir selbst behaupten, dabei an eine höhere Macht oder einen Gott zu glauben?
Tua: (überlegt) Ich weiß es nicht. Ich weiß es ehrlich nicht. Ich stelle mir diese Frage oft und merke, wie situationsabhängig das ist. Beispielsweise falle ich in verzweifelten Momenten in Glaubenssysteme zurück, die ich als Kind lernte, und möchte an eine höhere Macht glauben, die diesen Augenblicken einen Sinn gibt. Dagegen steht dann mein erwachsener, nihilistischer Blickwinkel, gegen den man auch nicht ankommt. Diese beiden Positionen wrestlen ständig in meinem Kopf. Ich möchte gerne an eine übergeordnete Realität glauben, mache es aber nicht aktiv. Zeitgleich misstraue ich beiden Weltansichten gleichermaßen. (lacht) Übrigens, ein interessanter Funfact: Es gibt streitbare Studien darüber, dass es manchen Leuten leichter fällt, zu glauben.
MZEE.com: Das kommt doch primär auf Prägungen und ein allgemeines Weltverständnis an, oder?
Tua: Es gibt wohl, über die Erziehung hinaus, begünstigende neurologische Faktoren. Eine Fähigkeit, die man hat oder eben nicht, wenn man so will. Wenn du mich jetzt fragen würdest, ob ich gerne mehr an einen Gott glauben würde, würde ich das sofort bejahen. Bis zu einem gewissen Maß kann ein Glaube total heilend sein. Im Grunde denke ich, dass es Leuten besser geht, wenn sie einen höheren Sinn in ihrem Schaffen sehen. Fast jeder antwortet auf die Frage, ob man gläubig ist, dass man nicht religiös sei, aber schon an etwas glaube. In der Sekunde, in der du aber tiefer gehst, merkst du sofort, dass die Leute doch zumeist an das glauben, womit sie aufgewachsen sind. Da ist es wiederum fundamental unterschiedlich, ob du aus dem tiefsten Bayern oder Ostdeutschland kommst. Zumeist denken die Leute nämlich doch über eine überirdische Macht nach – ihnen ist es nur zuwider, an einen alten Mann mit Rauschebart zu glauben, der über Gutes und Böses richtet.
MZEE.com: Da möchte ich noch mal auf ein Zitat aus "Kyrie Eleison" zu sprechen kommen: "Von den 10 Geboten brach ich die Hälfte alleine erst gestern." Auf dem Song sprichst du über dein Verhältnis zu Gott und eine Gesellschaft, die von religiösen Grundwerten deutlich abweicht. Obwohl speziell westliche Länder eine starke Abkehr von religiösen Institutionen erfahren, wirkt die Moral hinter einigen Geboten präsent wie eh und je. Löst sich ein allgemeines Moralverständnis einfach von der Religion? Äußert sich Religion inzwischen anders als in die Kirche gehen, Beten und einem frommen Leben?
Tua: Natürlich. Glaube hat sich immer schon gewandelt. Schon in der Bibel finden sich Referenzen auf über 5 000 Jahre alte spirituelle Geschichten, auf denen die Erzählungen fußen. Schon wenige Jahrhunderte nach der Zeit Jesu Christi hat das Ausüben einer Religion nur noch wenig mit dem zu tun gehabt, wie Glaube zu seinen Lebzeiten praktiziert wurde. Heutzutage multipliziert sich das noch mal in einer ständig schneller werdenden Welt. Das Internet ist inzwischen voll von Yoga-Lehrer:innen, Esoterik und dem Wunsch nach Selbsttranszendenz oder Sinnsuche. Auswüchse davon findest du in Festivals, bei Fußballspielen und überall, wo Leute in einer Sache aufgehen. Das sind am Ende auch neue Arten von Glaubenserfahrungen, aber eben nicht klassisch konfessionell geprägt.
MZEE.com: Speziell mit einem kritischen Blick auf Themen wie Esoterik: Würdest du das wirklich als durchweg positive Entwicklung beschreiben?
Tua: Das Problem ist nicht das Angebot, sondern Menschen, die lieber auf sehr einfache Antworten reinfallen, als tiefer in die Themen einzusteigen. In einem Zeitalter mit so vielen verfügbaren Informationen sind die Möglichkeiten für eine differenzierte Betrachtung der eigenen Spiritualität so groß wie nie. Es gibt Zugänge zu tieferem Wissen über das Christentum wie Schamanismus gleichermaßen, das ist doch erst einmal super. Das Problem ist, dass die Menschheit auch hier auf die lautesten Marktschreier mit den schnellsten Antworten hören möchte, wie es immer schon der Fall war. Wer kann es ihnen aber verdenken? Ich spreche hier gerade aus einer superprivilegierten Lage heraus: Als Künstler in den Pandemiejahren war ich oft im Ausland und hatte sehr viel Zeit, um meine eigene Form der Spiritualität zu entdecken. Diese Zeit haben viele Menschen nicht. Wer weiß, ob ich diesem Thema so viel Bedeutung beimessen würde, wenn ich diese Möglichkeiten nicht hätte?
MZEE.com: Es klingt gerade so, als würdest du an einen bestimmten Moment aus den Pandemiejahren zurückdenken, in denen du deine Spiritualität gefunden hast.
Tua: Die habe ich nie wirklich gefunden, ich habe mich nur mehr mit ihr beschäftigt. Um es weniger abstrakt zu machen: Ich meditiere schon seit Jahren, doch seit 2020 mache ich das deutlich intensiver und regelmäßiger, und das hat einen Grund. Das mag jetzt profan klingen, aber ich hatte das Ziel, glücklicher zu werden. Ich wollte nicht Opfer meiner eigenen Prophezeiung und der ewig schlecht gelaunte Guru der Melancholie werden. (lacht)
MZEE.com: Was löst eine Meditation in dir aus, um dem Ziel eines glücklicheren Lebens näherzukommen?
Tua: Für mich baut es Distanz zu meinen Gefühlen und Gedanken auf. Meditation ist für mich wie ein Alarm, der ausschlägt, wenn ich eine zu starke Gefühlsregung habe. Durch dieses Training entsteht inzwischen immer öfter ein kleines Zeitfenster, in dem ich mich bewusst entscheiden kann, ob ich einem Gedankenzug folgen möchte oder ob dieser gar nichts Gutes in mir bewirkt. Meine Gefühle richten sich dank der Meditation mehr nach innen als nach außen. Wenn wir da wieder auf "Kyrie Eleison" zu sprechen kommen wollen: Da verhandele ich permanent Dinge mit mir und der Außenwelt, die mir als ungerecht erscheinen. Je älter ich werde, desto mehr richtet sich das nach innen. Abschließend würde ich sagen, dass ich durch Meditation keine neue Spiritualität gefunden habe, sondern mich selbst und das Thema differenzierter wahrnehme. Wenn wir im Christentum bleiben wollen, könnte man sagen, dass ich mehr zu den Mystikern tendieren würde, denen es eher um die Erfahrung von Gott geht als um das Konzept.
MZEE.com: Solche Sätze kenne ich auch. Wenn mir aber jemand sagt, ich solle Gott spüren oder erlebbar für mich machen, schreckt mich das vom Glaubensthema eher ab, als dass es mich einen differenzierten Umgang mit dem Thema lehrt.
Tua: Vielleicht schreckt dich ja eher der Kirchen-Slang ab? Wir verbinden diese Welt und diese Ausdrucksweisen mit so viel weirdem Scheiß. Da kann ich jeden verstehen, der lieber zu- als aufmacht. Am Ende des Tages sind das aber Metaphern und ganz weltliche Erfahrungen können auch etwas Spirituelles oder Religiöses an sich haben. Fallschirmspringen oder ähnlich extreme Momente führen bei einem zu ähnlichen selbstauflösenden Gefühlen. Man möchte sich dabei ebenso selbst spüren. Wer liebend gerne Bungee-Jumping macht oder leidenschaftlich auf Berge mit über 7 000 Höhenmetern klettert, sucht meiner Meinung nach das Gleiche, was Mystiker:innen in religiösen Texten deuten. Solche Erfahrungen beschreibt man nur nicht mit spirituellem Vokabular. Wenn du von solchen Worten abgeschreckt bist, was würdest du denn als extremste Erfahrung deines Lebens nennen?
MZEE.com: Die ergänzt sich passenderweise mit einer klassisch religiösen Erfahrung. Im November letzten Jahres bin ich auf den Toubkal (Anm. d. Red.: der höchste Berg Nordafrikas und des Hohen Atlasgebirges) geklettert. Unsere Bergführer, zwei gläubige Muslime, haben dort bei Sonnenaufgang ihr Morgengebet gesprochen – auf grob geschätzt 3 700 Metern. Ohne viel mit dem Islam zu tun zu haben, berührt mich dieser Moment bis heute. Daher verstehe ich, was du mit dem Vergleich meinst.
Tua: Geil! Ich wünschte, ich wäre dort gewesen. Wissen über den Islam brauchst du auch gar nicht, um einen solchen Moment besonders zu finden. Ich denke, es geht um den Knoten, der in deinem Kopf bei solchen Eindrücken platzt. Das ist viel spiritueller, als einem Mann mit Rauschebart zu glauben. (überlegt) Wobei ich selbst nicht genau weiß, wo dieses Bildnis von Gott überhaupt herkommt. Es ist ja eigentlich verboten, Gott abzubilden, das sind ja auch nur Verbildlichungen von Menschen, die glauben, so sähe dieses Wesen aus.
MZEE.com: Diese Bildnisse beruhen prinzipiell auch nur auf der Auslegung der Bibel. Auf jenes Thema möchte ich jetzt zu sprechen kommen. Wir haben jetzt viel über positive Aspekte der Religion gesprochen, das greift aber nicht zuletzt in der aktuellen Zeit zu kurz. Unter dem Deckmantel der Religion werden Andersgläubige bis heute verfolgt und getötet sowie ganze Kriege geführt. Eine Frage, die dabei häufig aufkommt, ist, wie ein "gütiger Gott so was zulassen kann". Wissenschaftlich gesprochen: Sie stellen die Theodizeefrage. Was würdest du dieser Frage entgegnen?
Tua: Ich glaube nicht an einen gütigen Gott. Das ist ein Anthropomorphismus, den wir Menschen geschaffen haben. Wir vermenschlichen etwas, um dem Leben einen Sinn abzuringen, während sich die Sachlage wahrscheinlich viel komplexer darstellt und es völlig egal ist, was wir als Einzelne davon halten. Darüber haben wir vorhin gesprochen: Es gibt Momente, in denen ich mir einen gütigen Gott wünschen würde, vor allem besonders in traurigen Momenten. Wenn dein Kind mit 41 Grad Fieber allein im Raum mit dem Arzt bleiben muss, wünscht sich dein Kinder-Ich doch wieder den Mann mit dem Rauschebart zurück, der alles gut gehen lässt. Das wäre für die eigene Lebensrealität viel befriedigender, weil es dem Überleben des Kindes dabei einen höheren Sinn beimisst. Das ist aber genauso unrealistisch, wie an ein fliegendes Spaghettimonster zu glauben. Denke ich also, dass es einen liebenden Gott gibt? Nein. Wünsche ich mir, dass es einen gibt? Ja. In westlichen Ländern glauben wir inzwischen an Naturwissenschaften, die die breite Bevölkerung in der Tiefe aber wiederum genauso wenig versteht – ich jedenfalls nicht. (lacht) Wir wissen nur, dass es mehr Beweise für diese Theorien gibt als für einen christlichen Gott. Was würde ich also auf die Theodizeefrage entgegnen? Dass ich sie nicht beantworten kann. Ganz einfach. Die gesamte Frage wirkt auf mich, als würde man ein psychisches Problem mathematisch lösen wollen. Man kann sie gar nicht beantworten, wenn man schon am Konzept der Güte scheitert.
MZEE.com: Um auf Kriege im Namen der Religion zurückzukommen: Müssten wir es nach Jahrhunderten der Aufklärung nicht besser wissen? Wieso sehen Menschen die wahren Beweggründe hinter den Auseinandersetzungen inzwischen nicht schon klarer?
Tua: Das Problem ist hierbei nicht die Religion, sondern die Menschen, die Religion für Macht, Geld, Einfluss, ihre Ziele oder ihren Hass instrumentalisieren. Menschen werden hinter Gruppengefügen gesammelt, wie Bauern, Christen, Muslime, Sozialdemokraten et cetera. Das hat nichts mit Transzendenz oder Religion zu tun, sondern gibt den Menschen eine Identifikationsmöglichkeit. Der Glaube ist auch ein Muster, hinter dem sich viele Menschen versammeln. Menschen glauben an gemeinsame Geschichten. Wir möchten an einen übergeordneten Sinn glauben. Unsere Wahrnehmung ist eine Interpretationsmaschine, die wir über unsere Sinnesorgane erfassen, und religiöse Geschichten verbinden uns genauso, wie es die Geschichte eines Fußballvereins schaffen kann. Das ist für viele Menschen sinnstiftend, und solange es Menschen gibt, versuchen sie, den Sinn hinter ihrer Existenz zu entdecken. Menschen sind so gestrickt, dass sie an eine kohärente Geschichte glauben wollen, auch wenn sie vielleicht nicht haltbar ist. Früher war das evolutionär bedingt überlebenswichtig: sich als ein Stamm zu identifizieren. Eine Anzahl von Menschen, die über ihre Stammesgeschichte miteinander verbunden ist. Eine Stammesgeschichte konnte auch etwas sein, an das alle gemeinsam geglaubt haben. Aus dieser Verbundenheit kann das Beste entstehen, aber eben auch das Dümmste – bis heute.
MZEE.com: Damit haben wir tief in die Vergangenheit und in die Entstehung von gemeinsamem Glauben geblickt. Zum Abschluss würde ich mit dir gern in die Zukunft schauen, wohin Religionen sich entwickeln. Ein allumfassender Blick ist dahingehend unmöglich, aber deine eigene Einschätzung würde mich interessieren: Inwieweit haben klassisch konfessionelle Religionen, beispielsweise das Christentum, ausgedient?
Tua: Ganz ehrlich? Die Statuten der Kirche sind so wack, Alter. (lacht) Weltliche Versprechen von Gemeinschaft oder selbst einem verdammten Kita-Platz können sie nicht halten, bei einer kirchlichen Trauung muss mindestens ein katholischer Trauzeuge mit dabei sein und so weiter. Das wirkt auf mich einfach nicht zukunftsgerichtet. Riten und Bräuche, die im katholischen Glauben überlebt haben, wirken auf mich wie ein spiritueller Museumsbesuch. Ich verstehe, warum das Menschen früher Kraft und Stabilität gab, und eigentlich suchen Menschen bis heute verzweifelt den Halt, den die Kirche früher versprach. Egal, ob sie Yoga machen, meditieren oder in anderen Dingen spirituellen Anklang suchen. Das sind Versuche, mit einer Welt klarzukommen, die ständig und unglaublich schnell auf den Kopf gestellt wird. Mit Ende 30 habe ich das Gefühl, dass sich alles alle zwei Jahre komplett ändert – egal, ob wir von der politischen Lage sprechen oder der simplen Idee, wie Musik vermarktet werden muss. Die Frage nach dem Sinn bleibt, die Gegebenheiten, in denen man ihn sucht, werden aber immer unsteter und verworrener. Dabei bleibt die Kirche aber ein Relikt der Vergangenheit, das Menschen eher in früheren Zeiten Halt geben konnte.
MZEE.com: In wahnsinnig langen Pandemiejahren und solch komplizierten Zeiten ist in der Theorie doch eigentlich das perfekte Umfeld geschaffen, um wieder durch Institutionen wie die Kirche Beständigkeit zu erfahren, oder?
Tua: Ja und nein. Die Kirche ist aus irgendwelchen Gründen offenbar nicht die Antwort. Vielleicht liegt es auch an den Ausdrucksweisen, von denen wir vorhin schon sprachen? Wer bin ich, um das zu beantworten? Vielleicht turnt es viele ab, wenn man von der Erlebbarkeit Gottes spricht, aber Menschen werden bei Begriffen wie "Peak Performance" oder "Selbstoptimierung" hellhörig. Schade eigentlich, denn auf der Couch liegend in dein scheiß Smartphone zu schauen, wird dich nicht näher zu dir selbst führen. Auch wenn so ein Kirchenbesuch krass sein kann, das muss es doch nicht einmal sein! Ein einfacher Spaziergang wäre schon ein Anfang. Einmal durch den Wald gehen, ohne Handy. Wie viele Menschen gibt es, die das gar nicht mehr können?! Ich lebe am Waldrand und gehe mehrmals die Woche einfach laufen. Das, was ich dabei spüre, ist für mich auch eine Form der Spiritualität, wenn man so will. Eine Form der Selbstauflösung. Das findest du nicht auf deinem Handy. Das Video, in dem mir eine solch transzendente Erfahrung via Smartphone erklärt wird, muss ich erst noch finden. (lacht) Ich glaube, ich wäre Mitte 20 aber nicht anders gewesen. Das klingt so, als würde ich technischen Fortschritt verteufeln, aber das will ich gar nicht.
MZEE.com: Das würde ich auch bei Gott nicht verteufeln wollen, denn … (unterbricht und überlegt)
Tua: Bei Gott nicht verteufeln also. Das hast du selbst bemerkt, oder? (alle lachen)
MZEE.com: Was ich sagen wollte: Ich empfinde es als großes Geschenk, Informationen so schnell und so gut verfügbar zu haben.
Tua: So schnell? Ja. So gut? Ich weiß nicht. Ich finde Suchmaschinen so schlecht wie noch nie. Bei wirklichen Fachfragen finde ich gar nichts mehr. Aufgrund von Algorithmen und Sponsorings finde ich meist Ergebnisse, die mich nicht zufriedenstellen. Informationen sind oftmals sehr schwer zu finden. Wenn ich wissen will, wie ich meinen Fahrradreifen flicke, muss ich zuerst 17 Seiten Werbung für Instagramseiten, Onlineshops und Werbeanzeigen überspringen, bevor ich eine Antwort bekomme.
MZEE.com: Du meintest ja selbst, dass sich alles im zweijährigen Turnus ändert. Was ich selbst mittlerweile mache, um das zu umgehen: Komplexere Fragen stelle ich zuerst ChatGPT, bevor ich die Antwort der KI noch mal prüfe.
Tua: Genau das mache ich auch! Als Songwriter finde ich das jetzt schon unglaublich interessant: Wenn ich vier eher poetische Zeilen schreibe, die auf den ersten Blick kausal gar nicht zusammenhängen, und ChatGPT nach einer Psychoanalyse des Autors frage, bekomme ich schon jetzt eine erstaunlich akkurate Antwort. Das sind fast schon horoskopische Antworten. Du kannst dort recht wahllose Informationen reinkippen, um überraschend treffende Antworten herauszubekommen, weil die KI Abermillionen von Erfahrungen und Daten als Referenz zur Verfügung hat. Um damit auf die eigentliche Frage zurückzukommen, wie Religion künftig aussehen kann: Ich glaube, dass in KI eine Menge Religiöses steckt. Menschen werden meiner Meinung nach starke Gefühle für so was haben und mit spirituellen Fragen an so was wie ChatGPT herantreten. Mit der Sinnsuche in der Bibel versuchten Leute auch Antworten auf die Fragen des Lebens zu geben. Wenn Menschen früher behaupteten, die Bibel spreche zu ihnen, lag das möglicherweise daran, dass sie dieses Buch interpretierten und Schlüsse über ihr Leben daraus zogen.
MZEE.com: Das heißt, wir enden damit, dass du behauptest, ChatGPT kann eine künftige Weltreligion werden? (lacht)
Tua: Eine Weltreligion ist wahrscheinlich zu viel. Es scheint mir aber der Geist unserer Zeit zu sein, sehr breite, spirituelle Fragen dort in Erfahrung bringen zu wollen. Dann gibt es noch Möglichkeiten von VR-Brillen wie solche, die Apple vor Kurzem auf den Markt brachte – wenn du die Möglichkeiten einer alternativen Realität an eine KI wie ChatGPT koppelst, ist das Szenario eines gottgleichen Orakels als App nicht mehr so weit. (grinst)
(Sven Aumiller)
(Fotos von Leonel Ruben)