Dieser Artikel wurde vor dem Tod von Akira Toriyama, dem Autor von Dragon Ball, verfasst. Unser herzliches Beileid an Familie und Freunde des weltberühmten Mangakas.
Animes haben zweifellos in den vergangenen Jahren in Deutschland und allgemein in der westlichen Welt einen unglaublichen Aufstieg erlebt. Von einem Nischenprodukt für vermeintlich nerdige Teenager haben sie sich zu einem regelrechten Verkaufsschlager gewandelt. Spätestens die Realverfilmung des Anime-Klassikers "One Piece", der lange Wochen auf Platz 1 der Netflix-Charts war, beweist, dass das Genre im Massenmarkt angekommen ist. Parallel zu diesem weltweiten Aufschwung etabliert sich Anime auch in der deutschen und internationalen HipHop-Szene als kulturelle Referenz. Immer mehr Künstler:innen weben geschickt Anime-Elemente in ihre Texte ein, wodurch nicht nur eine eigene Form des Ausdrucks entsteht, sondern auch eine kulturelle Brücke geschlagen wird. So hat Lugatti etwa "rote Augen wie ein Shinigami" und Marvin Game bezeichnet sich selbst als "Legende so wie Broly". Auf diese Weise entsteht eine vielschichtige Verbindung zwischen den Texten diverser Rapper:innen und Animes. Aber erstreckt sich das Zusammenspiel dieser auf den ersten Blick sehr verschiedenen Welten nur auf einfache Textreferenzen oder sind sie doch enger miteinander verwoben? Ein genauerer Blick auf die Geschichte zeigt faszinierende Verbindungen und überraschende Parallelen.
Was sind Animes eigentlich?
Als Animes bezeichnet man Zeichentrickfilme aus Japan. Im Ursprung bezieht sich der Begriff auf alle Arten von animierten Medien, jedoch hat er sich im Laufe der Zeit speziell für die heimisch produzierten Animationsfilme und -serien etabliert. Ihre Wurzeln reichen bis in die 1910er Jahre zurück. Die ersten richtigen Animes, welche über kurze Sequenzen hinausgehen, entstehen allerdings erst während des Zweiten Weltkrieges als Propagandafilme. Infolge der amerikanischen Besatzung nach dem Krieg werden Animes extrem stark von westlichen Comic-Zeichnern wie Walt Disney beeinflusst. Erst während der 70er Jahre emanzipieren sich die japanischen Zeichner und schaffen Serien wie "Lupin III" und "Astro Boy", welche in ihrer Heimat große Erfolge feiern. Als dann einige Jahre später Serien wie "Dragon Ball" und Filme wie "Akira" international auf der Leinwand erscheinen, schaffen es Animes, sich auf der ganzen Welt zu verbreiten.
Allerdings beginnen Animes schon viel früher, Einfluss auf die westliche Unterhaltungsbranche und Popkultur zu nehmen. So sind die Kinderklassiker "Heidi", "Wickie und die starken Männer" und "Die Biene Maja" aus den 70ern allesamt waschechte Animes. Zu dieser Zeit wird aber strikt darauf geachtet, lediglich Sendungen ins Programm aufzunehmen, die dem Ästhetikempfinden des westlichen Publikums entsprechen. Zwischen 1990 und 2000 schaffen Animes dann auch mit Serien wie "Digimon", "Pokémon" und "Sailor Moon" oder den Studio Ghibli-Klassikern "Das Schloss im Himmel" und "Mein Nachbar Totoro" den endgültigen Durchbruch in die westliche Welt und damit auch in Deutschland.
Das Besondere an Animes ist die Vielfalt an Themen und Stilen. Anders als die westlichen Animationsfilme – welche meist für Kinder konzipiert sind – bieten Animes von Psychothrillern und epischen Abenteuern bis hin zu Romcoms eine umfassende Bandbreite an. Diese Diversität ermöglicht Animes, Menschen aller Altersgruppen und Interessen anzusprechen – und somit in Japan eine deutlich größere kulturelle Bedeutung zu erreichen als es Zeichentrickfilme im Westen tun. Umgekehrt ist die Prägung durch die japanische Kultur auch ein wichtiges Merkmal von Animes. Viele Geschichten spiegeln traditionell japanische Moralvorstellungen und soziale Strukturen wider. Dieser kulturelle Einfluss verleiht dem vielleicht größten Exportgut Japans eine einzigartige Identität und fasziniert Zuschauer:innen auf der ganzen Welt. Somit sind Animes nicht nur eine Form der Unterhaltung, sondern eine kulturelle Erscheinung.
Welchen Einfluss haben Animes auf die HipHop-Kultur?
Abseits von lyrischen Referenzen binden HipHop-Artists Animes auch gerne musikalisch in ihre Werke ein. Die Liste an Anime-Soundtrack-Samples scheint quasi unendlich und reicht von J. Cole, der auf "4 Your Eyez Only" einen Song aus "Lupin III" samplet, bis hin zu Pop Smoke, der auf "Welcome To The Party" über einen verzerrten und rückwärts gespielten Schnipsel aus dem Main Theme des Animes "Higurashi no Naku Koro ni" rappt. Doch auch in Deutschland lassen es sich die Produzent:innen nicht nehmen, sich an den japanischen Soundtracks zu bedienen. So basiert beispielsweise der Beat zum Intro von Celo & Abdis "Hinterhofjargon" auf einem Stück aus "Fist of the North Star".
Der wohl offensichtlichste Schnittpunkt zwischen Anime und HipHop, der sich nicht nur auf die Musik bezieht, ist Lo-Fi-HipHop. Meist dient zur optischen Untermalung dieser Easy Listening Boom bap-Beats ein kurzer Loop im Animestyle. Insgesamt zieht sich die visuelle Ästhetik der japanischen Trickfilme vollständig durch das Subgenre. Ein Beispiel dafür ist das "Lofi Girl" auf dem vielleicht ersten und mittlerweile größten Lo-Fi-HipHop-Kanal "Lofi Girl" – ehemals "Chilled Cow" – mit mittlerweile fast 14 Millionen Abonnent:innen. In den ersten Streams und Videos auf dem Kanal im Jahr 2015 diente eine kurze geloopte Sequenz aus dem Film "Stimme des Herzens – Whisper of the Heart" von Studio Ghibli als Begleitung. Als der Kanal dann wegen Copyright-Verletzungen gesperrt wurde, haben die Macher:innen das "Lofi Girl" entworfen, welches nun weltweit bekannt ist. Doch auch musikalisch hat Japan einen starken Einfluss auf das Subgenre. Entsprechend sind hier nicht wie sonst so oft im internationalen HipHop nur US-amerikanische Namen vertreten. Auch Japaner:innen wie beispielsweise Nujabes, der trotz seines frühen Todes 2010 als Japans vielleicht größter Producer gilt und indirekt Mitbegründer des Genres ist, geben hier den Ton an. Er produzierte sogar den Soundtrack zur Anime-Serie "Samurai Champloo".
Animes feiern ihren internationalen Durchbruch, wie bereits erwähnt, in den 90ern. Somit wachsen auch viele aktuelle Rapper:innen mit Serien wie "Naruto" oder "Dragon Ball" auf und werden von diesen geprägt. Animes üben teilweise auch einen großen Einfluss auf andere Aspekte verschiedener Rap-Werke aus. Diese Einflüsse zeigen sich besonders deutlich in der SoundCloud-Rap-Generation. Speziell Lil Uzi Vert scheint ein regelrechter Otaku – also ein sehr leidenschaftlicher Anime-Fan – zu sein. Bereits seit Beginn seiner Karriere wird seine Liebe zu japanischen Zeichentrickfilmen sichtbar. So verwendet er als Profilbild auf SoundCloud ein Bild von Tsunade, einer Figur aus "Naruto". Zudem besteht das Musikvideo von "He Did It" aus dem Jahr 2015 ausschließlich aus Kampfszenen verschiedener Animes wie "Full Metal Alchemist", "Code Geass" oder "One Piece". Auch auf einigen Covern präsentiert er sich selbst als Anime-Figur und sogar der Trailer zu seinem aktuellen Werk "Pink Tape" enthält Anime-Sequenzen. Ein weiterer Otaku aus den Reihen der SoundCloud-Rapper:innen war Juice WRLD. Dieser war zu Lebzeiten als regelrechter Anime-Nerd bekannt. Obendrein soll er gemeinsam mit Kunst- und Designlegende Takashi Murakami einen gemeinsamen Anime geplant haben. Leider konnte dieser durch das tragische Ableben von Juice WRLD im 2019 nie produziert werden.
Eines der einflussreichsten Anime-Werke ist "Akira" von 1991. Der Film gilt als der Türöffner für das japanische Filmgenre, um auf dem westlichen Markt anzukommen. Zwar spielt "Akira" in den Vereinigten Staaten nur knapp eine Million Dollar ein, jedoch beweist der Film, dass animierte Filme auch für ein erwachsenes Publikum ansprechend sein können. Er bekam einen festen Platz in der westlichen Popkultur – und fand auch seinen Weg in die HipHop-Welt. Ganz deutlich zeigt sich dies im Video zum Superhit "Stronger" von Kanye West und Daft Punk aus dem Jahr 2010. Im Video sind ganze Sequenzen aus "Akira" nachgespielt. So findet sich Kanye beispielsweise in einer ähnlichen futuristischen, medizinischen Maschine wieder oder erledigt ein ganzes Team schwer bewaffneter Soldaten mit einer Handgeste. Der Regisseur des Videos, Hype Williams, sagte dazu: "He was always inspired by 'Akira'. There was a point where we really dove in and wound up filming parts of that movie for the video, but we decided to back off of it and do something a little more abstract for the final version." Kanye selbst bezeichnet den Film in einem Tweet von 2018 als seinen größten künstlerischen Einfluss. In der Handlung des Films geht es um einen Jungen namens Tetsuo, der übernatürliche Kräfte erhält, dann aber dem Größenwahn verfällt und nur noch auf blinde Zerstörung aus ist.
Und beeinflusst HipHop auch die Anime-Kultur?
Die Verbindung zwischen HipHop und Animes ist keinesfalls nur eine Einbahnstraße. In einigen Animes werden sogar ganze Charaktere dem Genre gewidmet. Beispielsweise ist die Figur "Killer B" aus Naruto ein leidenschaftlicher Freestyler, dessen Kampfstil stark an Breakdance angelehnt ist. Des Weiteren ist sein Name bereits ein Querverweis auf den Wu-Tang Clan. In "Afro Samurai" aus dem Jahr 2007 wird die Geschichte eines Schwarzen Samurais erzählt, der den Mord an seinem Vater rächen will. Das Interessante ist hierbei der Soundtrack, für den niemand Geringeres als RZA vom Wu-Tang Clan verantwortlich ist. Auf der offiziellen Sampler-CD zur Serie gibt es sogar Songs von HipHop-Veteranen wie Talib Kweli, Q-Tip und Big Daddy Kane.
Kaum ein Anime steht allerdings so für das Zusammenspiel von HipHop und japanischer Comic-Kultur wie das bereits erwähnte "Samurai Champloo" aus dem Jahr 2004. Zum einen spielt auch hier der Soundtrack eine große Rolle. So stammt der Titelsong "Battlecry" aus der Feder von Rapper Shing02 und der japanischen Producer-Legende Nujabes – welcher, wie bereits erwähnt, einer der Urväter des sehr Anime-verbundenen Lo-Fi-HipHop war. Zum anderen sind es auch Teile in der Handlung selbst, die Referenzen an die HipHop-Kultur enthalten. Innerhalb des Verlaufs der Serie tauchen HipHop-Elemente wie Graffiti, Breakdance und sogar Rapbattles auf. Der Macher der Serie, Shin’ichirō Watanabe, war seine ganze Karriere über von amerikanischer Blues- und Jazzmusik begeistert. Das zeigt sich vor allem in der Musikauswahl seiner vorherigen Produktion "Cowboy Bebop". Als dann in den 90ern HipHop weltweit populärer wird, lässt sich Watanabe auch davon beeinflussen. Er selbst sagt dazu: "The concept of hip-hop influenced me rather than the music itself. For example, it's sampling. This art form turns past music into new and edgy. […] It brought me to create an opposite character who boasts like a rapper with a microphone, and it should be like a samurai." Darüber hinaus wird er in dieser Produktion die Musik noch weiter in den Vordergrund stellen. Er erläutert: "Normally, film music is just a supporting role, a way to help the image. […] I wanted the music to be more prominent, so that the music and the visuals would compete in a 50:50 ratio […]." So bekommt HipHop-Musik in "Samurai Champloo" einen größeren Platz als in jeder anderen Anime-Serie und trägt damit zu einer engeren Verbindung der beiden Welten bei. Bereits der Titel weist auf diese Verbindung hin, denn das Wort "Champloo" bedeutet in der Ryūkyū-Sprache – einer Sprache, die auf den Südinseln Japans gesprochen wird – etwa so viel wie "Vermischen" und leitet sich vom Begriff "Champurū bunka" ab. Dieser würde im Deutschen mit "Kultur-Mix" oder "Schmelztiegel" übersetzt werden.
Aber woher kommen die genannten Verbindung denn nun?
Auf den ersten Blick haben HipHop-Kultur und Animes nichts miteinander gemein. Schaut man jedoch genauer hin, findet man durchaus einige Gemeinsamkeiten. Beide waren zu Beginn – zumindest in Europa – lediglich Randerscheinungen, schafften es dann jedoch in den 90ern, die internationale Bühne zu betreten, und nehmen seitdem langsam ihren eigenen Platz in der Popkultur ein. Dadurch prägen sie gemeinsam ganze Generationen und beeinflussen sich gegenseitig. Beispielsweise erzählt Shin’ichirō Watanabe: "With Samurai Champloo, it wasn’t that I had the story in mind and then added hip-hop to it […]. When I came up with the character of Mugen, I heard hip-hop at the same time, and I thought he was going to be a rapper samurai."
Allerdings besteht zwischen der HipHop-Kultur und Animes nicht nur eine zufällige zeitliche Korrelation, sondern auch eine gewisse Anziehungskraft. Diese fußt auf verschiedenen Dingen. Beispielsweise gleichen sich die erzählten Geschichten in Rapsongs und sogenannten Shonen-Animes – dem erfolgreichsten Subgenre in der Anime-Welt. Meist handeln diese von Protagonist:innen, welche zu Beginn der Story – oft ohne ihr Zutun – von ihren Mitmenschen als Störenfriede oder gar Ausgestoßene wahrgenommen werden. Im Verlauf der Handlung stellen sie sich dann aber dem Kampf gegen eine:n Antagonistin:Antagonisten und entdecken dabei ungeahnte, bereits in ihnen schlummernde Kräfte, welche sie am Ende zu Held:innen machen. Hier lässt sich eine klare Parallele zu den im HipHop oft erzählten Underdog-Storys erkennen. Diese Parallele sieht auch William H. Bridges, IV, Professor für Japanisch an der University of Rochester. Er erklärt: "Keep in mind that the generation of rappers who came of age with Anime were also coming of age in an era when austerity politics, the fraying of social safety nets, and disinvestment in the public good collided with the legacies and ongoing realities of racial injustice." Weiter führt er aus: "For these rappers, Anime like 'Akira', 'Dragon Ball Z', 'Naruto', and 'Sailor Moon' not only ask W.E.B. DuBois's question — how does it feel to be a problem? — they also answer this question with extraordinary displays of power, bravado, courage, and tenacity in the face of seemingly insurmountable social antagonism." Zusätzlich finden viele der Shonen-Animes in Kampftunier-Settings statt, in denen die einzelnen Protagonist:innen mit ihren jeweiligen speziellen Fähigkeiten und Superkräften ihre Gegner:innen besiegen müssen. Insgesamt wird in diesen Animes ein starker Konkurrenzkampf reproduziert, wie er auch im HipHop stattfindet – beispielsweise im Battlerap. In Bezug auf Animes erzählt RZA vom Wu-Tang Clan: "I feel my saga is similar to his: For an artist in the hip-hop world, the idea of being the No. 1 producer, the No. 1 rapper, the No. 1 kid in the neighborhood is very important." Er geht sogar noch weiter und schreibt in seinem Buch "The Tao Of Wu": "To me, 'Dragon Ball Z' also represents the journey of the Black man in America […] Son Goku has superpowers but doesn’t realize it."
Eine der Spitzen des Zusammenspiels von HipHop-Kultur und Animes ist die US-amerikanische Serienadaption des Comics "The Boondocks" von Aaron McGruder aus dem Jahr 2005. Dieser behandelt in Form von extrem spitzer Satire die Probleme, welche die Schwarze Community in Amerika durchleben muss. Den Soundtrack dazu lieferten Rap-Größen wie Ice Cube und Snoop Dogg. Die Serie ist im Grunde kein Anime, übernimmt aber extrem viele stilistische Elemente aus den japanischen Animationsfilmen und ist darüber hinaus eine der ersten Animationsserien, die in japanischer Sprache synchronisiert wurden. Seit 2016 existiert sogar das D'ART Shtajio, das erste amerikanische Anime-Studio in Japan und gleichzeitig das erste dortige "Black-owned Anime studio". Die Verschmelzung von HipHop und Animes zeigt nicht nur die Vielseitigkeit der Popkultur, sondern auch ihre Fähigkeit, unterschiedliche Ausdrucksformen zu vereinen und eine kreative Fusion zu schaffen.
(Nico Maturo)
(Grafik von Daniel Fersch)