Beim Schlendern durch Metropolen, aber auch durch kleinere Orte fallen einem schnell die verschiedenen kulturellen Zentren ins Auge. Veranstaltungsorte und Kreativ-Fabriken gehören heute zum allgemeinen Stadtbild irgendwie dazu – und sind kaum mehr wegzudenken. Hinter diesen Fassaden verbirgt sich jedoch ein ewig währender Hustle, um diese Räume weiterhin zu erhalten. Und auch wenn Rap als reines Produkt digital hervorragend existieren kann, sind es doch die vielfältigen kulturellen Räume, die das Ausleben und Kennenlernen der subkulturellen Elemente erst richtig möglich und erfahrbar machen. Mittlerweile sind einige Künstler:innen hierzulande selbst aktiv damit beschäftigt, kulturelle Zentren zu erhalten und zu schaffen. Auffällig ist dabei, dass es meist auch darum geht, soziale Problematiken zu beachten und Veranstaltungen eben nicht mit riesigen finanziellen Hürden zu versehen. Natürlich geht es bei dem Ganzen nicht um die große Erhaltung von Blockpartys der 70er in New York oder kostenlosen Jams in Jugendzentren der 90er Jahre in Deutschland. Aber häufig scheinen Teile des einstigen kulturell-integrativen Geistes an diesen Orten weiterzuleben. Davon abgesehen darf Rap selbstverständlich auch in Arenen in Kombination mit stetig wachsenden Ticketpreisen stattfinden. Es ist jedoch für den Erhalt der HipHop-Kultur wichtig, dass diese Hallen nicht die einzigen Orte werden, an denen Rap-Veranstaltungen zelebriert werden können. Das Besondere an den kleineren Veranstaltungsorten ist außerdem, dass diese Räume sich ganz unterschiedlich gestalten lassen und längst nicht nur als einfache Bühnen oder klassische Eventlocations funktionieren.
Im Folgenden stellt unser Redakteur Alec vier besondere Räume für die HipHop-Kultur vor, die ihm in den letzten Jahren ins Auge gesprungen sind.
gutistgut.
Wer sich im Jahr 2024 auf die Streaming-Seiten von Das Bo verirrt, dürfte überrascht sein, über welches Label seine letzten Singles und EPs veröffentlicht wurden: gutistgut.records. Hinter dem kryptischen beziehungsweise nichtssagenden Namen steckt jedoch wesentlich mehr als das aktuelle Label des Hamburger Urgesteins. Im August 2020 gründete der Rapper gemeinsam mit Melanie Brandau und Erkan Alkasi – besser bekannt als DJ Plazebo – die gutistgut. GmbH. Auf der Website der Gesellschaft wird schnell erkennbar, dass es Bo und Co. längst nicht nur um eine Independent-Lösung geht, die eigene Musik zu veröffentlichen: "gutistgut. ist drei Personen mit großem Netzwerk zur Umsetzung von Projekten aller Art."
In rund drei Jahren hat das kleine Team bereits in verschiedenen Konstellationen mit unterschiedlichen Partnerorganisationen zusammengearbeitet und so auch neue Räume für Kultur und -arbeit erschlossen. Zu den Partner:innen zählt dabei zum Beispiel Greenpeace. Für die Umweltorganisation wurde von gutistgut. ein Klimaschutzkonzert organisiert, zu dem Das Bo mit "Urlaub am Mare" 2020 auch gleich den passenden Song veröffentlichte. Für das Miniatur Wunderland und einige andere Partner:innen gestaltet das Team außerdem passende Playlisten gefüllt mit Rap-Songs – unter anderen von Biggie, Deichkind und Eve.
gutistgut. betreut neben Das Bo und DJ Plazebo noch weitere Acts aus dem eigenen Umfeld. Auch bei dem Rapper Schmiddlfinga, den Punkern der Mike Ständer Band und dem Fünf Sterne Soundsystem, zu dem neben Bo und Plazebo auch Luis Baltes und DJ Coolmann gehören, ist die Firma für das Booking und Management zuständig. Nicht nur, aber insbesondere diese Acts sind seit Beginn der Pandemie immer wieder Teil von gutistgut.-Veranstaltungen. Hierzu zählen Ein-Tages-Festivals, Lesungen und einzelne Konzerte, die in verschiedensten Locations stattfanden. In der Regel in und um Hamburg herum, wie zum Beispiel dem Knust, einem legendären Club, der – damals noch unter einem anderen Namen und an einem anderen Ort – bereits seit 1966 existiert.
2023 fanden die Veranstaltungen jedoch primär in der eigenen gutistgut.villa in Hamburg statt. Die Location besteht aus gleich mehreren kleineren Räumen, welche sich für Lesungen und Ausstellungen eignen, und einem Hinterhof beziehungsweise Garten für Konzerte. Hier fanden bereits die unterschiedlichsten Künstler:innen zusammen, um unter dem Oberbegriff "Wort" verschiedene kulturelle Elemente zusammenfließen zu lassen oder bei der Festival-Reihe "einfach machen" für gute Stimmung zu sorgen. Zu den Line-Ups zählten unter anderen Go Banyo, Anna Jäger, Dominik Bloh, Sascha "Ferris MC" Reimann, Luksan Wunder, UWE und selbstverständlich Der Tobi und Das Bo. Nahezu alle Veranstaltungen von gutistgut. konnten dabei auf freiwilliger Spendenbasis oder nach Kauf eines verhältnismäßig günstigen Tickets besucht werden.
Nachtrag: Zu Beginn des Jahres 2024 steht leider fest, dass gutistgut. die Location nicht länger halten wird. In ihrem Newsletter verabschieden sich Bo und Co. von der Villa und halten fest, wie wichtig solche "Räume" sind: "Wir hoffen jetzt, auch ohne einen eigenen Ort, weiter dieses Netzwerk aufrechterhalten zu können und werden die ein oder andere Veranstaltung machen […]. Denn ein Ort ist nur ein Ort, wenn man ein Feeling will müssen da Menschen rein."
Die Komplette Palette
Einer, der zu einer ähnlichen Rap-Generation wie Das Bo gehört, ist Flowin IMMO. Doch nicht nur alterstechnisch zeichnen sich bei den beiden Parallelen ab. Beide eint ihre seit jeher bestehende Außenwahrnehmung als "schräge Vögel". Nachdem IMMO in den 2000ern unter anderem mehrere Jahre in Berlin lebte, fand er zurück zu seinem Heimathafen in Bremen und eröffnete 2016 dort – nach einigen neuen Releases – sein kulturelles Herzstück: Die Komplette Palette.
Seitdem gibt es direkt an der Weser in jedem Sommer einen weiteren Pilgerort für Kulturfans, welcher sich aus Open Air-Bühne, Strandbar, Sitzmöglichkeiten sowie künstlerischen Installationen zusammensetzt, die dem Namen entsprechend fast alle aus Paletten bestehen. Das große Gelände kann der Rapper verständlicherweise nicht allein leiten, bespielen und mit einem Veranstaltungsprogramm versehen. Dementsprechend unterstützt ihn eine Vielzahl ehrenamtlicher Helfer:innen, um das Projekt am Leben zu erhalten. Seit der Eröffnung engagierten sich bereits über 200 Personen für Die Komplette Palette und das Team freut sich auch weiterhin über jede helfende Hand. Wer Lust hat, das Gelände zu erkunden, ist angehalten, die sogenannten "Spielregeln" einzuhalten. Diese sind dabei wesentlich informeller formuliert als bei klassischen Veranstaltungslocations und dienen dem Zweck, allen Menschen auf dem Gelände einen entspannten und sicheren Aufenthalt zu gewährleisten.
Ähnlich wie bei der gutistgut.villa kann das Gelände prinzipiell mit einer kleinen Spende betreten und genutzt werden. Für bestimmte Veranstaltungen müssen jedoch Tickets erworben werden. Dabei achtet das Team rund um IMMO auf ein möglichst faires Ticketangebot, sodass Menschen in fast allen finanziellen Situationen der Zutritt gewährt werden kann. In der abgelaufenen Saison 2023 kosteten die Karten zwischen 15 und 1.000 Euro – letztere für "Crypto"-Investor:innen und andere großzügige Spender:innen. Zu beachten ist dabei, dass Die Komplette Palette im Vergleich zu vielen anderen Locations keinerlei öffentliche Förderungen erhält und bewusst auf Sponsoren verzichtet, wodurch ein erhöhter Ticketpreis durchaus nachvollziehbar wäre.
Dass diese Entscheidung auch ein Spiel mit der eigenen Existenz ist, zeigte sich im vergangenen Sommer. Aufgrund eher schlechter Witterungsverhältnisse war Die Komplette Palette nicht wie üblich besucht und es fehlten Einnahmen im fünfstelligen Bereich. Um das Bestehen des Veranstaltungsortes zu gewährleisten, entstand der Hashtag #RettediePalette inklusive eines neuen Songs von Flowin IMMO, welcher die problematische Situation erläutert. Ende September erfolgte dann die frohe Botschaft: Die benötigten 19.000 Euro konnten dank Spenden für Die Komplette Palette zusammengebracht werden. In einer Videobotschaft bedankte sich IMMO bei allen Spender:innen und Helfer:innen und erinnerte daran, dass es zwingend erforderlich ist, sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein und diese zu reflektieren. Konkret ging es ihm dabei um das Bewusstsein dafür, dass Die Komplette Palette nur innerhalb einer geschützten Blase existieren könne, die in dieser Form leider nicht an allen Orten der Welt vorhanden sei. Es gebe nicht überall die einfache Möglichkeit, derart viele Räume für Kultur zu schaffen wie zum Beispiel in Europa. In vielen Teilen der Welt müssten diese Orte zum Teil hart erkämpft werden. Parallel verkämen in Deutschland ungenutzte Flächen schnell oder gerieten in Vergessenheit und würden somit nicht für soziale oder kulturelle Zwecke verwendet, obwohl die Möglichkeit bestünde. Umso wichtiger sei es, Projekte wie Die Komplette Palette zu erhalten.
FOU FAF-Studio
Es gilt also, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln und Räume aufzubauen, an denen die Kultur erhalten bleiben kann. Im Optimalfall können diese Räume und damit die kulturellen Angebote möglichst allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglich gemacht und so bestmöglich genutzt werden. Das passiert bisher längst nicht nur in Norddeutschland, sondern zum Beispiel auch im Süden.
Im Falle des Rappers BICOOOOOOOO geht es dabei allerdings nicht um einen Veranstaltungsort, sondern um den Aufbau eines Musikstudios. 2020 errichtete sich der Rapper und Producer ein eigenes Studio in Schweinfurt. Unter dem Namen "FOU FAF" finden dort seitdem immer wieder Live- und Produktionssessions mit zahlreichen Künstler:innen aus dem deutschsprachigen Raum statt. Im FOU FAF-Studio wird dabei bewusst darauf verzichtet, klassische Studiosessions gegen Bezahlung anzubieten. Die Kreativität soll mit den verschiedenen Künstler:innen stattdessen auf organische Weise entstehen. Das Projekt ist damit von der HipHop-Community für die HipHop-Community, ohne primär wirtschaftliche Ziele zu verfolgen.
Zu den entstandenen Livesessions und neuen Songs werden in der Regel die A cappellas, Beats und Videoaufnahmen öffentlich zur Verfügung gestellt, um diese für die weitere kulturelle Nutzung – insbesondere Remixe – zugänglich zu machen. Selbst die BPM-Anzahl und Lyrics der Tracks sind unter den zugehörigen YouTube-Videos üblicherweise zu finden. Neben den bisherigen Livesessions, unter anderem mit Galv und Lupara Versato, sollen in dem Studio in Zukunft auch ganze Beatsets entstehen, bei denen Producer-Größen wie Farhot, Figub Brazlevič oder Classic der Dicke mitwirken sollen.
365 Fe*male MCs, 365XX und 365 Fe*male Night
Dass Räume, insbesondere um Kultur sichtbar zu machen, auch digital entstehen können, zeigt ein Projekt wie 365 Fe*male MCs. Ende 2018 wurde es von Lina Burghausen als Blog ins Leben gerufen und stellte seitdem über 1 400 Fe*male MCs vor. Dabei wollte sie ursprünglich nur 365 MCs innerhalb eines Jahres vorstellen. Mittlerweile arbeitet an der zugehörigen Website jedoch ein ganzes Redaktionsteam, um einen riesigen Fundus an Künstler:innen zu archivieren und darzustellen. Wer Lust hat, daran mitzuwirken, kann sowohl Teil der Illustrator:innen und Redakteur:innen werden oder das Projekt mit einer finanziellen Spende unterstützen. Die porträtierten MCs stammen dabei aus den verschiedensten Regionen der Welt und über 45 Nationen.
Daran anknüpfend gründete Lina Burghausen 2020 das erste "all fe:male HipHop-Label" Europas, "365XX", und bietet damit mittlerweile einer ganzen Reihe von Künstlerinnen eine Plattform, um ihre Musik zu veröffentlichen, zum Beispiel SATARII, jolle oder Mariybu. So entstanden bereits mehrere Alben und EPs sowie ein gemeinsamer Labelsampler, der die musikalische Vielfalt der Musikerinnen – auch in haptischer Form auf Vinyl – abbildet.
All diese Arbeit findet seit 2022 auch wieder einen konkreten Weg in die nicht-digitalen Räume. Abseits der Konzerte, Gigs und Touren der bei 365XX gesignten Musikerinnen wurde die Partyreihe "365 Fe*male Night" ins Leben gerufen. Diese soll zum einen die Sichtbarkeit von FLINTA* Artists erhöhen und zum anderen einen Safe Space für alle Besucher:innen abbilden – und stellt sich klar gegen jegliche Form von diskriminierenden Verhaltensweisen. Die Partyreihe findet in Kooperation mit dem Knust Hamburg statt. Die Tickets können dementsprechend günstig angeboten werden und kosten in der Regel zwischen 10 und 20 Euro. Auch für 2024 ist dieser "Raum" bereits reserviert, dort können Fans dann gemeinsam mit Lia Şahin & Friends feiern. Die Hamburger Beatboxerin, Produzentin und Rapperin bietet mit ihrer "& Friends"-Reihe schon seit einiger Zeit anderen Rap-Kolleg:innen einen Raum, um ihre Werke zu präsentieren. Abseits dessen war Lia lange Teil des Workshop-Teams des Rap for Refugees e.V. und bietet auch weiterhin Workshops insbesondere für Kids und Jugendliche an.
Zusammenfassend gilt es, die angesprochenen Räume zu erhalten und zu schützen, um das nicht-digitale Fortbestehen der HipHop-Kultur gewährleisten zu können. Denn es ist für die Erhaltung dieser Kultur wertvoll, wenn die zugehörigen Locations von Rap-Akteur:innen organisiert und betrieben werden und nicht von riesigen – oft in der Kritik stehenden – Sponsoren und Marken wie Red Bull. Hierzu braucht es allerdings eine aktive Szene und Hörer:innenschaft, die bereit ist, diese Räume weiterhin zu unterstützen. Andernfalls drohen viele dieser kleinen kulturellen Zentren auszusterben.
(Alec Weber)
(Titelbild von Daniel Fersch)