Mitte der 1980er Jahre flutet die HipHop-Welle das "Tal der Ahnungslosen" und rollt wie ein kultureller Wholetrain über das heutige Ostdeutschland: Die DDR kommt zum ersten Mal in Berührung mit dem HipHop-Fieber. Denn was viele bis heute nicht auf dem Schirm haben, prägt die Jugend in den letzten Jahren der DDR maßgeblich: Als letzte große Subkultur kommt HipHop über den Eisernen Vorhang hinweg in den Osten und animiert einige tausend Jugendliche zum Nachahmen. Doch welche Einflüsse prägen die Szene? Wie organisieren sich die Jugendlichen und wie reagiert die Politik darauf? Ein Einblick in eine Szene zwischen Repression und Aufbruch.
Aus den Kinosälen in die Kinderzimmer der Republik
Der 14. Juni 1985 ist wohl vergleichbar mit einem Kometeneinschlag für die Jugend der damaligen DDR. Der Anfang der 80er Jahre in den USA von Harry Belafonte produzierte Film "Beat Street", der das Aufstreben der HipHop-Bewegung innerhalb der Bronx porträtiert, feiert Premiere. Tausende von Jugendlichen stürmen die Kinos der Republik und schauen den Film bis zu 70 Mal, wie Der Spiegel berichtet. Es brodelt in den ostdeutschen Kinderzimmern. Unter den Jugendlichen sind auch Alexander "TJ Big Blaster Electric Boogie" Morawitz, Olaf "Master K." Kretschmann und Marco "M.A.C." Birkner, die sich später zu wahren HipHop-Pionieren ihrer Generation entwickeln sollen. Aber warum lässt die Regierung, die die Veröffentlichung westlicher Medien ansonsten stark einschränkt, den Film unzensiert laufen? Mutmaßlich gibt es hierfür zwei Gründe: Zum einen hat die SED-Führung aus dem Umgang mit vorherigen Subkulturen wie dem Punk oder der Hippie-Bewegung gelernt, dass Repression kein wirksames Mittel zur Eindämmung neuer Strömungen ist. Zum anderen sieht sie im HipHop eine tiefgreifende Kapitalismuskritik, da der Film das erste Mal die prekären Lebensumstände in der Bronx zeigt. Diese Bilder stehen konträr zu der westlichen Propaganda, die behauptet, dass es den Menschen im Kapitalismus, verglichen zu der Bevölkerung in sozialistischen Ländern, besser gehe.
Fußfassen im Dschungel der Bürokratie
Ein Leitmotiv seit den Anfängen von HipHop ist der barrierefreie, fast klassenlose Zugang zu den Mitteln, die es braucht, um einzusteigen: Raps und ein paar Beats. Um in der DDR allerdings auftreten zu können, bedarf es einer weiteren Qualifikation, die jedoch jede:r DDR-Bürger:in mit Beantragung der Sondergenehmigung "Zulassung für berufliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltungskunst" erhalten kann. Auf diesem Weg ist es also für jede:n möglich, sich offiziell als Künstler:in eintragen zu lassen und auf Konzerten bis zu 400 Mark pro Auftritt zu verdienen. Die "Registrierkarte für Tanzkapellen" holt sich 1989 auch die zwei Jahre zuvor formierte HipHop-Gruppe Electric Beat Crew bestehend aus dem Produzenten M.A.C. (Anm. d. Red.: Manipulator and Creator) und dem MC Master K. Geboren 1969 schließen sich die beiden Schüler aus dem Umland Berlins im Winter 1987 zur Electric Beat Crew, kurz EBC, zusammen. Im Frühjahr 1988 folgt dann auch schon der erste Auftritt der EBC in der Berliner Friedrichstraße. Sie haben weder Promotion noch eine staatliche Genehmigung, aber treten zum Testen eigener Skills vor 13 Zuschauer:innen auf. Im November desselben Jahres werden sie zu ihrer eigenen Überraschung und der einiger DDR-Funktionäre als erste HipHop-Formation ins TV-Jugendmagazin "Klik" eingeladen, um dort einige ihrer bisher produzierten Songs zu performen. Mit dem daraus resultierenden Durchbruch folgt dann alles Schlag auf Schlag und sie werden vom staatlichen Plattenlabels AMIGA unter Vertrag genommen. 10 000 Platten können der Planwirtschaft aus den Rippen geleiert und in Auftrag gegeben werden. Einzige Bedingung für den Deal ist, dass die Produktion der Songs kein Geld kosten darf, weshalb auf der Platte unter "recorded at" neben "Berliner Rundfunk Saal 4" auch das "MB-Homerecording-Studio Schulzendorf", also Marco Birkners Kleiderschrank, aufgeführt ist. Die Künstler selbst erhalten lediglich eine Einmalzahlung von 850 Mark – die Quartettsingle bestehend aus den Tracks "Money", "Come Back", "Go Go" und dem Hit "Here We Come" wird jedoch ein voller Erfolg. Der Grund dafür liegt in der 60/40-Regel der Regierung. Die besagt, dass auf jeder öffentlichen Veranstaltung 60 Prozent der laufenden Tracks von Künstler:innen aus der DDR stammen sollen. Die englischsprachige Platte eignet sich aufgrund des internationalen und unter DDR-Künstler:innen einzigartigen Soundbilds hervorragend, um diese Regelung zu umgehen. Die EBC gehört zwar zu den 60 Prozent, ihre Musik klingt jedoch wie die der restlichen 40 Prozent. Bereits 1990 wird in Eigenregie ein weiteres Album produziert, welches ebenfalls von AMIGA vertrieben wird. Im Handel bleibt die Vinyl aufgrund der unruhigen politischen Lage nach dem Mauerfall nur kurz und ist somit bis heute eine wahre Rarität. Nach zwei inoffiziellen Single-Veröffentlichungen 1996 und 98 wird es dann allerdings ruhig um die einstigen Pioniere.
Der Weg in die Selbstorganisation
Neben der populären EBC formieren sich innerhalb der vergleichsweise kleinen Szene zeitgleich weitere Gruppierungen, welche die EBC jedoch kritisieren: "Der wahre HipHop hat sich aber irgendwo ganz anders abgespielt", heißt es in der 2006 erschienenen Dokumentation "Hip Hop in der DDR" in Bezug auf die Berliner Rapper. Der Vorwurf: kommerzieller Ausverkauf. Gemeint mit "irgendwo ganz anders" ist die Stadt Radebeul unweit von Dresden, genauer die Tonhalle der Stadt. Hier finden 1988 und 1989 die ersten und einzigen beiden Rap-Contests der DDR-Geschichte statt – organisiert von Alexander Morawitz. Der heutige Orchesterkomponist und Chorleiter ist Initiator der beiden Contests und nimmt als TJ Big Blaster ebenfalls an ihnen teil. Er galt als bester Rapper und Godfather of DDR-HipHop. Das "TJ" steht hierbei für "Tape Jockey", da mangels ausreichender Vinyls mit Tapes aufgelegt wird. Über die seit 1987 ausgestrahlte Radiosendung "Vibrationen" des Jugendsenders DT64 wird Werbung für den Contest gemacht, sodass sich um die 2 500 HipHop-Begeisterte im beschaulichen Radebeul zusammenfinden – der Subkultur, Freiheit und Freude wegen.
Der Andrang ist größer als erwartet, denn der Innenraum der Halle fasst lediglich 1 000 Personen. Dementsprechend befinden sich während der Veranstaltung weitere 1 500 zumeist junge Menschen um die Halle herum. Es wird gerappt, gefreestylet und gebreakt, bis klar wird, dass sich diese Veranstaltung wiederholen muss. So ist die Lösung für das nächste Jahr, das Mini-Festival auf zwei Tage, den 28. und 29. Juli 1989, zu verlängern.
Klarer Publikumsliebling beim 1. Radebeuler Rap-Contest mit ganzen fünf Zugaben sind die Jungs um die Dresdner Three M-Men, deren Mitglieder DynaMike, MCM und Snowman sich ein Jahr zuvor zusammentaten. Um beim zweiten Contest noch einen draufzusetzen, holen sie 1989 mit Black J eine der ersten deutschen Rapperinnen auf die Bühne.
An den amerikanischen Vorbildern orientiert sich die Szene zu diesem Zeitpunkt noch stark, sodass die Hosen in der Regel baggy und die Texte auf Englisch sind. Selbst die drei ikonischen Adidas-Streifen werden aus Stoff-Fetzen zusammengenäht, da westliche Modemarken in der DDR nicht verkauft werden dürfen. So stark schlagen junge HipHop-Herzen, um den amerikanischen Idolen möglichst authentisch nachzueifern.
Was bleibt übrig von den Platten aus der Platte?
In den letzten Zügen der DDR darf der Künstler TJ Big Blaster Electric Boogie im Rahmen der Veranstaltung "Jugend im Palast" sogar als Vorband für eine der größten Rockbands der DDR, Die Puhdys, spielen. Dass es Rap nun allerdings auch auf offizielle Veranstaltungen schafft, ist nicht neu, sondern schließt an die 1987 ausgetragene 750 Jahre Berlin-Feier an. Bei dieser dürfen Breakdancer bereits als "akrobatische Volkstänzer" ganz vorne mit auftreten.
Mit dem Ende der DDR orientieren sich viele der Künstler:innen neu und es dauert wieder eine Weile, bis sich der Osten Deutschlands musikalisch neu aufstellt. Der Song "Grauer Beton" des Chemnitzer Künstlers Trettmann erinnert mit Zeilen wie "Und ab und zu hielt gleich dort, wo wir wohn'n, 'n ganzer LKW voll mit bulgarischen Melon'n" an längst vergangene Zeiten. Weiter heißt es im Text: "Kids aus Übersee war'n unsere Ikon'n und weiße Sneaker mehr Wert als Million'n." Die Auseinandersetzung mit der eigenen DDR- und Wende-Geschichte bleibt ein Motiv von ostdeutschem Rap. So schreibt der Stralsunder Rapper Testo des Rap-Duos Zugezogen Maskulin in dem Track "Uwe & Heiko": "Die Volkswerft ging pleite im Konflikt mit dem System." Mit dieser Line werden die Sorgen der Arbeiter:innen aus der ehemaligen Volkswerft Stralsund in den Vordergrund gerückt. Als Hauptarbeitgeber der Region zieht der Untergang der Volkswerft einen hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach sich. Wieder in Chemnitz rappt KUMMER in Songs wie "9010" oder "Alle Jahre wieder" ebenfalls über das Aufwachsen nach der Wende und über Menschen, die in der DDR gelebt haben. Hier werden vor allem die frustrierten Stimmen der Wendeverlierer:innen laut.
HipHop als Jugendsubkultur in der DDR strebt vor allem nach Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit. Die Subkultur muss sich allerdings auch immer wieder ihren Weg durch den bürokratischen Dschungel schlagen. Die Bewegung wird außerdem zwar durch Filme und Radios ins Rollen gebracht, aber es sind die Konsument:innen, die ihre Chance erkennen, auf ihr Gefühl hören und zu Akteur:innen ihrer eigenen Interpretation einer Kultur werden, die sie eigentlich nur von Übersee kennen. Festzuhalten ist also, dass HipHop in der DDR vom Volk ausgeht und stets gemeinschaftlich und solidarisch organisiert wird – quasi so, wie auch in anderen Ländern zu diesem Zeitpunkt. Herausstechend ist allerdings die Willensstärke, mit der versucht wird, wirklich etwas aufzubauen, obwohl westliche Medien noch immer kaum zu empfangen und neue Inputs Mangelware sind.
Am Ende gibt es wohl doch nur eine wirklich erfolgreiche Platte aus der Platte. Aber es entwickelt sich eine lebendige Subkultur, die einen wichtigen Grundstein für die heutige HipHop-Infrastrukur in den ostdeutschen Bundesländern legt.
(Max Raska)
(Grafik von Daniel Fersch)