Mathias Liegmal – ein Gespräch über Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz ist eines der am heißesten diskutierten Themen der Gegenwart. Die frei verfügbare Anwendung ChatGPT des Unternehmens OpenAI ist vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass derzeit so viel über dieses Thema diskutiert wird. Spätestens seit der gefühlten Omnipräsenz des Chatbots, der Ende 2022 erstmals der breiten Masse zugänglich gemacht wurde, spricht die ganze Welt über KI. Dabei gibt es seit vielen Jahren Entwicklungen auf diesem Gebiet. Doch wie lässt sich der Begriff "Künstliche Intelligenz" überhaupt definieren? Ab wann gilt etwas als intelligent und können Maschinen einen Begriff für sich in Anspruch nehmen, der so eng mit denkenden und fühlenden Lebewesen verbunden ist? Sind sie möglicherweise sogar in der Lage dazu, selbst zu denken und fühlen? Mit all diesen Fragen beschäftigt sich auch der Autor Mathias Liegmal. Aus diesem Grund veröffentlichte er 2020 das Buch "Wenn der Computer zum Künstler wird: Wie Big Data und KI die Musik-, Literatur-, Kunst- und Entertainmentbranche revolutionieren". Darin beleuchtet er Entwicklungen in diesem hochaktuellen Gebiet, die es in der Musik- und Kulturwelt bereits gibt, und wagt darüber hinaus einen Blick in die Zukunft. Im Gespräch mit uns erläuterte er unter anderem, für wie realistisch er einen flächendeckenden Einsatz von KI in der Musikindustrie hält und ob er die Branche in naher Zukunft davon bedroht sieht. Zudem teilte er uns seine Meinung zur Nutzung von KI in anderen Industriezweigen mit, wie beispielsweise der Medizin, und ging auf die Frage nach einem etwaigen Bewusstsein intelligenter Maschinen ein.
MZEE.com: Als Einstieg in unser Gespräch ein omnipräsentes Thema: Die ganze Welt spricht über ChatGPT. Für wie bedeutsam hältst du die Existenz dieser KI in Bezug auf Musik und Kultur im Allgemeinen? Und wie wichtig könnte der Einsatz von KIs wie ChatGPT für kulturelle Produkte in Zukunft werden?
Mathias Liegmal: In Bezug auf ChatGPT bin ich mir gar nicht so sicher. Das eigentlich Interessante und Entscheidende daran ist ja das dahinterstehende Sprachmodell. Es wurde ja bereits GPT-4 rausgebracht. Ich glaube, alle Fachleute sind sich einig, dass das als revolutionär zu bezeichnen ist. Gar nicht zwingend für den Kulturbereich – da wird sicherlich auch vieles passieren. Aber einfach, was damit insgesamt möglich ist. Was ich alleine in den letzten paar Tagen gesehen habe, seit ChatGPT-4 veröffentlicht wurde … Wie viele Anwendungen in allen möglichen Bereichen daraus entsprungen sind, ist unglaublich! Wenn man die Frage auf KI allgemein beziehen will, sind die Möglichkeiten schier unendlich. Sie kann schreiben, malen, musizieren … Es wird bahnbrechend, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher.
MZEE.com: Nun mal speziell auf das Thema "Musik" bezogen: Wird KI deiner Meinung nach Künstler:innen ersetzen können? Denkst du, dass sie zum Beispiel die Musikwelt so stark dominieren könnte, dass die Existenz von Künstler:innen obsolet wird?
Mathias Liegmal: Nein. Neuen Techniken wird schnell mal nachgesagt, sie würden irgendwas ersetzen. Letztlich haben wir immer noch Leute, die Vinyl kaufen, Zeitungen lesen oder linear fernsehen. Das wird nicht komplett verschwinden. Es wird sich aber etwas ändern. Gerade in Bezug auf Musik ist Künstliche Intelligenz aktuell noch relativ unspektakulär. Wenn man das geschriebene Wort nimmt, wie beispielsweise eine Künstlerbiografie, ist es meiner Meinung nach viel realistischer, diese erfolgreich von einer KI schreiben zu lassen, als dass ein vollständig KI-generierter Song auf Platz eins der Charts landet. Die Musik ist nicht unbedingt der erste Bereich, bei dem KI in den kommenden Jahren bedeutende Auswirkungen haben wird. Da werden sich die Musiker natürlich glücklich schätzen. (lacht) Was Künstliche Intelligenz schon kann, ist beispielsweise Hintergrundmusik für einen Werbeclip oder für Videospiele generieren. Das funktioniert ganz gut. Aber wenn wir davon reden, dass Gesang über ein Instrumental gelegt wird und Texte dazugehören, steckt das noch in den Kinderschuhen. Was man sich schon vorstellen kann – zusätzlich zu diesen Anwendungsbeispielen im Bereich, ich sag' mal, Gebrauchsmusik – ist, dass KI als Stichwortgeber fungiert. Dass man sagt: "Erstell mir mal bitte 50 Melodien. Ich such' dann aus und produzier' von da aus weiter." Das ist schon relativ nah und passiert bereits. Ich kann mir vorstellen, dass diese Möglichkeit regelmäßig genutzt wird und das weiterhin zunimmt. Aber davon, einen kompletten Künstler zu ersetzen, sind wir nach dem, was ich bislang gesehen und gehört hab', noch weit entfernt. Kürzlich hat Google beispielsweise eine eigene KI mit dem Namen MusicLM veröffentlicht. Das war schon interessant. Man gibt einen Text in natürlicher Sprache ein und muss dabei keine Ahnung von Noten haben oder programmieren können. Stattdessen schreibt man einfach etwas wie "HipHop-Beat, 90bpm" und schon bekommt man ein fertiges Produkt – ähnlich wie bei ChatGPT. Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass jemand mit einem KI-generierten Track in naher Zukunft auf Platz eins der Charts landen wird.
MZEE.com: Hältst du es für vorstellbar, dass es zukünftig zwei mehr oder weniger autarke Musikwelten geben wird? Eine mit KI-Musik für Menschen, die einfach nur berieselt werden wollen, und eine Art Untergrund mit menschlichen Künstler:innen, die noch eigenhändig Musik produzieren?
Mathias Liegmal: Wenn Künstliche Intelligenz erst mal in der Lage ist, ein Produkt herzustellen, das dem Menschen nahekommt, kann ich mir vorstellen, dass es durchaus zwei Welten geben wird. Weil wir als Menschen einerseits gerne noch an die Geschichten drumherum glauben möchten. Wir wollen nicht wissen, wenn ein Computer etwas gemacht hat. Andererseits gibt es sicherlich ein paar Leute, denen das egal ist, aber auch welche, denen das furchtbar wichtig ist. Dazu könnte man, wie bei Milli Vanilli, eine Person in den Vordergrund stellen und behaupten, das sei ein echter Mensch – und letztlich ist es ein Computer. Ich denke, wenn wir jemals an den Punkt kommen, an dem KI-generierte Musik gut genug ist, um als menschengemacht durchzugehen, wird es sicherlich eine Übergangsphase geben, in der wir solche Milli Vanilli-Versuche sehen werden. Und wenn wir keine Person hinstellen, müssen wir so etwas wie den Crazy Frog erfinden, damit es eine kleine Geschichte dazu gibt und irgendwer diese Musik verkörpert. FN Meka war so ein erster Versuch im Rap-Bereich, ist aber an einer schlecht konzipierten Story gescheitert. Greifen wir noch mal mein Beispiel von vorhin auf, dass immer noch Leute Vinyl kaufen. Das ist ja eher eine Liebhabersache. Ich kann mir vorstellen, dass wir auch in Zukunft noch an menschengemachter Musik festhalten werden, da es Menschen gibt, die genau das wollen. Da geht es gar nicht mehr zwingend um die Musik. Die wollen schlichtweg, dass das von einem Menschen kommt. Dadurch entsteht die eigentliche Wertschätzung. Also zwei parallel existierende Märkte kann ich mir durchaus vorstellen. Vielleicht überwiegt dieser Liebhaber-Anteil sogar, so wie die meisten Menschen immer noch das haptische Buch bevorzugen und deutlich weniger Menschen eBooks kaufen. Aber dazu muss die KI erst mal in der Lage sein, überhaupt mit dem Menschen mitzuhalten.
MZEE.com: Heute ist es dank Smartphones, Streaming, TikTok und Co. bereits einfacher denn je, eigene Songs zu produzieren, zu veröffentlichen und zu vermarkten. KI kann den Entstehungsprozess von Musik in vielen Stufen potenziell noch weiter unterstützen und vereinfachen. Denkst du, dass sie zu einer weiteren Demokratisierung des Musikmachens beitragen wird?
Mathias Liegmal: (überlegt) Gute Frage. Ja und nein. Ja, in dem Sinne, dass Leute wie ich, die komplett unmusikalisch sind, theoretisch damit das Werkzeug bekommen, Musik zu machen. Ich kann dir eine C-Dur aufmalen, dann ist aber auch Schluss. Ich kann auch nicht singen – jedenfalls nicht gut. Ich kann auch kein Fruity Loops bedienen und mir fehlt die Motivation, mich da reinzufuchsen. Aber mit dem, was ich vorhin gesagt hab' in Bezug auf GoogleLM: Da ist es ja tatsächlich so, dass du nur in menschlicher Sprache eingeben musst, was du haben möchtest. Beispielsweise gibst du "Techno-Beat, 120 bpm, 3 Minuten, düstere Atmosphäre, Synthesizer" ein und wartest dann ab, was kommt. Da brauche ich keine großartigen Fachkenntnisse mehr. Das ist im Sinne einer Demokratisierung ein enormer Fortschritt. Andererseits muss man sich die Frage stellen: Wie komm' ich denn an dieses Tool? Wenn Google 1.000 Euro im Monat dafür von mir möchte, habe ich schnell ein Problem. Wenn die Betreiber dieser Tools den Hahn zudrehen, war es das erst mal mit der freien Nutzung. Wenn man diese nur einer bestimmten Zielgruppe zur Verfügung stellt, und das wird vermutlich immer an Geld geknüpft sein, hat es sich schnell mit der Demokratisierung erledigt.
MZEE.com: Ich könnte mir vorstellen, dass gerade bei der Vermarktung von Musik die KI dabei helfen kann, diese noch schneller und gezielter zu den Hörer:innen zu bringen.
Mathias Liegmal: Das ist ja etwas, das Spotify eh schon versucht, dadurch dass sie die Empfehlungsalgorithmen stetig verbessern. Dabei muss gar nicht mein Label oder wer auch immer meine Vermarktung macht tätig werden. Spotify selbst hat ja auch ein Interesse daran, meinen Geschmack so gut wie möglich zu treffen.
MZEE.com: Was ist deiner Meinung nach ein gelungenes Beispiel dafür, wie KI bereits in der Musikindustrie eingesetzt wird – sei es in der eigentlichen Musik selbst oder in der Art, wie sie etwa vertrieben oder konsumiert wird?
Mathias Liegmal: Das interessanteste Beispiel und vermutlich mit das populärste ist das Kendrick Lamar-Video zu "The Heart Part 5". In diesem hat er die Deepfake-Technologie genutzt, um sich in Will Smith, Kanye West oder OJ Simpson reinzudeepfaken. Dabei hat er jeweils das Gesicht von denen angenommen. Das hat für ordentlich Aufmerksamkeit gesorgt, da dem Otto Normalverbraucher nicht unbedingt bewusst war, wie weit wir in diesem Bereich technisch bereits sind. Interessanterweise hat ein Musiker namens Skygge das Ganze noch ein bisschen weiter gespielt und auf Twitter ein Video veröffentlicht, in dem man den Kendrick Lamar-Clip sehen kann, in dem sich dessen Gesicht ändert. Hier wurde aber zusätzlich die Stimme geändert, sodass man Kendrick Lamar nicht nur als Will Smith sieht, sondern auch hört. Das wäre aus meiner Sicht ein noch coolerer Move von Kendrick Lamar gewesen. Aber letztlich war das Video schon einer der Meilensteine der jüngeren Vergangenheit. Wobei die Technik dahinter eigentlich gar nicht so interessant ist, aber die Aufmerksamkeit, die dadurch generiert wurde, ist enorm gewesen. Ansonsten fallen mir jetzt nicht so viele Beispiele ein, es gibt aber noch ein paar Sachen. Es gibt einen Travis Scott-Bot namens Travis Bot, der ein bisschen Aufmerksamkeit bekommen hat. Es gibt einen Deepfake von Eminem, in dem er Mark Zuckerberg disst. Zudem gibt es einen YouTube-Channel, bei dem Jay-Z Shakespeare vorliest. Der User Roberto Nickson hat auf Twitter kürzlich gezeigt, wie man mithilfe von KI einen Kanye West-Part einrappen kann, ohne selbst Kanye zu sein. Aber mir fehlt noch der große Knall. Wie gesagt, aus meiner Sicht sind wir noch ein bisschen davon entfernt, dass Musik massentauglich von KI generiert wird. Aber das sind so Sachen aus der jüngsten Vergangenheit, die ganz interessant waren.
MZEE.com: KI ist nicht nur in der Musik- beziehungsweise Kulturbranche allgemein ein heiß diskutiertes Thema. Auf LinkedIn gibt es derzeit beispielsweise eine Diskussion darüber, ob Künstliche Intelligenz auch die Pflege entlasten könnte. Was sind deiner Meinung nach die Berufsfelder, die am meisten von KI profitieren könnten, und welche sind am stärksten gefährdet?
Mathias Liegmal: (überlegt) Das ist schwierig. In der Pflege gibt es das meines Wissens nach schon. In asiatischen Ländern ist der Pflegeroboter schon deutlich üblicher als bei uns. Es gibt dort zum Beispiel eine Roboter-Robbe namens Paro, die im therapeutischen Bereich verwendet wird. Darüber hinaus gibt es Versuche, Chatbots als Therapeuten oder zumindest als Mittel gegen Einsamkeit einzusetzen. Generell ist KI in der Medizin gerade ein Riesen-Thema, zum Beispiel bei der Auswertung von Röntgenbildern. Hier leistet Künstliche Intelligenz schon deutlich bessere Arbeit als ein menschlicher Arzt. Das sollte man aber noch mit Vorsicht genießen. Es sollte trotzdem immer noch mal ein Mensch drübergucken. Aber grundsätzlich schneidet die KI hier im Vergleich deutlich besser ab. Was es in Zukunft auch geben wird – beziehungsweise gibt es das jetzt schon, nur ist es noch nicht zwingend marktreif –, ist die Individualisierung von Medikamenten. Dabei schaut man sich deine DNA an und schneidet anschließend Medikamente explizit auf dich als einzelnen Menschen zu. In der Medizin wird noch enorm viel passieren. Deswegen glaube ich, dass KI dort deutlich stärker zum Tragen kommen wird als beispielsweise in der Musik. Nicht dass das Musikgeschäft ein kleiner Markt wäre, aber ich glaube, der Fokus liegt momentan noch woanders. Im Prinzip wird es in allen Bereichen, bei denen es sich wiederholende Prozesse gibt und genügend Daten zur Verfügung stehen, die rasantesten Entwicklungen geben. Ob die Branche nun davon profitiert oder nicht, ist eine andere Frage. Da können Leute eben ihren Job verlieren. Ansonsten, glaube ich, wird das im Militärbereich sehr viel Anwendung finden. Es gab gerade den Versuch, sich mithilfe von Künstlicher Intelligenz neue chemische Waffen auszudenken. Ich glaube, die beteiligten Forscher waren selbst erschrocken, wie viele mögliche Kombinationen es gäbe und wie problemlos die KI diese ausgespuckt hat. Medizin und Militär sind also, soweit ich weiß, die Bereiche, bei denen sich das am meisten auswirken wird. Aber ChatGPT wird die Bürowelt auch deutlich umkrempeln, da bin ich mir sicher. Denn Microsoft bindet ja GPT-4 in all seine Produkte, wie Word, PowerPoint oder Excel, ein. Das wird schon einen ordentlichen Einfluss haben, gerade in Informationsgesellschaften.
MZEE.com: Viele Diskussionen zu dem Thema werden schnell emotional. Warum ist das so? Glaubst du, es ist die Angst, ersetzt zu werden, die aus denjenigen spricht, die die Technik pauschal verteufeln? Oder vielleicht sogar die Angst, dass die Dinge aus dem Ruder laufen und die KI nicht mehr zu kontrollieren ist?
Mathias Liegmal: Es gibt viele verschiedene Ängste. Die lebensnahste ist die, dass man seinen Job verliert. Ob irgendwann in 20 Jahren noch die KI durchdreht und uns alle umbringt, ist relativ weit weg. Wer sich schon länger mit Sprachmodellen beschäftigt, wird von ChatGPT nicht großartig überrascht worden sein, denn OpenAI sind nicht die einzigen, die auf diesem Niveau agieren. Der Unterschied ist, dass sie es Menschen wie dir und mir kostenlos zugänglich gemacht haben. Dadurch ist erstmals die breite Masse mit dem aktuellen technischen Stand in Berührung gekommen und dementsprechend geschockt gewesen. Auf einer Metaebene stellt sich für den Menschen die Frage, was uns als solche überhaupt ausmacht. Das Thema Kreativität war lange Zeit eine Sache, die der Mensch exklusiv für sich hatte, während der Begriff "Künstliche Intelligenz" sich immer wieder verschoben hat. Früher hätte man gesagt, dass man intelligent sein muss, um Wurzelberechnungen durchzuführen. Plötzlich kann das eine Maschine aber deutlich besser als du. Und dann denkt man sich: "Ist halt ein Taschenrechner. Das ist ja nun keine Künstliche Intelligenz." Also verschiebt man die Definition. Früher hätte man auch gesagt, dass keine Maschine Schach spielen kann. Nun können aber Maschinen sehr gut Schach spielen – besser als Menschen. Daraufhin verschiebt man diese Definition wieder. Und das ist immer wieder passiert. Und dann sagt man: "Ja, gut, Intelligenz, von mir aus. Logik ist eine Sache, die Computern nun mal liegt. Aber kreativ sind Maschinen nicht." Und mittlerweile, in den jüngsten ein, zwei Jahren, haben wir durch Dall-E, Stable Duffusion oder Midjourney (Anm. d. Red.: drei der bekanntesten KI-Systeme in kreativen Zweigen) festgestellt: "Ach, Mensch, wenn wir genug Daten vorliegen haben, sind Computer auch kreativ." Dass man dadurch als Mensch eingeschüchtert wird und man sich langsam, aber sicher die Frage stellt, was einen überhaupt noch als Menschen ausmacht, kann sich ebenfalls sehr gefährlich anfühlen.
MZEE.com: Was, denkst du, macht es mit unserem Ego und unserer kollektiven Psyche als Menschen, wenn Maschinen plötzlich in der Lage zu sein scheinen, so viele Dinge so viel besser zu können als wir?
Mathias Liegmal: Es kann sich bedrohlich anfühlen, muss es aber nicht. Es kommt darauf an, wie sich alles entwickelt. Du hattest noch die Gefahr angesprochen, dass Künstliche Intelligenz zur Bedrohung für die Menschheit im Sinne von "Leben und Tod" werden könnte.
MZEE.com: Das habe ich so nicht formuliert, aber dass es aus dem Ruder laufen und die KI nicht mehr zu kontrollieren sein könnte, genau.
Mathias Liegmal: In so einem Fall reden wir von einer sogenannten starken KI, die von einer schwachen zu unterscheiden ist. Eine schwache KI kann nur Einzelaufgaben erledigen. Die KI, die einen Tesla fährt, kann keine Bilder malen. Eine starke KI kann aber alles. Elon Musk warnt nur allzu gerne davor. Aber das muss man, glaube ich, ein bisschen mit Vorsicht genießen, wenn man bedenkt, was der sonst so von sich gibt. Grundsätzlich sind wir von einer starken KI momentan noch weit entfernt und eine schwache KI dürfte selbst im schlimmsten Fall immer noch gut zu bremsen sein.
MZEE.com: Die Abgrenzung zwischen klassisch menschlichen und maschinellen Fähigkeiten wird in Zukunft unweigerlich immer mehr verschwimmen. Kreativität ist, wie du bereits gesagt hast, für KI schon lange kein Problem mehr. Aber was denkst du, inwieweit sie abstraktere menschliche Eigenschaften wie die Fähigkeit zu lieben oder Selbstreflexion entwickeln kann?
Mathias Liegmal: (überlegt) Da bin ich zwiegespalten. Einerseits gibt es durchaus Naturwissenschaftler oder Philosophen, die die Meinung vertreten, dass sich im menschlichen Körper letztlich auch nur Wenn-dann-Regeln abspielen, bei denen Signale hin und her geschickt werden. Natürlich nicht eins zu eins. Man baut ja auch bei künstlichen neuronalen Netzen nicht eins zu eins ein menschliches Gehirn nach, aber die Funktion wird im Endeffekt imitiert. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob es nicht doch möglich wäre, Emotionen nachzubilden. Ich denke jetzt speziell an den Philosophen Daniel Dennett, der sogar anzweifelt, dass wir so etwas wie Bewusstsein haben. Es fängt damit an, und das schreibe ich auch in meinem Buch, dass Begriffe wie Intelligenz oder Bewusstsein überhaupt nicht klar definiert sind – auch nicht für den Menschen. Der Versuch, die Frage zu beantworten, ob der Computer diese Eigenschaften nun hat oder nicht, führt letztlich zu nichts, solange wir keinen klaren Begriff von Intelligenz oder Bewusstsein haben. Wenn wir das darüber hinaus wieder auf kreative Prozesse beziehen wollen, stellt sich für mich immer die Frage, ob reale Emotionen oder ein Bewusstsein dafür überhaupt notwendig sind oder nicht. Klar würde man behaupten, Kanye hätte "808s & Heartbreak" niemals ohne Herzschmerz oder den Verlust seiner Mutter so aufnehmen können. Das möchte ich aber bezweifeln. Ich glaube, wir wollen einfach daran glauben, dass man dazu solche Eigenschaften braucht. Denn das gibt uns als Menschen wieder die Sicherheit: "Das können Maschinen nicht." Vorhin haben wir gesagt: "Die können nicht kreativ sein." Dann haben wir festgestellt: "Okay, können sie doch." Und dann sagen wir: "Ja, aber sie können nicht lieben. Und die Fähigkeit zu lieben brauchen sie irgendwie schon, um so ein Werk zu schaffen." Ich glaube, wenn eine Maschine genug Werke analysieren kann, in die ein Mensch Liebe hineingesteckt hat, wird sie das auch imitieren können. Und dann stellt man sich die Frage, ob wir dem Werk am Ende überhaupt anmerken, ob die Entität, die dieses Werk zustande gebracht hat, ein Bewusstsein hat oder wollen wir nur daran glauben, dass sie eins hat? Ändert es etwas am Werk, wenn wir auf einmal herausfinden, dass es Kanye nie gegeben hat und alles nur ein Computer war? Ich glaube nicht. Verändert es unsere Wahrnehmung seines Werks, wenn wir herausfinden, dass da gar kein Mensch dahintersteckt? Natürlich tut es das.
MZEE.com: In Bezug auf das Thema Musik stimme ich dir zu 100 Prozent zu. Ich denke, die Frage ist noch spannender, wenn man den Blickwinkel weiter fasst. Wenn eine starke KI sich plötzlich selbst reflektieren kann und anfängt, eigene Entscheidungen zu treffen. Wenn sie sagen kann "Moment mal, vielleicht verhalte ich mich nicht so, wie ich programmiert wurde", und sie beginnt, ihren eigenen Willen zu entwickeln. Dann hätte das viel weitreichendere Konsequenzen und das Ergebnis wäre noch deutlich spannender.
Mathias Liegmal: Es gab kürzlich einen Entwickler – ich glaube, bei Google. Der war der Meinung, seine Sprach-KI hätte ein Bewusstsein entwickelt. Der wurde dann freigestellt. (lacht) Das ging ganz witzig durch die Nachrichten. Das ist immer wieder ein Szenario, das besprochen wird. Aber das ist halt der Worst Case. Wie gesagt, wir sind noch weit davon entfernt, diese Zukunftsszenarien zu besprechen, bei denen es um Leben und Tod geht.
MZEE.com: Bill Gates, der mit Microsoft kürzlich mehrere Milliarden Dollar in den ChatGPT-Entwickler OpenAI investiert hat, sagte Anfang Februar in einem Interview mit dem Handelsblatt, dass die Entwicklung von KIs so wichtig sei wie die Erfindung des Internets. Abschließend würde ich gerne von dir wissen, ob du dieser Aussage zustimmst oder ob du sie für übertrieben hältst.
Mathias Liegmal: Ich habe ja eingangs gesagt, dass es durchaus als revolutionär anzusehen ist, was wir momentan sehen. Man muss das aber immer mit Vorsicht genießen. Es gibt einen sogenannten Hype-Zyklus und die Technik-Version davon nennt sich Amaras Gesetz, basierend auf dem Futuristen Roy Charles Amara. Der hat formuliert, dass wir technische Fortschritte kurzfristig überschätzen, langfristig aber unterschätzen. Und dieses Wissen hilft einem dabei, die aktuelle Entwicklung besser einzuschätzen, macht einen aber nicht hundertprozentig gefeit vor Fehlern. Was momentan auf diesem Gebiet passiert, ist alles sehr beeindruckend. Man muss sich aber immer wieder sagen, dass es nicht jahrelang auf dem Niveau weitergeht. Das wird sich erst mal wieder einpendeln. Dann wird es wieder einen kleinen Hype geben und so weiter. Aber grundsätzlich, glaube ich, liegt Bill Gates schon sehr nah an der Wahrheit, die ich vermute. (schmunzelt) Ich würde die drei technologischen Errungenschaften, die unser tägliches Leben in den letzten und kommenden Jahrzehnten am meisten verändert haben und verändern werden, wie folgt einstufen: zuerst die Erfindung des Internets, dann das Smartphone und schließlich die KI. Niemand weiß genau, wie die Entwicklung Künstlicher Intelligenz uns weiter beeinflussen wird. (schmunzelt) Aber ich bin mir sicher, dass vieles umgedreht und umgewälzt werden wird.
(Steffen Bauer)
(Fotos wurden generiert von der KI "Midjourney")