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Interview

Mathias Liegmal – ein Gespräch über Künstliche Intelligenz

"Ändert es etwas am Werk, wenn wir auf ein­mal her­aus­fin­den, dass es Kanye nie gege­ben hat und alles nur ein Com­pu­ter war? Ich glau­be nicht." – Mathi­as Lieg­mal über KI-​generierte Musik, was es mit uns Men­schen macht, wenn Maschi­nen etwas bes­ser kön­nen als wir, und mög­li­che Zukunftsszenarien.

Künst­li­che Intel­li­genz ist eines der am hei­ßes­ten dis­ku­tier­ten The­men der Gegen­wart. Die frei ver­füg­ba­re Anwen­dung ChatGPT des Unter­neh­mens Ope­nAI ist ver­mut­lich einer der Haupt­grün­de dafür, dass der­zeit so viel über die­ses The­ma dis­ku­tiert wird. Spä­tes­tens seit der gefühl­ten Omni­prä­senz des Chat­bots, der Ende 2022 erst­mals der brei­ten Mas­se zugäng­lich gemacht wur­de, spricht die gan­ze Welt über KI. Dabei gibt es seit vie­len Jah­ren Ent­wick­lun­gen auf die­sem Gebiet. Doch wie lässt sich der Begriff "Künst­li­che Intel­li­genz" über­haupt defi­nie­ren? Ab wann gilt etwas als intel­li­gent und kön­nen Maschi­nen einen Begriff für sich in Anspruch neh­men, der so eng mit den­ken­den und füh­len­den Lebe­we­sen ver­bun­den ist? Sind sie mög­li­cher­wei­se sogar in der Lage dazu, selbst zu den­ken und füh­len? Mit all die­sen Fra­gen beschäf­tigt sich auch der Autor Mathi­as Lieg­mal. Aus die­sem Grund ver­öf­fent­lich­te er 2020 das Buch "Wenn der Com­pu­ter zum Künst­ler wird: Wie Big Data und KI die Musik-, Literatur-, Kunst- und Enter­tain­ment­bran­che revo­lu­tio­nie­ren". Dar­in beleuch­tet er Ent­wick­lun­gen in die­sem hoch­ak­tu­el­len Gebiet, die es in der Musik- und Kul­tur­welt bereits gibt, und wagt dar­über hin­aus einen Blick in die Zukunft. Im Gespräch mit uns erläu­ter­te er unter ande­rem, für wie rea­lis­tisch er einen flä­chen­de­cken­den Ein­satz von KI in der Musik­in­dus­trie hält und ob er die Bran­che in naher Zukunft davon bedroht sieht. Zudem teil­te er uns sei­ne Mei­nung zur Nut­zung von KI in ande­ren Indus­trie­zwei­gen mit, wie bei­spiels­wei­se der Medi­zin, und ging auf die Fra­ge nach einem etwa­igen Bewusst­sein intel­li­gen­ter Maschi­nen ein.

MZEE​.com​: Als Ein­stieg in unser Gespräch ein omni­prä­sen­tes The­ma: Die gan­ze Welt spricht über ChatGPT. Für wie bedeut­sam hältst du die Exis­tenz die­ser KI in Bezug auf Musik und Kul­tur im All­ge­mei­nen? Und wie wich­tig könn­te der Ein­satz von KIs wie ChatGPT für kul­tu­rel­le Pro­duk­te in Zukunft werden?

Mathi­as Lieg­mal: In Bezug auf ChatGPT bin ich mir gar nicht so sicher. Das eigent­lich Inter­es­san­te und Ent­schei­den­de dar­an ist ja das dahin­ter­ste­hen­de Sprach­mo­dell. Es wur­de ja bereits GPT-​4 raus­ge­bracht. Ich glau­be, alle Fach­leu­te sind sich einig, dass das als revo­lu­tio­när zu bezeich­nen ist. Gar nicht zwin­gend für den Kul­tur­be­reich – da wird sicher­lich auch vie­les pas­sie­ren. Aber ein­fach, was damit ins­ge­samt mög­lich ist. Was ich allei­ne in den letz­ten paar Tagen gese­hen habe, seit ChatGPT-​4 ver­öf­fent­licht wur­de … Wie vie­le Anwen­dun­gen in allen mög­li­chen Berei­chen dar­aus ent­sprun­gen sind, ist unglaub­lich! Wenn man die Fra­ge auf KI all­ge­mein bezie­hen will, sind die Mög­lich­kei­ten schier unend­lich. Sie kann schrei­ben, malen, musi­zie­ren … Es wird bahn­bre­chend, da bin ich mir zu 100 Pro­zent sicher.

MZEE​.com: Nun mal spe­zi­ell auf das The­ma "Musik" bezo­gen: Wird KI dei­ner Mei­nung nach Künstler:innen erset­zen kön­nen? Denkst du, dass sie zum Bei­spiel die Musik­welt so stark domi­nie­ren könn­te, dass die Exis­tenz von Künstler:innen obso­let wird?

Mathi­as Lieg­mal: Nein. Neu­en Tech­ni­ken wird schnell mal nach­ge­sagt, sie wür­den irgend­was erset­zen. Letzt­lich haben wir immer noch Leu­te, die Vinyl kau­fen, Zei­tun­gen lesen oder line­ar fern­se­hen. Das wird nicht kom­plett ver­schwin­den. Es wird sich aber etwas ändern. Gera­de in Bezug auf Musik ist Künst­li­che Intel­li­genz aktu­ell noch rela­tiv unspek­ta­ku­lär. Wenn man das geschrie­be­ne Wort nimmt, wie bei­spiels­wei­se eine Künst­ler­bio­gra­fie, ist es mei­ner Mei­nung nach viel rea­lis­ti­scher, die­se erfolg­reich von einer KI schrei­ben zu las­sen, als dass ein voll­stän­dig KI-​generierter Song auf Platz eins der Charts lan­det. Die Musik ist nicht unbe­dingt der ers­te Bereich, bei dem KI in den kom­men­den Jah­ren bedeu­ten­de Aus­wir­kun­gen haben wird. Da wer­den sich die Musi­ker natür­lich glück­lich schät­zen. (lacht) Was Künst­li­che Intel­li­genz schon kann, ist bei­spiels­wei­se Hin­ter­grund­mu­sik für einen Wer­be­clip oder für Video­spie­le gene­rie­ren. Das funk­tio­niert ganz gut. Aber wenn wir davon reden, dass Gesang über ein Instru­men­tal gelegt wird und Tex­te dazu­ge­hö­ren, steckt das noch in den Kin­der­schu­hen. Was man sich schon vor­stel­len kann – zusätz­lich zu die­sen Anwen­dungs­bei­spie­len im Bereich, ich sag' mal, Gebrauchs­mu­sik – ist, dass KI als Stich­wort­ge­ber fun­giert. Dass man sagt: "Erstell mir mal bit­te 50 Melo­dien. Ich such' dann aus und pro­du­zier' von da aus wei­ter." Das ist schon rela­tiv nah und pas­siert bereits. Ich kann mir vor­stel­len, dass die­se Mög­lich­keit regel­mä­ßig genutzt wird und das wei­ter­hin zunimmt. Aber davon, einen kom­plet­ten Künst­ler zu erset­zen, sind wir nach dem, was ich bis­lang gesehen und gehört hab', noch weit ent­fernt. Kürz­lich hat Goog­le bei­spiels­wei­se eine eige­ne KI mit dem Namen MusicLM ver­öf­fent­licht. Das war schon inter­es­sant. Man gibt einen Text in natür­li­cher Spra­che ein und muss dabei kei­ne Ahnung von Noten haben oder pro­gram­mie­ren kön­nen. Statt­des­sen schreibt man ein­fach etwas wie "HipHop-​Beat, 90bpm" und schon bekommt man ein fer­ti­ges Pro­dukt – ähn­lich wie bei ChatGPT. Aber wie gesagt, ich glau­be nicht, dass jemand mit einem KI-​generierten Track in naher Zukunft auf Platz eins der Charts lan­den wird.

MZEE​.com​: Hältst du es für vor­stell­bar, dass es zukünf­tig zwei mehr oder weni­ger aut­ar­ke Musik­wel­ten geben wird? Eine mit KI-​Musik für Men­schen, die ein­fach nur berie­selt wer­den wol­len, und eine Art Unter­grund mit mensch­li­chen Künstler:innen, die noch eigen­hän­dig Musik produzieren?

Mathi­as Lieg­mal: Wenn Künst­li­che Intel­li­genz erst mal in der Lage ist, ein Pro­dukt her­zu­stel­len, das dem Men­schen nahe­kommt, kann ich mir vor­stel­len, dass es durch­aus zwei Wel­ten geben wird. Weil wir als Men­schen einer­seits ger­ne noch an die Geschich­ten drum­her­um glau­ben möch­ten. Wir wol­len nicht wis­sen, wenn ein Com­pu­ter etwas gemacht hat. Ande­rer­seits gibt es sicher­lich ein paar Leu­te, denen das egal ist, aber auch wel­che, denen das furcht­bar wich­tig ist. Dazu könn­te man, wie bei Mil­li Vanil­li, eine Per­son in den Vor­der­grund stel­len und behaup­ten, das sei ein ech­ter Mensch – und letzt­lich ist es ein Com­pu­ter. Ich den­ke, wenn wir jemals an den Punkt kom­men, an dem KI-​generierte Musik gut genug ist, um als men­schen­ge­macht durch­zu­ge­hen, wird es sicher­lich eine Über­gangs­pha­se geben, in der wir sol­che Mil­li Vanilli-​Versuche sehen wer­den. Und wenn wir kei­ne Per­son hin­stel­len, müs­sen wir so etwas wie den Cra­zy Frog erfin­den, damit es eine klei­ne Geschich­te dazu gibt und irgend­wer die­se Musik ver­kör­pert. FN Meka war so ein ers­ter Ver­such im Rap-​Bereich, ist aber an einer schlecht kon­zi­pier­ten Sto­ry geschei­tert. Grei­fen wir noch mal mein Bei­spiel von vor­hin auf, dass immer noch Leu­te Vinyl kau­fen. Das ist ja eher eine Lieb­ha­ber­sa­che. Ich kann mir vor­stel­len, dass wir auch in Zukunft noch an men­schen­ge­mach­ter Musik fest­hal­ten wer­den, da es Men­schen gibt, die genau das wol­len. Da geht es gar nicht mehr zwin­gend um die Musik. Die wol­len schlicht­weg, dass das von einem Men­schen kommt. Dadurch ent­steht die eigent­li­che Wert­schät­zung. Also zwei par­al­lel exis­tie­ren­de Märk­te kann ich mir durch­aus vor­stel­len. Viel­leicht über­wiegt die­ser Liebhaber-​Anteil sogar, so wie die meis­ten Men­schen immer noch das hap­ti­sche Buch bevor­zu­gen und deut­lich weni­ger Men­schen eBooks kau­fen. Aber dazu muss die KI erst mal in der Lage sein, über­haupt mit dem Men­schen mitzuhalten.

MZEE​.com​: Heu­te ist es dank Smart­phones, Strea­ming, Tik­Tok und Co. bereits ein­fa­cher denn je, eige­ne Songs zu pro­du­zie­ren, zu ver­öf­fent­li­chen und zu ver­mark­ten. KI kann den Ent­ste­hungs­pro­zess von Musik in vie­len Stu­fen poten­zi­ell noch wei­ter unter­stüt­zen und ver­ein­fa­chen. Denkst du, dass sie zu einer wei­te­ren Demo­kra­ti­sie­rung des Musik­ma­chens bei­tra­gen wird?

Mathi­as Lieg­mal: (über­legt) Gute Fra­ge. Ja und nein. Ja, in dem Sin­ne, dass Leu­te wie ich, die kom­plett unmu­si­ka­lisch sind, theo­re­tisch damit das Werk­zeug bekom­men, Musik zu machen. Ich kann dir eine C-​Dur auf­ma­len, dann ist aber auch Schluss. Ich kann auch nicht sin­gen – jeden­falls nicht gut. Ich kann auch kein Frui­ty Loops bedie­nen und mir fehlt die Moti­va­ti­on, mich da rein­zu­fuch­sen. Aber mit dem, was ich vor­hin gesagt hab' in Bezug auf Goo­gleLM: Da ist es ja tat­säch­lich so, dass du nur in mensch­li­cher Spra­che ein­ge­ben musst, was du haben möch­test. Bei­spiels­wei­se gibst du "Techno-​Beat, 120 bpm, 3 Minu­ten, düs­te­re Atmo­sphä­re, Syn­the­si­zer" ein und war­test dann ab, was kommt. Da brau­che ich kei­ne groß­ar­ti­gen Fach­kennt­nis­se mehr. Das ist im Sin­ne einer Demo­kra­ti­sie­rung ein enor­mer Fort­schritt. Ande­rer­seits muss man sich die Fra­ge stel­len: Wie komm' ich denn an die­ses Tool? Wenn Goog­le 1.000 Euro im Monat dafür von mir möch­te, habe ich schnell ein Pro­blem. Wenn die Betrei­ber die­ser Tools den Hahn zudre­hen, war es das erst mal mit der frei­en Nut­zung. Wenn man die­se nur einer bestimm­ten Ziel­grup­pe zur Ver­fü­gung stellt, und das wird ver­mut­lich immer an Geld geknüpft sein, hat es sich schnell mit der Demo­kra­ti­sie­rung erledigt.

MZEE​.com​: Ich könn­te mir vor­stel­len, dass gera­de bei der Ver­mark­tung von Musik die KI dabei hel­fen kann, die­se noch schnel­ler und geziel­ter zu den Hörer:innen zu bringen.

Mathi­as Lieg­mal: Das ist ja etwas, das Spo­ti­fy eh schon ver­sucht, dadurch dass sie die Emp­feh­lungs­al­go­rith­men ste­tig ver­bes­sern. Dabei muss gar nicht mein Label oder wer auch immer mei­ne Ver­mark­tung macht tätig wer­den. Spo­ti­fy selbst hat ja auch ein Inter­es­se dar­an, mei­nen Geschmack so gut wie mög­lich zu treffen.

MZEE​.com​: Was ist dei­ner Mei­nung nach ein gelun­ge­nes Bei­spiel dafür, wie KI bereits in der Musik­in­dus­trie ein­ge­setzt wird – sei es in der eigent­li­chen Musik selbst oder in der Art, wie sie etwa ver­trie­ben oder kon­su­miert wird?

Mathi­as Lieg­mal: Das inter­es­san­tes­te Bei­spiel und ver­mut­lich mit das popu­lärs­te ist das Kendrick Lamar-​Video zu "The Heart Part 5". In die­sem hat er die Deepfake-​Technologie genutzt, um sich in Will Smith, Kanye West oder OJ Simpson rein­zu­de­epf­aken. Dabei hat er jeweils das Gesicht von denen ange­nom­men. Das hat für ordent­lich Auf­merk­sam­keit gesorgt, da dem Otto Nor­mal­ver­brau­cher nicht unbe­dingt bewusst war, wie weit wir in die­sem Bereich tech­nisch bereits sind. Inter­es­san­ter­wei­se hat ein Musi­ker namens Skyg­ge das Gan­ze noch ein biss­chen wei­ter gespielt und auf Twit­ter ein Video ver­öf­fent­licht, in dem man den Kendrick Lamar-​Clip sehen kann, in dem sich des­sen Gesicht ändert. Hier wur­de aber zusätz­lich die Stim­me geän­dert, sodass man Kendrick Lamar nicht nur als Will Smith sieht, son­dern auch hört. Das wäre aus mei­ner Sicht ein noch coo­le­rer Move von Kendrick Lamar gewe­sen. Aber letzt­lich war das Video schon einer der Mei­len­stei­ne der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit. Wobei die Tech­nik dahin­ter eigent­lich gar nicht so inter­es­sant ist, aber die Auf­merk­sam­keit, die dadurch gene­riert wur­de, ist enorm gewe­sen. Ansons­ten fal­len mir jetzt nicht so vie­le Bei­spie­le ein, es gibt aber noch ein paar Sachen. Es gibt einen Tra­vis Scott-​Bot namens Tra­vis Bot, der ein biss­chen Auf­merk­sam­keit bekom­men hat. Es gibt einen Deepf­ake von Emi­nem, in dem er Mark Zucker­berg disst. Zudem gibt es einen YouTube-​Channel, bei dem Jay-​Z Shake­speare vor­liest. Der User Rober­to Nick­son hat auf Twit­ter kürz­lich gezeigt, wie man mit­hil­fe von KI einen Kanye West-​Part ein­rap­pen kann, ohne selbst Kanye zu sein. Aber mir fehlt noch der gro­ße Knall. Wie gesagt, aus mei­ner Sicht sind wir noch ein biss­chen davon ent­fernt, dass Musik mas­sen­taug­lich von KI gene­riert wird. Aber das sind so Sachen aus der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit, die ganz inter­es­sant waren.

MZEE​.com​: KI ist nicht nur in der Musik- bezie­hungs­wei­se Kul­tur­bran­che all­ge­mein ein heiß dis­ku­tier­tes The­ma. Auf Lin­ke­dIn gibt es der­zeit bei­spiels­wei­se eine Dis­kus­si­on dar­über, ob Künst­li­che Intel­li­genz auch die Pfle­ge ent­las­ten könn­te. Was sind dei­ner Mei­nung nach die Berufs­fel­der, die am meis­ten von KI pro­fi­tie­ren könn­ten, und wel­che sind am stärks­ten gefährdet?

Mathi­as Lieg­mal: (über­legt) Das ist schwie­rig. In der Pfle­ge gibt es das mei­nes Wis­sens nach schon. In asia­ti­schen Län­dern ist der Pfle­ge­ro­bo­ter schon deut­lich übli­cher als bei uns. Es gibt dort zum Bei­spiel eine Roboter-​Robbe namens Paro, die im the­ra­peu­ti­schen Bereich ver­wen­det wird. Dar­über hin­aus gibt es Ver­su­che, Chat­bots als The­ra­peu­ten oder zumin­dest als Mit­tel gegen Ein­sam­keit ein­zu­set­zen. Gene­rell ist KI in der Medi­zin gera­de ein Riesen-​Thema, zum Bei­spiel bei der Aus­wer­tung von Rönt­gen­bil­dern. Hier leis­tet Künst­li­che Intel­li­genz schon deut­lich bes­se­re Arbeit als ein mensch­li­cher Arzt. Das soll­te man aber noch mit Vor­sicht genie­ßen. Es soll­te trotz­dem immer noch mal ein Mensch drü­ber­gu­cken. Aber grund­sätz­lich schnei­det die KI hier im Ver­gleich deut­lich bes­ser ab. Was es in Zukunft auch geben wird – bezie­hungs­wei­se gibt es das jetzt schon, nur ist es noch nicht zwin­gend markt­reif –, ist die Indi­vi­dua­li­sie­rung von Medi­ka­men­ten. Dabei schaut man sich dei­ne DNA an und schnei­det anschlie­ßend Medi­ka­men­te expli­zit auf dich als ein­zel­nen Men­schen zu. In der Medi­zin wird noch enorm viel pas­sie­ren. Des­we­gen glau­be ich, dass KI dort deut­lich stär­ker zum Tra­gen kom­men wird als bei­spiels­wei­se in der Musik. Nicht dass das Musik­ge­schäft ein klei­ner Markt wäre, aber ich glau­be, der Fokus liegt momen­tan noch woan­ders. Im Prin­zip wird es in allen Berei­chen, bei denen es sich wie­der­ho­len­de Pro­zes­se gibt und genü­gend Daten zur Ver­fü­gung ste­hen, die rasan­tes­ten Ent­wick­lun­gen geben. Ob die Bran­che nun davon pro­fi­tiert oder nicht, ist eine ande­re Fra­ge. Da kön­nen Leu­te eben ihren Job ver­lie­ren. Ansons­ten, glau­be ich, wird das im Mili­tär­be­reich sehr viel Anwen­dung fin­den. Es gab gera­de den Ver­such, sich mit­hil­fe von Künst­li­cher Intel­li­genz neue che­mi­sche Waf­fen aus­zu­den­ken. Ich glau­be, die betei­lig­ten For­scher waren selbst erschro­cken, wie vie­le mög­li­che Kom­bi­na­tio­nen es gäbe und wie pro­blem­los die KI die­se aus­ge­spuckt hat. Medi­zin und Mili­tär sind also, soweit ich weiß, die Berei­che, bei denen sich das am meis­ten aus­wir­ken wird. Aber ChatGPT wird die Büro­welt auch deut­lich umkrem­peln, da bin ich mir sicher. Denn Micro­soft bin­det ja GPT-​4 in all sei­ne Pro­duk­te, wie Word, Power­Point oder Excel, ein. Das wird schon einen ordent­li­chen Ein­fluss haben, gera­de in Informationsgesellschaften.

MZEE​.com​: Vie­le Dis­kus­sio­nen zu dem The­ma wer­den schnell emo­tio­nal. War­um ist das so? Glaubst du, es ist die Angst, ersetzt zu wer­den, die aus den­je­ni­gen spricht, die die Tech­nik pau­schal ver­teu­feln? Oder viel­leicht sogar die Angst, dass die Din­ge aus dem Ruder lau­fen und die KI nicht mehr zu kon­trol­lie­ren ist?

Mathi­as Lieg­mal: Es gibt vie­le ver­schie­de­ne Ängs­te. Die lebens­nahs­te ist die, dass man sei­nen Job ver­liert. Ob irgend­wann in 20 Jah­ren noch die KI durch­dreht und uns alle umbringt, ist rela­tiv weit weg. Wer sich schon län­ger mit Sprach­mo­del­len beschäf­tigt, wird von ChatGPT nicht groß­ar­tig über­rascht wor­den sein, denn Ope­nAI sind nicht die ein­zi­gen, die auf die­sem Niveau agie­ren. Der Unter­schied ist, dass sie es Men­schen wie dir und mir kos­ten­los zugäng­lich gemacht haben. Dadurch ist erst­mals die brei­te Mas­se mit dem aktu­el­len tech­ni­schen Stand in Berüh­rung gekom­men und dem­entspre­chend geschockt gewe­sen. Auf einer Meta­ebe­ne stellt sich für den Men­schen die Fra­ge, was uns als sol­che über­haupt aus­macht. Das The­ma Krea­ti­vi­tät war lan­ge Zeit eine Sache, die der Mensch exklu­siv für sich hat­te, wäh­rend der Begriff "Künst­li­che Intel­li­genz" sich immer wie­der ver­scho­ben hat. Frü­her hät­te man gesagt, dass man intel­li­gent sein muss, um Wur­zel­be­rech­nun­gen durch­zu­füh­ren. Plötz­lich kann das eine Maschi­ne aber deut­lich bes­ser als du. Und dann denkt man sich: "Ist halt ein Taschen­rech­ner. Das ist ja nun kei­ne Künst­li­che Intel­li­genz." Also ver­schiebt man die Defi­ni­ti­on. Frü­her hät­te man auch gesagt, dass kei­ne Maschi­ne Schach spie­len kann. Nun kön­nen aber Maschi­nen sehr gut Schach spie­len – bes­ser als Men­schen. Dar­auf­hin ver­schiebt man die­se Defi­ni­ti­on wie­der. Und das ist immer wie­der pas­siert. Und dann sagt man: "Ja, gut, Intel­li­genz, von mir aus. Logik ist eine Sache, die Com­pu­tern nun mal liegt. Aber krea­tiv sind Maschi­nen nicht." Und mitt­ler­wei­le, in den jüngs­ten ein, zwei Jah­ren, haben wir durch Dall-​E, Sta­ble Duf­fu­si­on oder Mid­jour­ney (Anm. d. Red.: drei der bekann­tes­ten KI-​Systeme in krea­ti­ven Zwei­gen) fest­ge­stellt: "Ach, Mensch, wenn wir genug Daten vor­lie­gen haben, sind Com­pu­ter auch krea­tiv." Dass man dadurch als Mensch ein­ge­schüch­tert wird und man sich lang­sam, aber sicher die Fra­ge stellt, was einen über­haupt noch als Men­schen aus­macht, kann sich eben­falls sehr gefähr­lich anfühlen.

MZEE​.com​: Was, denkst du, macht es mit unse­rem Ego und unse­rer kol­lek­ti­ven Psy­che als Men­schen, wenn Maschi­nen plötz­lich in der Lage zu sein schei­nen, so vie­le Din­ge so viel bes­ser zu kön­nen als wir?

Mathi­as Lieg­mal: Es kann sich bedroh­lich anfüh­len, muss es aber nicht. Es kommt dar­auf an, wie sich alles ent­wi­ckelt. Du hat­test noch die Gefahr ange­spro­chen, dass Künst­li­che Intel­li­genz zur Bedro­hung für die Mensch­heit im Sin­ne von "Leben und Tod" wer­den könnte.

MZEE​.com​: Das habe ich so nicht for­mu­liert, aber dass es aus dem Ruder lau­fen und die KI nicht mehr zu kon­trol­lie­ren sein könn­te, genau.

Mathi­as Lieg­mal: In so einem Fall reden wir von einer soge­nann­ten star­ken KI, die von einer schwa­chen zu unter­schei­den ist. Eine schwa­che KI kann nur Ein­zel­auf­ga­ben erle­di­gen. Die KI, die einen Tes­la fährt, kann kei­ne Bil­der malen. Eine star­ke KI kann aber alles. Elon Musk warnt nur all­zu ger­ne davor. Aber das muss man, glau­be ich, ein biss­chen mit Vor­sicht genie­ßen, wenn man bedenkt, was der sonst so von sich gibt. Grund­sätz­lich sind wir von einer star­ken KI momen­tan noch weit ent­fernt und eine schwa­che KI dürf­te selbst im schlimms­ten Fall immer noch gut zu brem­sen sein.

MZEE​.com​: Die Abgren­zung zwi­schen klas­sisch mensch­li­chen und maschi­nel­len Fähig­kei­ten wird in Zukunft unwei­ger­lich immer mehr ver­schwim­men. Krea­ti­vi­tät ist, wie du bereits gesagt hast, für KI schon lan­ge kein Pro­blem mehr. Aber was denkst du, inwie­weit sie abs­trak­te­re mensch­li­che Eigen­schaf­ten wie die Fähig­keit zu lie­ben oder Selbst­re­fle­xi­on ent­wi­ckeln kann?

Mathi­as Lieg­mal: (über­legt) Da bin ich zwie­ge­spal­ten. Einerseits gibt es durch­aus Natur­wis­sen­schaft­ler oder Phi­lo­so­phen, die die Mei­nung ver­tre­ten, dass sich im mensch­li­chen Kör­per letzt­lich auch nur Wenn-​dann-​Regeln abspie­len, bei denen Signa­le hin und her geschickt wer­den. Natür­lich nicht eins zu eins. Man baut ja auch bei künst­li­chen neu­ro­na­len Net­zen nicht eins zu eins ein mensch­li­ches Gehirn nach, aber die Funk­ti­on wird im End­ef­fekt imi­tiert. Ich bin mir nicht hun­dert­pro­zen­tig sicher, ob es nicht doch mög­lich wäre, Emo­tio­nen nach­zu­bil­den. Ich den­ke jetzt spe­zi­ell an den Phi­lo­so­phen Dani­el Den­nett, der sogar anzwei­felt, dass wir so etwas wie Bewusst­sein haben. Es fängt damit an, und das schrei­be ich auch in mei­nem Buch, dass Begrif­fe wie Intel­li­genz oder Bewusst­sein über­haupt nicht klar defi­niert sind – auch nicht für den Men­schen. Der Ver­such, die Fra­ge zu beant­wor­ten, ob der Com­pu­ter die­se Eigen­schaf­ten nun hat oder nicht, führt letzt­lich zu nichts, solan­ge wir kei­nen kla­ren Begriff von Intel­li­genz oder Bewusst­sein haben. Wenn wir das dar­über hin­aus wie­der auf krea­ti­ve Pro­zes­se bezie­hen wol­len, stellt sich für mich immer die Fra­ge, ob rea­le Emo­tio­nen oder ein Bewusst­sein dafür über­haupt not­wen­dig sind oder nicht. Klar wür­de man behaup­ten, Kanye hät­te "808s & Heart­break" nie­mals ohne Herz­schmerz oder den Ver­lust sei­ner Mut­ter so auf­neh­men kön­nen. Das möch­te ich aber bezwei­feln. Ich glau­be, wir wol­len ein­fach dar­an glau­ben, dass man dazu sol­che Eigen­schaf­ten braucht. Denn das gibt uns als Men­schen wie­der die Sicher­heit: "Das kön­nen Maschi­nen nicht." Vor­hin haben wir gesagt: "Die kön­nen nicht krea­tiv sein." Dann haben wir fest­ge­stellt: "Okay, kön­nen sie doch." Und dann sagen wir: "Ja, aber sie kön­nen nicht lie­ben. Und die Fähig­keit zu lie­ben brau­chen sie irgend­wie schon, um so ein Werk zu schaf­fen." Ich glau­be, wenn eine Maschi­ne genug Wer­ke ana­ly­sie­ren kann, in die ein Mensch Lie­be hin­ein­ge­steckt hat, wird sie das auch imi­tie­ren kön­nen. Und dann stellt man sich die Fra­ge, ob wir dem Werk am Ende über­haupt anmer­ken, ob die Enti­tät, die die­ses Werk zustan­de gebracht hat, ein Bewusst­sein hat oder wol­len wir nur dar­an glau­ben, dass sie eins hat? Ändert es etwas am Werk, wenn wir auf ein­mal her­aus­fin­den, dass es Kanye nie gege­ben hat und alles nur ein Com­pu­ter war? Ich glau­be nicht. Ver­än­dert es unse­re Wahr­neh­mung sei­nes Werks, wenn wir her­aus­fin­den, dass da gar kein Mensch dahin­ter­steckt? Natür­lich tut es das.

MZEE​.com​: In Bezug auf das The­ma Musik stim­me ich dir zu 100 Pro­zent zu. Ich den­ke, die Fra­ge ist noch span­nen­der, wenn man den Blick­win­kel wei­ter fasst. Wenn eine star­ke KI sich plötz­lich selbst reflek­tie­ren kann und anfängt, eige­ne Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Wenn sie sagen kann "Moment mal, viel­leicht ver­hal­te ich mich nicht so, wie ich pro­gram­miert wur­de", und sie beginnt, ihren eige­nen Wil­len zu ent­wi­ckeln. Dann hät­te das viel weit­rei­chen­de­re Kon­se­quen­zen und das Ergeb­nis wäre noch deut­lich spannender.

Mathi­as Lieg­mal: Es gab kürz­lich einen Ent­wick­ler – ich glau­be, bei Goog­le. Der war der Mei­nung, sei­ne Sprach-​KI hät­te ein Bewusst­sein ent­wi­ckelt. Der wur­de dann frei­ge­stellt. (lacht) Das ging ganz wit­zig durch die Nach­rich­ten. Das ist immer wie­der ein Sze­na­rio, das bespro­chen wird. Aber das ist halt der Worst Case. Wie gesagt, wir sind noch weit davon ent­fernt, die­se Zukunfts­sze­na­ri­en zu bespre­chen, bei denen es um Leben und Tod geht.

MZEE​.com​: Bill Gates, der mit Micro­soft kürz­lich meh­re­re Mil­li­ar­den Dol­lar in den ChatGPT-​Entwickler Ope­nAI inves­tiert hat, sag­te Anfang Febru­ar in einem Inter­view mit dem Han­dels­blatt, dass die Ent­wick­lung von KIs so wich­tig sei wie die Erfin­dung des Inter­nets. Abschlie­ßend wür­de ich ger­ne von dir wis­sen, ob du die­ser Aus­sa­ge zustimmst oder ob du sie für über­trie­ben hältst.

Mathi­as Lieg­mal: Ich habe ja ein­gangs gesagt, dass es durch­aus als revo­lu­tio­när anzu­se­hen ist, was wir momen­tan sehen. Man muss das aber immer mit Vor­sicht genie­ßen. Es gibt einen soge­nann­ten Hype-​Zyklus und die Technik-​Version davon nennt sich Ama­ras Gesetz, basie­rend auf dem Futu­ris­ten Roy Charles Ama­ra. Der hat for­mu­liert, dass wir tech­ni­sche Fort­schrit­te kurz­fris­tig über­schät­zen, lang­fris­tig aber unter­schät­zen. Und die­ses Wis­sen hilft einem dabei, die aktu­el­le Ent­wick­lung bes­ser ein­zu­schät­zen, macht einen aber nicht hun­dert­pro­zen­tig gefeit vor Feh­lern. Was momen­tan auf die­sem Gebiet pas­siert, ist alles sehr beein­dru­ckend. Man muss sich aber immer wie­der sagen, dass es nicht jah­re­lang auf dem Niveau wei­ter­geht. Das wird sich erst mal wie­der ein­pen­deln. Dann wird es wie­der einen klei­nen Hype geben und so wei­ter. Aber grund­sätz­lich, glau­be ich, liegt Bill Gates schon sehr nah an der Wahr­heit, die ich ver­mu­te. (schmun­zelt) Ich wür­de die drei tech­no­lo­gi­schen Errun­gen­schaf­ten, die unser täg­li­ches Leben in den letz­ten und kom­men­den Jahr­zehn­ten am meis­ten ver­än­dert haben und ver­än­dern wer­den, wie folgt ein­stu­fen: zuerst die Erfin­dung des Inter­nets, dann das Smart­phone und schließ­lich die KI. Nie­mand weiß genau, wie die Ent­wick­lung Künst­li­cher Intel­li­genz uns wei­ter beein­flus­sen wird. (schmun­zelt) Aber ich bin mir sicher, dass vie­les umge­dreht und umge­wälzt wer­den wird.

(Stef­fen Bauer)
(Fotos wur­den gene­riert von der KI "Mid­jour­ney")