"Warum nicht BWL, gutes Geld? Danke, nein!" – Lostboi Lino macht auf seinem Song "Danke Nein" unmittelbar verständlich, was er von gut gemeinten Ratschlägen dieser Art denkt. Den einfachen, unkomplizierten Weg zu gehen, wie viele andere es schon vor ihm taten, entspricht nicht dem, was der aus der Nähe von Stuttgart kommende Rapper tut. Als Sandwichkind mit älteren und jüngeren Geschwistern war er derjenige unter ihnen, der schon im Teenageralter rebellierte, indem er anfing zu rauchen und Alkohol zu trinken. Statt nach seiner Ausbildung in einem unbefristeten Angestelltenverhältnis zu arbeiten, jobbte er in verschiedenen Bereichen, organisierte Konzerte, filmte und fotografierte, bis es ihn selbst vor die Kamera und auf die Bühne trieb. Auch musikalisch lässt seine Musik sich nicht ohne Weiteres einordnen. Denn Gitarrenriffs und Grunge-Einflüsse sind normalerweise nicht die ersten Dinge, die man in einem Raptrack vermutet. In seinen Texten geht es viel um Abgrenzung und Druck, der durch gesellschaftliche Erwartungen entsteht. Umso spannender war es, mit ihm über verschiedene Facetten von Rebellion und seine musikalischen Einflüsse zu sprechen. Im Interview ging es außerdem um rebellische Phasen seiner Jugend, Konformität in der Kunst und Albert Einstein.
MZEE.com: 1965 haben die Rolling Stones ein Konzert auf der Waldbühne gegeben, bei dem die Fans völlig eskaliert sind. Es folgte ein Bühnenabriss und Straßenschlachten mit der Polizei. Viele, insbesondere Alt-68er, verbinden diese Art von Gitarrenmusik mit Rebellion. Auch du benutzt die klassischen, Blues angehauchten Gitarrenriffs am Anfang deines Songs "Phase". Was verbindest du mit Gitarrenmusik wie jener der Rolling Stones oder AC/DC?
Lostboi Lino: Ich bin immer auf der Suche nach Gitarrenriffs, die sehr simpel sind, aber dennoch einen eigenen Groove haben und schon fast rhythmisch sind. Es löst ein schönes, gutes Gefühl in mir aus, wenn ich solche Gitarrenriffs höre. Meine Mutter hatte damals eine AC/DC-Kassette im Auto. Die lief hoch und runter, wenn wir Auto gefahren sind. Vielleicht kommt meine Affinität zu dieser Art von Musik daher.
MZEE.com: In Interviews liest man immer wieder, dass dein Umfeld dich als Rebell bezeichnet. Gab es Situationen in deinem Leben, in denen du mit rebellischem Verhalten an eine Grenze gestoßen bist?
Lostboi Lino: Ja, es gab einige solcher Momente, in denen ich gemerkt habe, dass es anders wahrscheinlich einfacher für alle wäre. Ich habe damals sehr oft meine Arbeitsstelle gewechselt. Denn ich bin nicht der Pünktlichste. Natürlich verstehe ich das Konzept und es ergibt auch Sinn. Ich komme aber morgens einfach nicht raus und dann ist mir alles egal. Durch meine Unpünktlichkeit bin ich oft angeeckt.
MZEE.com: In deinem Song "Danke Nein" thematisierst du die Rebellion gegen den Lebenstraum, den viele verfolgen: eine gute Ausbildung machen, einen sicheren Job haben, ein Haus bauen. Siehst du das persönlich genauso wie in dem Song beschrieben?
Lostboi Lino: Ich sehe es nicht als Fehler, dass ich eine Ausbildung gemacht habe. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich nicht in diese Art von Leben reinpasse und ich mich in diesem Umfeld nicht wohlfühle. Deshalb habe ich nach einer Alternative gesucht. Die Ausbildung hab' ich im Grunde nur gemacht, weil mein Vater mir das nahegelegt hat. Er tat das, weil Eltern sich Sicherheit für ihre Kinder wünschen. Dazu habe ich mal ein ganz cooles 2Pac-Interview gesehen, in dem er meinte, dass Eltern ihren Kindern nicht vertrauen. Sie schenken ihnen eher Misstrauen, das verunsichert die Kinder dann. Vielleicht kommt das Rebellieren auch ein bisschen daher. Man möchte ihnen dann das Gegenteil beweisen und sich dieses Vertrauen erkämpfen.
MZEE.com: Warst du als Teenager rebellisch?
Lostboi Lino: Ja. Als meine Eltern getrennt waren, war mein Vater 400 Kilometer entfernt und hat viel gearbeitet. Meine Mutter musste ebenfalls arbeiten. Das heißt, zu Hause war einfach niemand außer meine Geschwister. Da war ich viel unterwegs. Es hat niemanden interessiert oder niemand hatte Zeit. Dadurch wurde es immer extremer und wir haben einfach Dinge aus Langeweile gemacht. Vielleicht auch, um ein bisschen aufzufallen. Es war auf jeden Fall eine harte Zeit. Dadurch kommt vielleicht das Rebellische. Ich weiß gar nicht, was den typischen Rebellen überhaupt ausmacht.
MZEE.com: Viele testen in der Jugend die Grenzen aus und schauen, welche Konsequenzen es gibt, wenn man sie überschreitet. War das bei dir auch so?
Lostboi Lino: Wir haben die Grenzen verschoben. Ich kann mich an eine Aktion erinnern, da hat ein Kumpel bei mir geschlafen. Wir hatten die Türklinke aus meinem Zimmer entfernt und sind über den Balkon abgehauen. Irgendwann kam meine Mutter heim und hat gemerkt, dass wir nicht drinnen sind. Dadurch, dass ich davor schon sehr viel Scheiße gebaut hab', hat sie das Schlimmste vermutet und dachte, wir sind bewusstlos und haben Alkohol getrunken. Dann hat sie die Zimmertür eingetreten und es war niemand da. Sie ist durch den ganzen Ort gefahren und hat uns gesucht. Letztendlich hat sie uns dabei erwischt, wie wir Kippen aus dem Automaten geklaut haben. Früher gab es Automaten mit Schubladen. Da konnte man mit einer Schere die Päckchen aufschneiden und einzeln Kippen rausziehen. Wir hatten halt kein Geld. (lacht)
MZEE.com: Wie war es für dich, wenn deine Geschwister rebelliert haben? Du hast mal gesagt, dass du dich selbst oft als großer Bruder fühlst.
Lostboi Lino: Ich glaube, die haben gar nicht so krass rebelliert. Zumindest nicht so extrem wie ich. Die sind eigentlich fast das Gegenteil von mir. Ich habe eine ältere Schwester, bei der ging es schon eher in die Richtung, aber eigentlich hat die einfach ihr Ding gemacht. Sie war dabei aber immer sehr verantwortungsbewusst. Ich hingegen bin das Sandwichkind, von dem man nichts erwartet und von dem man auch nichts will. (lacht)
MZEE.com: Hast du das Gefühl, dass du rebelliert hast, um Aufmerksamkeit zu bekommen?
Lostboi Lino: Es war gar nicht bewusst Rebellion und nicht bewusst das Suchen nach Aufmerksamkeit. Wir haben eher aus Langeweile probiert, wie Alkohol schmeckt oder zu rauchen. Es hat eh niemand was gesagt. Das meine ich mit Grenzen verschieben. Man kann es einfach machen, wenn man will. Dadurch kommt dieser Begriff Rebell. Ich glaube, viele assoziieren das Wort mit zerstören und kaputtmachen. Oft macht man sich eher selber kaputt dabei.
MZEE.com: Die klassischen Assoziationen mit Rebellion treffen also oft nicht zu. Was könnten denn weitere Intentionen dahinter sein?
Lostboi Lino: Albert Einstein war ein großer Rebell. Der hat jetzt nicht unbedingt Sachen kaputt gemacht. Natürlich gab es Konzepte, die durch ihn kaputt gegangen sind, ob er wollte oder nicht. Dadurch, dass er Sachen hinterfragt hat, die davor noch niemand hinterfragt hat. Durch sein Andersdenken hat er die Welt verändert und zwar zum Positiven.
MZEE.com: Wie hängen Aggression und Rebellion für dich zusammen?
Lostboi Lino: Ich würde die Begriffe unabhängig voneinander sehen. Ich kann das jetzt gar nicht begründen, es ist eher ein Gefühl. Eine Aggression ist eher ein Affekt oder braucht einen Auslöser und eine Rebellion nicht. Eine Rebellion kann auch von innen heraus entstehen. Albert Einstein hat, als er 18 war, seinen Personalausweis abgegeben, weil er keinem Staat angehören wollte. Das ist keine Aggression. Er hat darin keinen Sinn gesehen, diesen Grenzen anzugehören, die irgendjemand gesetzt hat. Das ist eine Rebellion und keine Aggression. Er macht nichts kaputt damit. Es ist eine logische Hinterfragung.
MZEE.com: Also hat es für dich auch etwas mit Andersartigkeit zu tun?
Lostboi Lino: Natürlich ist es selten, dass jemand seinen Ausweis abgibt. Aber für Albert Einstein war es vielleicht ein logischer Schluss, den er in die Tat umsetzt. Nur für alle anderen wirft es Fragen auf. Ich habe letztens eine Doku über Schwärme gesehen. Wenn eine Gruppe von Menschen nach oben schaut, bleiben weitere stehen und gucken auch hoch. Je mehr Menschen das machen, desto mehr folgen. Unabhängig, ob das jetzt einen Grund hat oder nicht, ohne zu hinterfragen. Rebellen hinterfragen. Warum gucken die Menschen jetzt da hoch? Einmal hoch gucken, was passiert da? Wenn da nichts passiert, weitergehen. Aber es gibt auch Menschen, die bleiben stehen und gucken halt ins Nichts, ohne das zu hinterfragen.
MZEE.com: Kinder sind neugierig und hinterfragen am Anfang erst mal alles. Im Laufe des Lebens kommen dann Konformität und Regeln dazu. Glaubst du, dass Rebellen ihr Leben lang rebellisch bleiben oder kann sich das im Laufe des Lebens verändern?
Lostboi Lino: Ich glaube, Rebell zu sein, ist anstrengend, weil man immer aneckt. Man muss sich anderen gegenüber erklären, wenn man es anders macht. Man schwimmt sozusagen gegen den Strom. Es ist dann einfacher, sich der Masse anzuschließen und nicht zu hinterfragen, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Zum Beispiel, wenn man in der Schule Fragen stellt, aber von Mitschülern ausgelacht wird, wenn man das tut. Das macht man vielleicht zwei-, dreimal und dann hat man keine Lust mehr, obwohl man vielleicht eine Frage zu dem Thema hätte. Es verändert sich und wenn das nicht von innen heraus kommt, dass man hinterfragt, ist es halt einfacher. Menschen bestehen zu achtzig Prozent aus Wasser und das geht immer den Weg des geringsten Widerstands. (lacht)
MZEE.com: Kurt Cobain hat einmal gesagt: "Sie lachen über mich, weil ich anders bin. Ich lache über sie, weil sie alle gleich sind." – Wie betrachtest du die Beziehung zwischen Konformität und Rebellion in der Kunst?
Lostboi Lino: Das ist erst mal lustig, denn ich habe eine ähnliche Zeile auf meinem neuen Album: "Warum fühlt es sich so falsch an, wenn sie sagen, es ist richtig? Sind mir die Dinge nur egal oder ihnen nur die falschen Dinge wichtig?" Ich kannte das Zitat nicht. Es gibt ganz viel konforme Musik, die in der Popschmiede gemacht wird. Da sitzen drei Songwriter zusammen und schreiben für den Sänger einen Text, der ihn dann singt. Das ist Konformität für mich. Das ist vielleicht auch dem Kapitalismus geschuldet, weil man als Künstler einen gewissen Druck hat, damit sein Geld zu verdienen. Die Kunst liegt darin, konform zu sein, aber auch eigene, neue Aspekte einzubringen, ohne dass es zu anders ist. Dass man bekannte Elemente benutzt, um daraus neue Dinge zu schaffen, damit auch andere einen Zugang dazu haben. Sonst wird es schwierig, wenn man nur sein Rebellentum und eine Mir-ist-egal-was-andere-denken-Attitüde hat. Dadurch wird man nichts verändern. Es ist immer ein Zwischenspiel zwischen konform sein und neue Dinge schaffen.
MZEE.com: Du hast dich neben der Musik auch schon anderweitig künstlerisch betätigt, zum Beispiel durch Malerei und Fotografie. Warum hast du dich für Musik als Kunstform entschieden?
Lostboi Lino: Es war damals so eine Phase. Da habe ich selber Veranstaltungen gemacht, weil ich keine Lust auf einen Nine-to-five-Job hatte. Dann habe ich mir mal eine Kamera gekauft, selber gefilmt, geschnitten, hab' fotografiert und Konzerte veranstaltet. Ich habe hier und da gehustlet, um zu überleben und habe versucht, herauszufinden, was ich überhaupt will. Das war eine geile Zeit und hat Spaß gemacht. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich nicht der Typ bin, der nur hinter der Kamera steht. Ich kann so was und ich weiß, wie es für mich ästhetisch gut aussieht, aber ich mag es nicht, nur vor dem Schnittprogramm zu sitzen. Ich muss vor die Kamera. Die ganzen Daten zu sichten und zu verarbeiten, hat sehr viel mit Organisation zu tun und ich bin nicht der organsierteste Mensch. Deswegen ist das auch weggefallen. Aber gib mir eine Kamera und ich mache schöne Fotos.
MZEE.com: Das ergänzt sich auch gut. Du setzt also andere künstlerische Disziplinen ein, um alles zu untermalen und deine Musik zu ergänzen, oder?
Lostboi Lino: Manchmal mehr schlecht als recht. Es fällt mir manchmal schwer, die Kontrolle abzugeben. Ich würde dann am liebsten selber die Kamera in die Hand nehmen. Ich arbeite daran, das anderen zu überlassen, sodass sie auch kreativ sein können. Aber ja, natürlich hilft es mir, das alles auch schon mal selbst gemacht zu haben.
MZEE.com: Bei Chimperator sind viele Künstler gesignt, die eine ungewöhnliche Herangehensweise an ihre Kunst haben. Auch du hast schon immer ein eher unkonventionelles Leben geführt. Wie gut fühlst du dich von deinem Label unterstützt?
Lostboi Lino: Ich fühle mich gut aufgehoben. Die lassen mir viel Freiraum und greifen nicht in den kreativen Prozess ein. Das ist mir wichtig. Sie schreiben mir nichts vor. Sie versuchen, eher zu unterstützen, wo sie können, und geben Empfehlungen. Aber am Ende liegt jede Entscheidung bei mir.
MZEE.com: Auf Social Media sticht einem deine Punk-Ästhetik sofort ins Auge, genau wie im Video zu "Phase". Was ist deine Inspiration?
Lostboi Lino: Ich mag die roughe Punk-Ästhetik, Silber und Tartan-Hosen. Das gefällt mir einfach. Das Video zu "Phase" sollte ein bisschen meine Jugend ausdrücken. Ich versuche in dem Video gar nicht so sehr, Punk zu sein. Die Perspektive wechselt: Mal bin ich selbst Teil dieser Gruppe, mal nicht. Ich bin da mein eigener großer Bruder und sehe, wie ich damals rumgelaufen bin und wie es sich ungefähr angefühlt hat. Das Thema Rebellion ist manchmal auch nur eine Phase und so heißt auch mein neues Album, das am 21. Juli 2023 hoffentlich rauskommt. (lacht)
(Malin Teegen)
(Fotos von Paul Hoppe und Lea Fleck)