Gerard – ein Gespräch über die Künstlerkarriere
Musiker, Buchautor, Tech-Gründer, Singer-Songwriter – Gerards berufliche Stationen sind so vielfältig wie seine musikalische Karriere. Vor knapp drei Jahren kam ein weiteres Berufsfeld hinzu. Als Head of A&R unterstützt er Artists hinter den Kulissen, anstatt selbst im Rampenlicht zu stehen. Zuvor hat der Wahl-Berliner in über zwölf Jahren als Künstler schon alle Ups und Downs miterlebt, die so ein Leben mit sich bringt: von den erfolgreichsten Momenten rund um sein eigenes Album "Blausicht" bis hin zum Entschluss, aus seinem Beruf als Rapper wieder ein Hobby zu machen. Wir haben mit Gerard über den Verlauf seiner Karriere gesprochen, ob er heute irgendetwas anders angehen würde und welche Ratschläge er in seiner aktuellen Anstellung jungen Künstler:innen mit auf ihren Weg gibt.
MZEE.com: Ich möchte dieses Interview mit einem Song vom Anfang deiner Karriere beginnen. Auf "Bereit oder nicht" aus dem Jahr 2007 rappst du: "Ich werde weiter an meinem Traum bauen, mein Traumhaus, an meinem Traumstrand. Lacht mich ruhig aus, nur weil ich einen Traum hab'." – Erinnerst du dich noch daran, was für Träume der damals vielleicht 19-jährige Gerard hatte?
Gerard: Ich habe erst letztens in das Album "Rising Sun" reingehört. Da rappe ich auf einem anderen Song davon, dass ich "10 000 verkaufen will", weil man in Österreich damit Gold-Status bekommt. Das schaffte damals natürlich noch keiner mit Rap und mit "Blausicht" habe ich das tatsächlich erreicht. Auf dem Album sind einige Zeilen über Wünsche, die sich später erfüllt haben, und dafür bin ich unglaublich dankbar. Maeckes hatte dazu auf unserem gemeinsamen Song "Gelb" eine passende Zeile: "Man muss sich Träume sehr gut merken, weil es sonst sein kann, dass man sie nicht mehr erkennt, wenn man sie längst erreicht hat." Lustig, wenn man in so was später reinhört. Das fühlt sich wie ein kleines Tagebuch an. Mein Traum war es damals jedenfalls, von Musik leben zu können und nicht mehr in die Schule oder in die Uni zu müssen. (grinst)
MZEE.com: Weißt du noch, wie du dir das Leben als Künstler damals vorgestellt hast?
Gerard: Ich hatte eigentlich gar keine Vorstellung. Vor allem in Österreich konnten zu meiner Zeit nur wenige Austropop-Legenden oder Schlagerartists von der Musik leben, Rapper oder moderne Pop-Sänger nicht. Selbst Wanda oder Bilderbuch haben das erst später geschafft. Von daher stellte sich die Frage gar nicht. Auf Songs konnte man sich viel zusammenfantasieren, wie ein solches Leben aussehen könnte, aber ernsthafte Gedanken waren da nie dabei.
MZEE.com: Wenn das der damalige Status quo in Österreich war, wo hast du Inspiration für deine Musik gesucht?
Gerard: Bei deutschen Rappern. Dynamite Deluxe, Curse, Eins Zwo, vor allem Savas und M.O.R. während den Hochzeiten von Napster, als auf Partys auch gerne mal gebrannte Rohlinge mit Deutschrap-Alben rumgingen. Teilweise war ich auch inhaltlich nahe an meinen Vorbildern, damals, mit 15. (grinst) Zum Glück habe ich aber recht schnell verstanden, dass man seine eigene Geschichte erzählen sollte. Was mich an M.O.R. inspiriert hat, war ihre Attitüde und ihr Output. Der Wille, neue Mucke zu machen und rauszubringen. Diese Vorstellung, dass die Jungs aus dem Kinderzimmer heraus ihre Kassetten verkauft haben und die Musik dann irgendwie im Internet landete … An echte Plattenverträge war damals für mich noch nicht zu denken.
MZEE.com: Mit "Blausicht" hast du dir deine erste Chart-Platzierung gesichert – sechs Jahre nach deinem Debüt-Album. Wenn man die Platte mit "Blur" oder "Rising Sun" vergleicht, wirkt alles deutlich gereifter, stilsicherer. Was hat sich im Entstehungsprozess beider Platten geändert und welche Ziele hast du dir selbst damit gesetzt?
Gerard: Zum einen war ich bei "Blur" 22 Jahre alt und "Blausicht" ist zwischen 22 und 26 Jahren entstanden. Das Alter ist da mit Sicherheit sehr ausschlaggebend. Zweitens sind meine Einflüsse andere geworden: Einer meiner besten Freunde hat damals als Fotograf alles Visuelle übernommen, von Cover-Ideen über Grafiken bis hin zu allen Videos. Und mein anderer engster Freund war Nvie Motho, der damals angefangen hat, Beats zu bauen. Sein erster wurde direkt zum Track "Lissabon". Wir drei waren total inspiriert von Leuten wie Hudson Mohawke, der häufiger in Wien auflegte, und dachten uns: "Der macht Musik wie sonst keiner." Wir haben dann angefangen, diese Einflüsse mit Deutschrap zu connecten. Andererseits inspirierten wir uns auch gegenseitig sehr viel. Einmal waren wir beispielsweise zu dritt eine Woche lang auf einer Hütte in den Alpen. Dort ist der Name "Blausicht" entstanden und ein großer Teil des gesamten Albums. Richtige Ziele, außer ein sehr gutes Album zu machen, haben wir uns eigentlich nicht gesetzt. Zu der Zeit waren wir drei in Wien und in Foren oder deutschen Blogs poppte "Lissabon" auf und wurde immer bekannter. Das war superspannend, weil wir in Wien weit weg vom Berliner Musikindustrie-Trubel waren, und trotzdem schien der Traum in greifbarer Nähe. Das hat uns auf der Reise zu "Blausicht" sehr viel Kraft gegeben.
MZEE.com: Wie habt ihr diese Welle an erster Aufmerksamkeit wahrgenommen? Hattet ihr das Gefühl, ein Momentum zu haben?
Gerard: Für mich, der vorher grob sechs, sieben Jahre Musik gemacht hat und nur wirklich sehr kleine Erfolge feiern konnte, hat es sich so angefühlt, als würde alles plötzlich funktionieren. Klar, mit "Rising Sun" durfte ich auf dem splash! spielen, mit "Blur" kam der erste Bericht in der JUICE – aber zu dem Zeitpunkt hatte ich bei "Blausicht" das Gefühl, mit jedem Video und jedem Lebenszeichen steigert sich die Aufmerksamkeit noch mehr. Dadurch, dass ich die Jahre zuvor aber recht erfolglos mit der Musik war, habe ich all diese Momente sehr zu schätzen gewusst. Außerdem standest du vor immer neuen Herausforderungen, die zu lösen waren, da blieb keine Zeit für einen Höhenflug. Der erste Live-Auftritt in der neuen Konstellation, diese ganze Platzierung im Laden und Deluxe-Boxen-Verkauf oder unser Auftritt bei Circus HalliGalli: Wie springen wir möglichst geil aus dem Schrank? Wenn du eine Sache abgehakt hast, gab es immer wieder eine neue Aufgabe, die wir von Neuem angehen mussten.
MZEE.com: Gab es da einen Moment, in dem du auch mal durchatmen und die Zeit reflektieren konntest oder galt nach Release von "Blausicht": höher, schneller, weiter?
Gerard: Den gab es erst, als ich von der zweiten "Blausicht"-Tour zurückkam. Das war der erste Moment, wo ich mich fragte, wie es weitergeht. Jetzt wieder ein Album? Dann wieder eine Tour? Das war durchaus eine Schrecksekunde, zu verstehen, dass ich jetzt alles hatte, wovon ich träumte, und sich dann fragen zu müssen: Ist das eigentlich wirklich, was du willst? Das weiß ich noch sehr genau.
MZEE.com: Und wie hast du die Frage für dich beantwortet?
Gerard: (überlegt) Dass mit meinen Träumen eine Menge Dinge einhergehen, auf die ich eigentlich gar kein Bock hatte: Social Media, Pressefotos, Videos und sowas. Ich hatte das Gefühl, es würde sich alles wiederholen, und wir standen immer wieder vor begrenzten Möglichkeiten, weil wir alles selbst finanziert haben. Das ging einher mit der Erkenntnis, dass meine Vorstellung davon, ernsthaft Musik zu machen – also nur Musik machen und sonst nichts weiter –, so nicht aufgehen wird. Bis zum nächsten Album "Neue Welt" waren es dann nur zwei Jahre und mir kam die Zeit gar nicht so lang vor. Da kam auch Spotify erstmals richtig auf. Das hat noch mal zusätzlich alles auf den Kopf gestellt. Zwischen den beiden Platten war man viel auf Tour und hat wenig abseits davon erlebt. Man führt ja gar kein normales Lebens mehr, hat keine neuen Eindrücke, die man in Songs verarbeiten will. Ich habe damals schon begonnen, auch andere Dinge zu machen – mit Freunden beispielsweise eine Firma gründen, die sich mit Superfans (Anm. d. Red.: Gerard meint hier "Greetzly", eine Anwendung, die personalisierte Videobotschaften von Prominenten vermittelt) auseinandersetzt.
MZEE.com: Das heißt, es ist dir schwergefallen, für das Album "Neue Welt" neue Wege einzuschlagen, weil du in der Zwischenzeit nicht viel erlebt hast und dich schon in anderen Branchen versucht hast?
Gerard: Eigentlich schon. Ich wollte vor allem auch musikalisch etwas Neues wagen. Dadurch, dass ich so wenige, persönliche Geschichten erzählen konnte, wollte ich "Neue Welt" dann zusätzlich auf ein allgemeineres Erzähllevel hieven, was für Außenstehende kompliziert und wenig nachvollziehbar war. Rückblickend muss ich deshalb sagen: Ich bin mit dem Album nicht sehr happy außer mit "Umso leerer der Laden", den ich auch live noch lange gespielt habe.
MZEE.com: Den Song assoziiere ich selbst stark mit dem gesamten Album. Er wirkt am ehesten wie eine klassische Hit-Single. War das für dich jemals ein Thema – einen wirklichen Hit landen zu wollen?
Gerard: Lustig, dass du es ansprichst. Das war vielleicht auch ein großes Problem an dem Album. Ich wollte hier meinen Hit setzen. Vielleicht keinen Radio-Hit, aber einen Song, den man direkt mit mir in Zusammenhang bringt, so wie es Bilderbuch mit "Maschin" oder Wanda mit "Bologna" geschafft haben. Ich wollte einen Gerard-Hit. Das hat aber alles nicht geklappt und das merkt man dann auch. (lacht) "Umso leerer der Laden" war darauf gar nicht angelegt. Vielleicht funktioniert er gerade deswegen so gut. Der Song ist immerhin auch fünf Minuten lang, mit einer halben Minute Outro – fürs Radio gab es einen Extra-Edit ohne die 30 Sekunden am Ende. Aber streambar für eine Playlist? Daran haben wir damals gar nicht gedacht.
MZEE.com: Spielt das denn für dich heutzutage eine Rolle, ob deine Musik auch gut in Playlists passt?
Gerard: Gar nicht mehr, nein. Heutzutage mache ich aus Zeitgründen genau so Musik, wie ich es immer machen wollte. Keine Videos, keine Fotos, kein Social Media-Content – "Blausicht 2" habe ich ein einziges Mal bei Instagram gepostet, that's it. Für mich ist das die lustigste Art, Musik zu machen. Natürlich freue ich mich, wenn mein Schaffen trotzdem ankommt, aber ich habe keinen Druck mehr, einen Hit zu landen. Ich mache endlich wieder Musik, weil es mir Bock macht. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht – und meinen Beruf inzwischen wieder zum Hobby.
MZEE.com: Lass uns noch mal auf das Ursprungswerk zu sprechen kommen. Durch den melancholischen Touch vieler Songs wurden häufig Vergleiche mit Casper herangezogen. Fandest du eure Musik vergleichbar oder wie erklärst du dir das?
Gerard: "Blausicht" kam damals auch noch zwei Wochen vor "Hinterland" raus! Dazu kam die emotionale Komponente in den Texten. Auf Produktionsseiten war das ja etwas komplett anderes. Dieser Emo-Rap, wie man es damals bezeichnet hat, war vermutlich das verbindende Element. Sonst wüsste ich nicht, wieso dieser Vergleich damals so oft bedient wurde.
MZEE.com: "XOXO" war Caspers großer Durchbruch. Mit "Hinterland" füllten sich Arenen von Fans, seine künftigen Alben hatten Platz 1 in den Charts teils für Wochen gebunkert. Gab es Momente, in denen du dir so eine steile Karriere gewünscht hättest?
Gerard: Auf jeden Fall. Etwas anderes zu behaupten, wäre gelogen. Damals wollten wir das alle. Da kamen Marteria, Cro und Casper als Newcomer auf und alle, die in meiner musikalischen Generation waren, haben sich einen ähnlichen Karriereverlauf gewünscht. Das war im Bereich des Vorstellbaren. Nicht mit "Blausicht" direkt, da war ich realistisch genug, zu wissen, dass das nicht mehr passiert – aber die Hoffnung auf eine ähnliche Kurve war natürlich da.
MZEE.com: Wieso kam es nicht so weit? Bist du rückblickend vielleicht sogar happy, dass das eben nicht der Fall war?
Gerard: Man hat ja nie so einen A/B-Vergleich. Das kann man rückblickend nicht genau sagen. Ich kann nur sagen, dass ich mit meinem jetzigen Leben sehr glücklich bin, und das ist auch schon mal was. (lacht) Natürlich haben wir damals mit ganz anderen Budgets gearbeitet – wir hatten vielleicht 10.000 Euro für ein Album zur Verfügung. Das heißt, wir haben vielleicht 100 bis 300 Euro in Online-Marketing gesteckt. Da gibt es keine Relation zu der Power einer großen Plattenfirma, die das Projekt auf ein anderes Level hätte hieven können. Der Knackpunkt für mich war "Neue Welt" und der sich verändernde Markt: Plötzlich war diese Facette von Rap nicht mehr ganz so "in", sondern wurde von einem neuen Stil abgelöst. Da kann man wenig gegen machen. Das war auch einer der Gründe, warum ich meine eigene Karriere nicht mehr ganz so intensiv verfolgt habe: Ich wollte nie von solchen Strömungen abhängig sein. Ich arbeite sehr gern an Projekten, will aber auch einen halbwegs gesicherten Outcome für mich haben. Das ist aber kein Maßstab für Kunst, das kann dir keiner garantieren. Kunst ist nicht fair: Du kannst monatelang an einem Song arbeiten, der keinen interessiert, oder eine Stunde und du landest damit einen Hit. Das kann sehr spannend sein, ist aber überhaupt nicht planbar. Dem wollte ich mich nicht mehr ausliefern.
MZEE.com: Rückblickend wirkst du sehr zufrieden mit dem Verlauf der letzten Jahre. Hast du dich währenddessen auch mal gefühlt, als wärst du mit deiner Karriere gescheitert?
Gerard: Ich glaube, es gab gar nicht die Zeit, sich diese Frage zu stellen. Ich habe sehr schnell in den Überlebensmodus geschaltet, weil ich wusste, wie schwer es wird, mit Musik Geld zu verdienen. Deshalb habe ich mich gefragt, was zu tun ist, um nicht "normal" arbeiten zu gehen, also keinen klassischen Lebensweg einzuschlagen, wie es nach meinem Jura-Studium der Fall gewesen wäre. Die Idee, in der Musikindustrie hinter den Kulissen zu arbeiten, gab es für mich damals noch nicht. Das hätte ich mir gar nicht zugetraut. Natürlich habe ich mir gedacht: "Scheiße, das ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hätte." Und trotzdem hatte ich immer den Optimismus, das würde noch was werden. (überlegt) Vielleicht war es nicht nur Optimismus, sondern auch Naivität. "Blausicht" ist ja auch auf eine naive Weise entstanden. Das ist bis heute meine Einstellung: Dinge machen, ohne den Kopf in den Sand zu stecken. Vor "Blausicht" zum Beispiel gab es eine Zeit, in der ich ein halbes Jahr nicht schlafen konnte, weil ich mir im Kopf schon die ganze Karriere ausmalte, aber dann nachts in schwachen Momenten der Reality-Check mich aus meiner Fantasiewelt riss und ich Panik bekam, weil ich realisierte, dass das alles ja noch so weit weg war. Ich war aber immer der Meinung, wenn man genügend Arbeit in etwas steckt, wird sich das irgendwann auszahlen, und daran glaube ich auch jetzt noch. Die Realität vom Scheitern war dann eng verbunden mit dem Wissen, alles gegeben zu haben und etwas anderes zu machen. Man hat ja auch mehrere Träume.
MZEE.com: Das müsste so 2015, 2016 gewesen sein, oder?
Gerard: Genau. Damals habe ich beispielsweise diese Firma für Superfans mit Freunden gegründet, in der ich sozusagen Creative Director war … (überlegt) Die anderen beiden haben damals sehr viel mehr gemacht, muss man sagen. (lacht) Ich habe für mich aber gemerkt, dass mir so eine Arbeit auch viel Bock macht. Zur gleichen Zeit habe ich begonnen, für andere zu schreiben, und mein eigenes Label eröffnet, wo wir schlussendlich acht Acts betreut haben. Diese Art von Kreativität erfüllte mich auch: Bei Gerard gab es schließlich auch immer einen kreativen Rahmen, in dem ich mich bewegte und in den manche Ideen gar nicht passten. Bei diesen Projekten war ich sogar freier, weil es Empfänger für meine Ideen außerhalb dieses Rahmens gab. Das ist das verbindende Element bei allem, was ich mache: Kreativität. Das ist das, was ich mache, seit ich 14 bin, wenn man so will. Selbst Ideen ausarbeiten oder andere mit Ideen an die Hand nehmen.
MZEE.com: Was hat es für dich bedeutet, neun Jahre später "Blausicht 2" herauszubringen, und was hat sich an deinen Motiven, Musik zu machen, inzwischen geändert?
Gerard: Ehrlich gesagt habe ich die letzten zwei, drei Jahre immer wieder überlegt, ob ich jemals wieder Musik rausbringen will. Eigentlich habe ich Mitte letzten Jahres auch beschlossen, nichts mehr unter diesem Künstlernamen zu veröffentlichen. Für mich war das auserzählt und ich wollte nichts zerstören, indem ich halbgeile Musik unter dem Pseudonym herausbringe. Dann habe ich beim Reeperbahn-Festival Nvie Motho wiedergesehen – dort, wo wir vor zehn Jahren unseren ersten gemeinsamen Gig spielten. Das hat uns dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie "Blausicht" uns beiden das Leben ermöglichte, das wir heute führen. Er ist inzwischen Produzent und DJ für RAF, Bonez und viele andere und selbst er hört immer wieder von Leuten, wie sehr die Platte sie damals berührt hätte. Da haben wir beschlossen, uns am Wochenende zu treffen und auszuprobieren, was rauskommt – aus dem Gefühl heraus, dem Projekt noch etwas zu schulden. Wir haben dort gemerkt, wie einfach es uns fällt, hier Neues zu erschaffen, wie unverkrampft und easy alles von der Hand ging. Wir hatten sofort denselben Vibe wie früher und das Gefühl, dieses Album jetzt auch rausbringen zu müssen. All das, obwohl ich mit dem Mitte 20-jährigen "Blausicht"-Gerard, der verwirrt und heartbroken durch die Nächte gestriffen ist, nur noch wenig zu tun habe. Ohne zu sagen, dass mein Leben jetzt langweilig ist – ich bin seriöser geworden. Daraus entstand die Herausforderung, mein jetziges Ich mit einem Gerard in Verbindung zu bringen, der spannende Dinge schreibt. Da ist die Idee gereift, Gerard wie eine Romanfigur zu begreifen, der für immer dieser Mitte 20-Jährige bleibt. Das war schön. Auch, weil das Feedback genau das widerspiegelte: Viele meinten, dass sie sich in ihre eigene Uni-Zeit zurückversetzt fühlen, als sie den ersten Teil hörten. Für mich war es ein total spannender Ansatz, das als eine Art "Jungbrunnen" zu verstehen, weil diese Zeitreise, die viele Hörer und Hörerinnen im Kopf haben, auch im Entstehungsprozess bei Moritz (Anm. d. Red: Produzent Nvie Motho) und mir die zentrale Rolle spielte. Das war die Lösung für die Diskrepanz zwischen dem halbwegs seriösen Gerald, der ich jetzt bin, und dem Gerard von damals.
MZEE.com: Dass über zehn Jahre zwischen den beiden Alben liegen, fällt kaum auf. Auch dass du mit dem Gedanken gespielt hast, komplett mit Musik aufzuhören, hört man nicht heraus. Hast du diese Idee mit "Blausicht 2" auch verworfen? Ich hoffe, das ist nicht das letzte Interview, das du je führen wirst. (lacht)
Gerard: Ich kann das, offen gesagt, selbst noch nicht einschätzen. Dadurch, dass ich finanziell komplett unabhängig von der Musik bin, möchte ich nur noch Neues machen, wenn ich es auch fühle. Das letzte Album ging aber eben sehr leicht von der Hand und hat nicht viel Zeit in Anspruch genommen – daher will ich nicht ausschließen, dass wir uns irgendwann wieder ein Wochenende zusammensetzen und die Musik auch erscheint, wenn sie geil geworden ist. Was ich nicht weiß, ist, ob es jemals wieder Gerard-Videos geben wird oder ob ich überhaupt Lust habe, wieder live aufzutreten, weil solche Dinge eben viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich fand den Moment, auf der Bühne zu stehen, immer sehr schön. Alles drumherum, also mit der Band proben, Organisation, Licht – das hing immer an mir. Das war sehr viel Aufwand und da habe ich keine Lust mehr drauf. Das lernt man erst im Alter, der investierten Zeit einen Wert zukommen zu lassen und einzuschätzen, wie viel Bock es einem im Endeffekt wirklich macht.
MZEE.com: Gibt es dir nicht auch eine riesige, künstlerische Freiheit, dass deine Existenz eben nicht an dem Erfolg deiner Musik hängt?
Gerard: Total! Das war die Magie vom ersten "Blausicht", weil wir nie damit gerechnet hätten, dass das so viele Leute hören. Jetzt gehen wir mit der gleichen Entspannung ran wie damals: Wir freuen uns natürlich, wenn viele Menschen die neue Platte hören und mögen, aber der Druck von "Neue Welt" oder "AAA" ist weg. Da wusste ich, dass es funktionieren muss, um meine Kosten zu decken. Alles drumherum, was zu einer ernsthaften und erfolgreichen Musikkarriere dazu gehört – TikTok, Social Media allgemein –, das muss ich eben nicht mehr machen. Das will ich auch nicht mehr machen.
MZEE.com: Das klingt, als wärst du jetzt näher an dem Traum, den du dir auf "Rising Sun" ausgemalt hast, als noch vor fünf Jahren.
Gerard: Ob näher, weiß ich gar nicht. Der Traum, Stadien zu füllen, ist weg und wurde davon geupdatet, ein schönes Leben zu führen. Mein aktueller Job als Head of A&R macht mir auch enorm Spaß. Mit 14 oder 15 war ich schon ein großer Fan von Four Music – das wäre auch das einzige Label gewesen, bei dem ich als Künstler gesignet hätte. Jetzt gestalte ich dort eben mit, das erfüllt in gewisser Weise auch einen Traum! Stadien füllen – who knows – würde ich natürlich auch noch gern machen. Aber eben nur auf meine Art und Weise, also: Song machen, raushauen, fertig. Dann füllt sich die Arena. (lacht) Ich bin realistisch genug, zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit hierfür bei 0,00001 Prozent liegt, und damit komme ich klar.
MZEE.com: Du sagst es schon selbst: Mittlerweile arbeitest du selbst viel hinter den Kulissen in deinem Hauptberuf als A&R. Welche Tipps gibst du jungen, aufstrebenden Künstler:innen aus den Erfahrungen deiner eigenen Karriere?
Gerard: Ich habe während der eigenen Karriere sehr viele Produzenten und andere Writer kennengelernt und während jeder Session schnappst du weitere Tipps auf, die ich auch weitergeben kann. Vor allem weiß ich aber, wie es sich psychisch anfühlt, wenn auf einmal alles funktioniert. Und ich weiß auch, wie es sich anfühlt, wenn es nicht mehr läuft. Ich bemühe mich also, zwischen den Zeilen etwas zu leisten und kann aus den eigenen Erfahrungswerten sagen, dass man selbst schon mal an dem Punkt war. Dem- oder derjenigen die Angst nehmen, Verständnis zeigen und erklären, dass er oder sie nicht als allererstes an so einem Punkt in der Karriere steht. Die Höhen und Tiefen gehören dazu und bloß weil es in einem Moment nicht gut läuft, heißt das nicht, dass es sich mit dem nächsten Song nicht schlagartig ändern kann. Wenn man diese Wellen selbst mitgemacht hat, kann man die Sprache von Künstlern und Künstlerinnen viel besser sprechen.
MZEE.com: Gibt es auch Tipps in die andere Richtung, wo sie geerdet werden müssen, wenn sie gerade einen riesigen Hit gelandet haben?
Gerard: Ja, den hat mir jemand in sehr frühen Jahren gegeben und der hat mir immer wieder geholfen: Nimm weder das Positive noch das Negative allzu ernst. Flipp jetzt nicht aus, wenn dich Menschen in den Kommentaren in den Himmel loben, und flipp auch nicht aus, wenn sie dich runtermachen. Das ist in meiner Label-Arbeit ebenfalls sehr wichtig. Wir wollen helfen, Karrieren langfristig über Jahrzehnte aufbauen, da sind diese kleinen Dinge nicht wichtig. Zumindest nicht, wenn du das große Ganze im Auge hast. Ich kenne das selbst von mir: Bei jedem Song dachte ich, es ginge um Leben und Tod. Wenn das Video jetzt nicht einschlägt, bricht alles ein und mein Traum platzt. Das stimmt einfach nicht. Du hast immer wieder die Möglichkeit, etwas geil zu machen. Und wenn mal etwas nicht klappt, klappt das Nächste.
MZEE.com: Welchen Ratschlag würdest du dem 25-jährigen Gerard, der von Video zu Video sprang und arbeitete, mit dem heutigen Erfahrungsschatz mitgeben?
Gerard: Ich würde ihm sagen, was für ein wichtiger Faktor Zeit ist. Wenn man viel Zeit und Energie in eine Sache steckt, bekommt man es irgendwann zurück. Egal, wie lange es dauert. Ich glaube, das ist eine beruhigende Sicht, aufs Leben zu schauen. Mal ganz davon abgesehen, dass manche Dinge eben seine Zeit brauchen und das häufig auch besser so ist. Es war selbst mit 25 ein komisches Gefühl, auf einmal Tourneen zu spielen und Menschen Autogramme zu schreiben. Gar nicht auszudenken, wie das mit 18 gewesen wäre. Das ist ein Gefühl, das ich keinem beschreiben kann, der es nicht selbst erlebt hat.
MZEE.com: Wie hast du dich damals selbst geerdet, um keinen Höhenflug zu erleben?
Gerard: Ich hatte den Vorteil, diesen Weg mit zwei meiner besten Freunde gegangen zu sein. Wir konnten uns gegenseitig wieder auf den Boden holen und uns darauf besinnen, dass das alles eine klassische Arbeit ist, kein "Star-Life". Stickle, den ich kenne, seit ich 15 bin, bei dem ich das Album aufgenommen habe und der zuvor schon Casper produzierte, hat da auch eine gewisse Ruhe reingebracht. Wenn ich es aber auf den Punkt bringe, hat es mir immer geholfen, das Künstlerleben auch als klassischen Job zu sehen. Ein Job wie jeder andere mit einer Menge Arbeit verbunden. Der Versuch, das so professionell wie möglich anzugehen, war hilfreich. Mittlerweile hilft diese klare Abgrenzung zwischen dem echten Gerald und dieser Art "Romanfigur Gerard" zusätzlich.
MZEE.com: Zum Abschluss würde ich gerne wissen, wie du ebenjene "Romanfigur Gerard" kurz und knapp charakterisieren würdest.
Gerard: Ich glaube, Gerard ist ein sehr ambitionierter, ein bisschen verwirrter, optimistischer und ambivalenter Typ. Ambivalent, weil er einerseits von so vielen Leuten wie möglich gehört werden möchte, andererseits aber von niemandem erkannt werden will. Deshalb war ich auf den damaligen Alben-Covern nie zu sehen – ich wollte die Kunst in den Mittelpunkt stellen. Das ist in gewisser Weise ambivalent, wenn man alle Menschen berühren will, aber trotzdem soll keiner einen erkennen. (lacht) Mittlerweile habe ich aber gelernt, auch das anzunehmen, und damit bin ich zufrieden.
(Sven Aumiller)