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Reportage

Eine kurze Geschichte wichtiger HipHop-​Alben: #04 "Madvillainy"

"Eine kur­ze Geschich­te wich­ti­ger HipHop-​Alben" beschäf­tigt sich mit der His­to­rie von ein­fluss­rei­chen Wer­ken im Rap. Die­ses Mal geht es um Comic-​Bösewichte, kryp­ti­sche Lyrics, ein gestoh­le­nes Demo-​Tape – und damit um das Album "Mad­vil­lai­ny" von Madvillain

Da Musik bekannt­lich Geschmacks­sa­che ist, wür­de man auf die Fra­ge nach prä­gen­den HipHop-​Alben wahr­schein­lich sehr unter­schied­li­che und indi­vi­du­el­le Ant­wor­ten erhal­ten. Den­noch wür­den bestimm­te Alben wohl häu­fi­ger genannt wer­den als ande­re. Man­che Plat­ten schaf­fen es schließ­lich, bei nahe­zu jedem einen blei­ben­den Ein­druck zu hin­ter­las­sen. Sie prä­gen ihr Gen­re nach­hal­tig und wir­ken sich direkt oder indi­rekt auf die Musik ande­rer Künst­ler aus. Was aber macht die­se Alben so beson­ders? Sicher ist es vor allem wich­tig, alte Mus­ter zu durch­bre­chen und einen neu­en Weg vor­zu­ge­ben. Dabei ist es essen­zi­ell, den ganz eige­nen Sound zu fin­den. Eine stan­dar­di­sier­te Ant­wort gibt es hier­für aber wohl nicht. Ein­fluss gilt es, stets indi­vi­du­ell zu betrach­ten – und ein Blick in die Geschich­te des ein­fluss­rei­chen Raps lohnt sich. Die­ses Mal mit dem ein­zi­gen Album von Mad­vil­lain: "Mad­vil­lai­ny".

 

In der HipHop-​Historie begeg­nen einem immer wie­der Alben, die zwar aus heu­ti­gem Blick­win­kel maß­geb­lich für die Ent­wick­lung von Rap sind, jedoch zum Zeit­punkt des Releases nicht wirk­lich kom­mer­zi­ell erfolg­reich waren. Eines die­ser Alben ist "Mad­vil­lai­ny" von Mad­vil­lain – dem Zusam­men­schluss des bereits ver­stor­be­nen Reim­vir­tuo­sen MF DOOM und des Ausnahme-​Producers Mad­lib. Für vie­le gilt die Plat­te als weg­wei­send, sowohl was die Pro­duk­ti­on als auch die Lyrics betrifft. Man­che gehen sogar so weit und wür­den die Plat­te als Magnum Opus bei­der Artists bezeich­nen. Doch was lässt "Mad­vil­lai­ny" aus den Dis­co­gra­fien bei­der Künst­ler her­aus­ste­chen? Und womit hat sie den Kult­sta­tus ver­dient, der ihr innewohnt?

 

Vor dem Album

Mad­lib, gebo­ren am 24. Okto­ber 1973, wächst in einer Musi­ker­fa­mi­lie in Oxnard im US-​Bundesstaat Kali­for­ni­en auf und wird so von klein auf an Musik her­an­ge­führt. Sei­nen ers­ten Auf­tritt hat er auf "Throw 'Em Up" von Hood 2 No Good im Jahr 1992. Sei­ne ers­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen erfol­gen dann im Jahr 1995 als MC und Pro­du­zent bei der Crew Loot­pack. Sein ers­tes Solo­al­bum "The Unseen" erscheint erst im Jahr 2000, aller­dings unter dem Ali­as des Rap­pers Qua­si­mo­to. Wenn Mad­lib die­se Rol­le ein­nimmt, pitcht er sei­ne Stim­me hoch und bewegt sich the­ma­tisch zwi­schen Can­na­bis, Alko­hol und ande­ren sin­nes­er­wei­tern­den Sub­stan­zen. Ähn­lich wie beim deut­schen Rap­per Mar­te­ria und sei­nem Alter Ego Mar­si­mo­to, das eine Hom­mage an Qua­si­mo­to dar­stellt. Zeit­gleich zu sei­ner HipHop-​Karriere macht sich Mad­lib auch als Jazz­mu­si­ker einen Namen und releast mit dem Yes­ter­days New Quin­tet – wel­ches nur aus ihm selbst besteht – eine Rei­he an Pro­jek­ten. So schafft sich der Künst­ler im Lau­fe der Zeit ver­schie­de­ne Alter Egos, die er, je nach ein­ge­schla­ge­ner Stil­rich­tung, nach Belie­ben anle­gen kann. Als ech­ter Musik-​Connaisseur hat er die Untergrund-​Szene um die Jahr­tau­send­wen­de her­um genau­es­tens im Blick. So wird er in einem Inter­view mit der LA Times im Jahr 2001 gefragt, mit wel­chen Künst­lern er ger­ne zusam­men­ar­bei­ten wür­de. Sei­ne Ant­wort lau­tet: J Dil­la und MF DOOM.

MF DOOM ali­as Dani­el Dumi­le wur­de am 13. Juli 1971 in Lon­don gebo­ren, zieht aber früh in sei­ner Jugend in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Seit Ende der 80er Jah­re ver­öf­fent­licht er – damals noch unter dem Namen Zev Love X – gemein­sam mit sei­nem Bru­der DJ Sub­roc Musik als Kern der Crew KMD, was "Kaus­ing Much Dama­ge" bedeu­tet. Als DJ Sub­roc im Jahr 1993 bei einem tra­gi­schen Auto­un­fall stirbt und KMD von ihrem Label fal­len gelas­sen wer­den, ver­schwin­det Dumi­le vor­erst von der Bild­flä­che. Er ver­fällt in tie­fe Depres­sio­nen, ent­wi­ckelt ein Alko­hol­pro­blem und wird sogar über einen kur­zen Zeit­raum hin­weg obdach­los. Erst vier Jah­re spä­ter taucht er bei diver­sen Freestyle-​Events wie­der auf. Aller­dings mit einer eiser­nen Mas­ke vor dem Gesicht, die stark an die des "Fan­ta­stic Four"-Antagonisten Doc­tor Doom erin­nert. Im Jahr 1999 erscheint dann "Ope­ra­ti­on Doomsday", mit dem Dumi­le erst­mals auf Album­län­ge als MF DOOM auf­tritt und in der Untergrund-​HipHop-​Szene eini­ges an Auf­merk­sam­keit auf sich zie­hen kann. Von da an umgibt er sich mit dem Image des mys­te­riö­sen Super­schur­ken, der der Musik­in­dus­trie die Stirn bie­tet. Außer­dem schafft er sich eini­ge Alter Egos wie Vik­tor Vaughn, der eine jün­ge­re Ver­si­on von MF DOOM als Super­vil­lain ver­kör­pert, oder die Godzilla-​Hommage King Geedo­rah – einen drei­köp­fi­gen, gol­de­nen Dra­chen aus dem Welt­all, der Tele­pa­thie beherrscht und die Welt erobern will.

Im Jahr 2001 ist Mad­lib bei dem recht jun­gen Label Stones Throw Records gesignt. Eothen "Egon" Ala­patt, Mit­be­grün­der des Labels, ist zum Release des besag­ten LA Times-​Interviews fest ent­schlos­sen, Mad­lib dazu zu bewe­gen, wie­der für einen Rap­per zu pro­du­zie­ren, da er sich damals fast gänz­lich auf sei­ne Jazz- und Instru­men­tal­pro­jek­te kon­zen­triert. So kon­tak­tiert Egon kur­zer­hand DOOM und lässt ihm über einen gemein­sa­men Bekann­ten eini­ge von Mad­libs Pro­duk­tio­nen zukom­men. Zu die­sem Zeit­punkt sind das Label und Mad­lib für DOOM noch gänz­lich unbe­kannt. Den­noch ist er von Mad­libs Arbeit von Beginn an so begeis­tert, dass er in eine Zusam­men­ar­beit ein­wil­ligt. Dar­auf­hin beginnt sein Manage­ment, die Kon­di­tio­nen für die Kol­la­bo­ra­ti­on aus­zu­han­deln. Ihre For­de­rung beläuft sich auf 1.500 Dol­lar und die Über­nah­me der Rei­se­kos­ten von Atlan­ta zum Stones Throw-​Headquarter in Glend­a­le, Kali­for­ni­en. Das Label sagt sofort zu – auch wenn klar ist, dass es schon schwie­rig wer­den wird, genü­gend Geld für die Flug­ti­ckets auf­zu­trei­ben. Als DOOM dann mit sei­ner Mana­ge­rin in Glend­a­le ein­trifft, beginnt die­se sofort auf Egon ein­zu­re­den und die abge­mach­ten 1.500 Dol­lar ein­zu­for­dern. Egon beschreibt die Situa­ti­on fol­gen­der­ma­ßen: "The first thing his mana­ger did was get me in my bed­room, which was also the office, and cor­ner me about the 1,500 bucks. I rea­li­zed that if she was in here, then Doom was with Mad­lib, and the lon­ger I kept up this cha­ra­de with her, the lon­ger they'll vibe and may­be it all might work out." Und sein Plan geht auf: DOOM und Mad­lib begin­nen sofort, mit­ein­an­der zu viben und zu arbei­ten. So kann DOOMs Manage­ment gar nicht anders, als in die Kol­la­bo­ra­ti­on ein­zu­wil­li­gen. Ein paar Wochen spä­ter hat Stones Throw Records genü­gend Geld gesam­melt, um DOOM zu bezah­len, und es wird ein Ver­trag geschlos­sen – angeb­lich geschrie­ben auf einem Papp­tel­ler. "Mad­lib said he'd like to work with DOOM […] and next thing you knew DOOM was out too, 'Doing bong hits on the roof out in the West Coast,' like he says in the first track he wro­te for the album", kom­men­tiert Jeff Jank, Crea­ti­ve Direc­tor des Labels, die Situa­ti­on. DOOM und Mad­lib tei­len vie­le Gemein­sam­kei­ten, wie ihre Comic-​Alter Egos, die Lie­be zu obsku­ren Samples und ihr Augen­merk auf die eige­ne Pri­vat­sphä­re. Sie sind Exzen­tri­ker, die ger­ne in ver­schie­de­ne Rol­len schlüp­fen, und mehr oder weni­ger Ere­mi­ten, die weit abge­schie­den vom Rest der dama­li­gen HipHop-​Szene leben.

Mad­lib: Gott der Samples und Anti-​Gangster (Vin­ta­ge 2013) | Arte TRACKS

 

Wie Mad­vil­lai­ny (fast nicht) entsteht

Im Jahr 2002 begin­nen dann offi­zi­ell die Arbei­ten an "Mad­vil­lai­ny". Zu die­sem Zweck zieht DOOM ins Stones Throw-​Headquarter in Glend­a­le – obwohl das Label ihm ein Hotel bucht. Die Zen­tra­le des Labels ist neben sei­ner Funk­ti­on als Büro und Stu­dio auch das Zuhau­se von Mad­lib und dem Inner Cir­cle von Stones Throw Records. So arbei­ten die bei­den, jeder für sich, an ihrem gemein­sa­men Pro­jekt. Mad­lib gibt DOOM eine gan­ze Rei­he an Beats, auf denen bei­spiels­wei­se bereits Vocal-​Cuts ein­ge­fügt wur­den. DOOM ändert nichts an den Instru­men­tals und setzt sei­ne eige­nen Song­ideen auf den gepick­ten Beats um. Jeff Jank war beim Pro­duk­ti­ons­pro­zess haut­nah dabei und erklärt die­sen so: "We'd hit a liqu­or store around 10 am. DOOM would wri­te on the back porch, Mad­lib doing his thing down­s­tairs […]. DOOM unders­tood Mad­lib right off the bat. He unders­tood whe­re he was coming from with the music, how it con­nec­ted with the records they lis­ten­ed to from the '60s-'90s, and Madlib's incli­na­ti­on to work on his own in pri­va­cy. DOOM was all for it." In ihrer Frei­zeit ver­brin­gen die bei­den aller­dings viel Zeit mit­ein­an­der, essen Thai-​Food, rau­chen Can­na­bis und neh­men psy­che­de­li­sche Pil­ze ein. So stam­men bei­spiels­wei­se die Songs "Figa­ro" und "Meat­g­rin­der" aus eben­die­ser Zeit, wel­che in Lyrics und Sound den Ein­fluss sin­nes­er­wei­tern­der Sub­stan­zen ver­mu­ten lassen.

Im Novem­ber 2002 fliegt Mad­lib schließ­lich nach Bra­si­li­en, um dort an einer Ver­an­stal­tung der Red Bull Music Aca­de­my teil­zu­neh­men. Dort prä­sen­tiert er erst­mals Mate­ri­al vom bis dahin unfer­ti­gen Album. Wäh­rend der Zeit in Bra­si­li­en sucht er uner­müd­lich nach neu­en Samples und ver­lässt sein Hotel­zim­mer qua­si nur, um neue Plat­ten ein­zu­kau­fen. So erzählt Mad­lib: "We went to every litt­le store we could find, […] I was kee­ping Bra­zi­li­an time, sit­ting in my room smo­king some ter­ri­ble weed and sam­pling shit, while ever­yo­ne else was out par­ty­ing and get­ting drunk." Wäh­rend die­ser Rei­se ent­ste­hen so angeb­lich hun­der­te Beats, von denen es spä­ter auch eini­ge auf die fina­le Ver­si­on von "Mad­vil­lai­ny" schaf­fen wer­den, so bei­spiels­wei­se "Stran­ge Ways", "Raid" und "Rhi­nes­tone Cowboy".

Vor­her droht das Pro­jekt jedoch zu schei­tern. In Bra­si­li­en wird Mad­lib das "Madvillainy"-Demo ent­wen­det. Kur­ze Zeit spä­ter wird das Album dann im Inter­net gele­akt. Da in die­ser Zeit, in der es noch kei­ne Strea­ming­diens­te und Ähn­li­ches gibt, ein Album­leak qua­si ein ver­kaufs­zah­len­tech­ni­sches Todes­ur­teil dar­stellt, wird die Arbeit zu "Mad­vil­lai­ny" erst ein­mal auf Eis gelegt – 14 Mona­te vor dem geplan­ten Release. "Tho­se were the ear­ly days of inter­net leaks, and we thought it would com­ple­te­ly ruin sales […] so they were like, 'Fuck it, I'm done.' Mad­lib star­ted on other stuff, and DOOM, well, you never know what he's doing", erzählt Jeff Jank.

Erst etwa ein Jahr spä­ter begin­nen die bei­den wie­der mit­ein­an­der zu arbei­ten. In der Zwi­schen­zeit kann Mad­lib mit "Jay­lib" sein lang­ersehn­tes Kol­la­bo­al­bum mit Beat-​Legende J Dil­la releasen. Wäh­rend­des­sen baut MF DOOM sei­ne Alter Egos King Geedo­rah und Vik­tor Vaughn mit den Alben "Take me to your Lea­der" und "Vau­de­ville Vil­lain" wei­ter aus. Als DOOM und Mad­lib wie­der auf­ein­an­der­tref­fen, beschlie­ßen sie, das Album nicht nur zu voll­enden, son­dern es gänz­lich neu auf­zu­neh­men. Dies hat zum einen den Effekt, dass DOOM sei­ne Lyrics über­ar­bei­ten und sogar eine Refe­renz auf den Leak im Song "Rhi­nes­tone Cow­boy" unter­brin­gen kann: "It speaks well of the hyper bass. Wasn't even twea­k­ed and it lea­k­ed into cyber­space. Couldn't wait for the snipes to place, at least a track list in bold print type­face. Stop­ped for a year. Come back with thumb tacks." Zum ande­ren ändert er auch sei­ne gesam­te Deli­very. Statt druck­voll und gar wütend zu klin­gen, wie es auf dem Demo der Fall ist, klingt MF DOOM hier ruhig und fast mono­ton. Eine sehr viel pas­sen­de­re Beglei­tung für die bass­las­ti­gen und fri­cke­li­gen Beats von Madlib.

Mad­vil­lain - Mad­vil­lai­ny Demo Tape

 

Was macht "Mad­vil­lai­ny" besonders?

"Mad­vil­lai­ny" folgt inhalt­lich kei­nem wirk­li­chen roten Faden. Viel­mehr kris­tal­li­siert sich MF DOOMs Cha­rak­ter über die Plat­te hin­weg aus ver­schie­de­nen Fet­zen sei­ner Per­sön­lich­keit her­aus. Jedoch gibt es ein offen­sicht­li­ches Motiv, das sich über die gesam­ten 46 Minu­ten Spiel­zeit zieht: Böse­wich­te, ganz im Sin­ne des Album­ti­tels. Der Ope­ner der Plat­te "The Illest Vil­lains" lei­tet die­ses Bild ein. Er beinhal­tet Sound­samples aus der Doku­men­ta­ti­on "A Docu­men­ta­ry Histo­ry of the Cult Vil­lains" sowie Fil­men wie "The Ghost of Fran­ken­stein" und "I was a Teenage Were­wolf". Sehr pas­send ist hier von einem "pair of real­ly nice boys who just hap­pen­ed to be on the wrong side of the law" die Rede. Bei­de hat­ten sich bis zu die­sem Zeit­punkt bereits comic­haf­te Alter Egos auf­ge­baut, wie Qua­si­mo­to von Mad­lib – der an eine Figur aus dem Ani­ma­ti­ons­film "La Planè­te Sau­va­ge" ange­lehnt ist – und Vik­tor Vaughn von MF DOOM. So wer­den hier Mad­lib und vor allem MF DOOM in der Rol­le der ulti­ma­ti­ven Böse­wich­te vor­ge­stellt. Die erwähn­ten Alter Egos der bei­den haben glän­zen­de Auf­trit­te auf dem Album. Unter ande­rem auf "Ame­ri­cas Most Blun­ted", auf dem sich Qua­si­mo­to mit sei­nem Ori­gi­nal strei­tet, oder "Fan­cy Clown", in dem MF DOOM als jün­ge­res Ich von Vik­tor Vaughn auftritt.

"Fan­cy Clown" ist zudem einer der inter­es­san­tes­ten Songs auf dem Album. The­ma­tisch behan­delt die­ser das schmerz­haf­te Ende einer Bezie­hung von Vik­tor und den damit ver­bun­de­nen Kon­takt­ab­bruch mit der Ange­be­te­ten. Im Song befin­det sich die Ange­be­te­te aller­dings bereits in einer neu­en Bezie­hung – mit MF DOOM. Dies zeigt, wie lyrisch ver­siert DOOM ist. So kön­nen sei­ne Tex­te teil­wei­se wirr wir­ken, aber viel­leicht gera­de des­halb durch­aus Raum zur Inter­pre­ta­ti­on las­sen. So rappt er auf "All Caps": "So nasty that it's pro­ba­b­ly some­what of a tra­ves­ty having me. Dai­ly told the peo­p­le: 'You can call me Your Majes­ty!'" Erst ein­mal mögen die­se Zei­len wider­sprüch­lich wir­ken. Ver­setzt man sich aller­dings in das Uni­ver­sum von MF DOOM, in dem er ein genia­ler Super­schur­ke ist, bemerkt man, dass "Dai­ly" – ange­lehnt an die "Dai­ly News" – eine fik­ti­ve Nach­rich­ten­agen­tur ist, die auf dem Album "Take me to your Lea­der" die Erobe­rung der Welt durch King Geedo­rah verkündet.

Aller­dings bie­ten MF DOOMs Tex­te nicht nur Quer­ver­wei­se auf Comics und sei­ne Alter Egos. Teil­wei­se baut DOOM lite­ra­ri­sche Refe­ren­zen in sei­ne Tex­te ein, bei­spiels­wei­se auf "Meat­g­rin­der", auf dem er mit der Line "The old man pre­a­ches about the gold sand bea­ches" sogar auf den Klas­si­ker "Der Alte Mann und das Meer" von Ernest Heming­way anspielt. Inhalt­lich ist das Album, wie schon der Ope­ner ver­spricht, eine "semi­nal con­nec­tion that audi­en­ces can rela­te their expe­ri­ence in life with the vil­lains and their das­tard­ly doings".

Talib Speaks On The Geni­us Of Madvillainy

Neben DOOMs lyri­schen Qua­li­tä­ten wird "Mad­vil­lai­ny" nicht zuletzt durch die Pro­duk­ti­on zu dem beson­de­ren Album, das es nun mal ist. Wäh­rend Anfang der 2000er Jah­re im Main­stream größ­ten­teils Soul-​Samples und hoch­g­e­pitch­te Vocals ver­wen­det wer­den, fin­det Mad­lib sei­ne Samples in eher obsku­ren Quel­len und nutzt auch unkon­ven­tio­nel­le Stü­cke für sei­ne Songs. So erzählt er von sei­ner Bra­si­li­en­rei­se: "I was pul­ling out wha­te­ver, crazy-​ass records, and n****s was like, 'The­re ain't gon­na be not­hing on that record.' I made a who­le beat tape, they was trip­ping." Alle Samples wer­den von einem por­ta­blen Plat­ten­spie­ler in einen BOSS SP-​303 Sam­pler recor­det. Im Sam­pler wer­den die Ton­spu­ren ver­ar­bei­tet, mit Drums ver­se­hen und von dort direkt in ein Tape­deck über­tra­gen. Somit kann Mad­lib wäh­rend des Pro­zes­ses nicht ein­mal ver­schie­de­ne Arran­ge­ments spei­chern, son­dern muss alle Beats live ein­spie­len. Aus die­sem Grund gibt es eini­ge musi­ka­li­sche Ele­men­te auf der Plat­te, die teil­wei­se fast deplat­ziert wir­ken. So bei­spiels­wei­se Tem­po­s­wit­ches inner­halb ein­zel­ner Songs, die sonst eher unüb­lich sind, weil die­se es extrem erschwe­ren, über die Beats zu rap­pen. Ganz beson­ders deut­lich wird dies auf "Stran­ge Ways". Nichts­des­to­trotz meis­tert DOOM die­se Her­aus­for­de­rung glän­zend. Mad­lib sagt dazu: "I don't see how he flip­ped that. I never had an MC do that with my beats." Neben den Beats an sich wird auch der Sound der Plat­te durch die­se Producing-​Technik maß­geb­lich beein­flusst. Zum einen bie­tet das ver­wen­de­te Equip­ment, der BOSS SP-​303 Sam­pler – wel­cher auch bei dem legen­dä­ren "Donuts"-Album von J Dil­la zum Ein­satz gekom­men ist –, einen ganz eige­nen Klang. Zum ande­ren sind die Mög­lich­kei­ten zum Mixing und Mas­te­ring bei einem 2-​Spur-​Song wesent­lich beschränk­ter als bei einem Multi-​Track-​Song, der in einem pro­fes­sio­nel­len Stu­dio auf­ge­nom­men wird. Somit klingt "Mad­vil­lai­ny" von Grund auf roher und weni­ger glatt­ge­bü­gelt. Ein wei­te­rer Neben­ef­fekt die­ses Work­flows ist, dass es extrem erschwert wird, die Songs zu remi­xen. Dadurch, dass ledig­lich zwei ein­zel­ne Spu­ren vor­han­den sind, ist es sehr auf­wen­dig, spä­ter ein­zel­ne Ele­men­te zu extra­hie­ren und zu bear­bei­ten. Mad­lib kom­men­tiert dies mit: "I don't want no one fuck­ing my shit up, making, I don't know, a house ver­si­on of 'Curls' … You know? I seen what hap­pens. I want to have my stuff out the­re as it's sup­po­sed to be." Dies unter­streicht nur ein­mal mehr, dass hier zwei abso­lu­te Puris­ten am Werk sind.

Mad­lib wird als Pro­du­zent auf "Mad­vil­lai­ny" mehr musi­ka­li­sches Spot­light zu Teil als den meis­ten Beat­bast­lern auf Rapper:innen-Produzent:innen-Kollaborationen. So sind "Sicks­hift", "Do Not Fire!" und "Super­vil­lain The­me" rei­ne instru­men­ta­le Tracks und lockern das Album etwas auf. Pas­send zu sei­nem unor­tho­do­xen Pro­duk­ti­ons­stil bricht Mad­lib eben­falls mit tra­di­tio­nel­len Song­struk­tu­ren. So erreicht fast kei­ner der Songs die Drei-​Minuten-​Marke, was heu­te zwar nor­mal ist, damals aber noch als Stil­bruch gilt. Auch hat kei­ner der 22 Songs eine Hook, die wesent­lich für den Hit-​Faktor eines Songs ist. Doch das spielt auf "Mad­vil­lai­ny" kei­ne Rol­le, denn hier begeg­nen sich zwei Mainstream-​Widersacher auf Augenhöhe.

Mad­lib Makes a Cra­zy Bra­si­li­an Beat

 

Was hin­ter­las­sen Madvillain?

"Mad­vil­lai­ny" ist eines der gefei­ertsten HipHop-​Alben aller Zei­ten und wird gleich nach Release ein Kritiker-​Liebling – auch wenn gro­ßer kom­mer­zi­el­ler Erfolg aus­bleibt. Das Album erreicht gera­de ein­mal Platz 179 in den Bill­board­charts. Nichts­des­to­trotz bezeich­nen Rapper:innen wie Earl Sweat­shirt das Album als eben­so prä­gend für sei­ne Gene­ra­ti­on wie "Enter the Wu-​Tang (36 Cham­bers)" für Rapper:innen der 90er Jah­re. Mit ihren eigen­sin­ni­gen Pro­duk­tio­nen und Tex­ten haben die bei­den den Weg für vie­le Rapper:innen der heu­ti­gen Zeit geeb­net. So sagt bei­spiels­wei­se US-​Rapper Dan­ny Brown über das Album: "I never knew you could make an enti­re album wit­hout hooks and have it sound that good. That album show­ed me that music has no rules." Dar­über hin­aus hat MF DOOM mit sei­nen fan­ta­sie­vol­len Lyrics immer wie­der das Dog­ma des har­ten Rap­pers auf­ge­bro­chen. Trotz der recht über­schau­ba­ren Ver­kaufs­zah­len äußern sich vie­le, teils sehr gro­ße Maga­zi­ne zu "Mad­vil­lai­ny" – meist sehr posi­tiv. So fin­det das Album bei­spiels­wei­se Erwäh­nung im Washing­ton City Paper, The New Yor­ker, dem Rol­ling Stone Maga­zi­ne und unzäh­li­gen Top-​Alben-​Artikeln ver­schie­dens­ter Zeitschriften.

Im Jahr 2008 erscheint dann "Mad­vil­lai­ny 2", bei dem es sich aller­dings nur um ein Remix-​Album han­delt. Dass "Mad­vil­lai­ny" sehr gut geal­tert ist, lässt sich allei­ne am Vinyl-​Re-​Release anläss­lich des zehn­ten Geburts­tags der Plat­te im Jahr 2014 fest­ma­chen. Denn in der Release-​Woche steigt das Album auf Platz 117 der Bill­board­charts ein – höher als zum Ori­gi­nal­re­lease. Auch ein Blick auf die Streaming-​Zahlen zeigt ein reges Inter­es­se an den bei­den. So fes­seln Mad­vil­lain noch heu­te Mil­lio­nen von Men­schen und errei­chen Zah­len, bei denen so man­che Rapper:innen mit aktu­el­len Releases nei­disch wer­den könn­ten. Noch im Jahr 2020 hieß es aus dem Umfeld von MF DOOM gerüch­te­wei­se, ein ech­ter "Madvillainy"-Nachfolger wäre zu 85 Pro­zent fer­tig. Lei­der wird er nie voll­endet wer­den, da DOOM im Okto­ber 2020 ver­stirbt. Mit Dumi­les Tod wird der HipHop-​Kultur ihr viel­leicht größ­ter Anti­held genommen.

Die Kol­la­bo­ra­ti­on von MF DOOM und Mad­lib kann mit den Amalgam-​Comics ver­gli­chen wer­den – das Zusam­men­tref­fen der bei­den größ­ten Comic-​Universen der Welt: Mar­vel und DC. Bei­de leben in ihren eige­nen Dimen­sio­nen und Time­lines, har­mo­nie­ren aber per­fekt, wenn sie mit­ein­an­der verschmelzen.

(Nico Maturo)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)