Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, ist eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Das Bundesministerium für Gesundheit geht davon aus, dass zwischen zwei und sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland davon betroffen sind. Charakteristisch äußert sich ADHS in den drei typischen Hauptsymptomen Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Doch das gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche. Bei einem Teil der Betroffenen halten auch im Erwachsenenalter noch Symptome der ADHS an und beeinflussen das Leben der Menschen, andere erhalten ihre offizielle Diagnose gar erst als Erwachsene. Einer, der aus eigener Erfahrung über die Thematik sprechen kann, ist der Rapper XAVER. Er weiß, vor welche Probleme ADHS betroffene Menschen im Alltag stellt, aber auch, welche kreative Kraft man aus ihr schöpfen kann. Letzteres schien XAVER sich im vergangenen Jahr besonders zunutze gemacht zu haben. Auf das Release seines ersten größeren musikalischen Projekts, der EP "Flugmodus" inklusive zahlreicher Musikvideos und Singles, folgte im Herbst 2022 gemeinsam mit Produzent KazOnDaBeat die erste eigene Tour. Als Künstler durch und durch sticht XAVER nicht nur mit aufwändigen Lyrics und wortgewandtem Rap aus der Berliner New Wave hervor. Er konzipiert zudem seine eigenen Musikvideos, führt dabei Regie und designet Cover-Artworks. Im Interview sprach XAVER mit uns darüber, wie sich seine Sicht auf ADHS im Laufe der Zeit verändert hat, inwiefern die Störung nützlich für seine Kunst ist und warum Lehrer ihn lieber mochten, wenn er bekifft war.
MZEE.com: Du thematisierst in deinen Songs oder anderen Interviews am Rande, dass du ADHS hast. Heute wollen wir detaillierter über das Thema sprechen und deshalb direkt bei dir selbst anfangen. Wann wurde sie bei dir diagnostiziert?
XAVER: In der zweiten oder dritten Klasse. Ich habe das lange nicht genau verstanden und dachte mir: "Ich bin ein Kind und bin einfach so, das ist normal." Erst später in meiner Jugend, ungefähr in der siebten oder achten Klasse, habe ich mich damit auseinandergesetzt und gemerkt, dass ich wirklich viele der typischen Symptome habe. Ich dachte: "Scheiße, ich kann manche Sachen wirklich nicht gut." Ich bin beispielsweise komplett zeitblind. Wenn es heißt, dass ich in einer Stunde irgendwo sein soll, merke ich nicht, wie diese Zeit vergeht. Auch einen Gedanken länger zu verfolgen, fällt mir schwer. Oft greife ich beim Sprechen drei oder vier Themen hintereinander auf und vergesse, womit ich eigentlich angefangen habe. Das Thema Aufmerksamkeit ist für mich grundsätzlich eine schwierige Sache. Dafür habe ich die Hyperaktivität, die ich früher hatte, mittlerweile nicht mehr. Heute weiß ich damit umzugehen und in welchen Situationen ich gut oder schlecht funktioniere. Deshalb stört es meinen Alltag nicht mehr so sehr wie damals in der Schule.
MZEE.com: Hat es dir als Jugendlicher geholfen, zu verstehen, was der Grund für deine Probleme war und dass diese mit ADHS einen Namen hatten?
XAVER: Ich würde nicht sagen, dass all meine Probleme nur von der ADHS stammen. Die Diagnose soll nicht die Ausrede für alles sein. Ich war sehr schlecht in der Schule, was bestimmt teilweise daran lag. Was mir geholfen hat, war eigentlich ein anderer Aspekt. Mich hat es oft genervt, dass ADHS immer als Störung verstanden wird, so im Sinne von "Bei dem stimmt etwas im Gehirn nicht". Natürlich steckt das im Namen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung drin, aber irgendwann habe ich gelesen, dass ADHS auch ein Mechanismus sein kann, den man entwickelt, wenn man eine schwere Kindheit hatte oder bestimmte Traumata erlebt hat. In meinem Jahrgang in der Schule gab es viele Trennungskinder oder solche, die ständig miterleben mussten, wie sich ihre Eltern streiten. Das sind Situationen, in denen Kinder ihre Aufmerksamkeit lieber 1 000 anderen Dingen zuwenden, um sich nicht mit dem Trauma auseinandersetzen zu müssen.
MZEE.com: ADHS ist, wie du schon sagst, in der Tat nicht immer rein genetisch bedingt, sondern kann auch durch psychosoziale Faktoren in der Kindheit beeinflusst werden. Was hat dieses Wissen für dich geändert?
XAVER: Ich habe dadurch gemerkt, dass es etwas ist, woran ich arbeiten und worin ich mich verbessern kann. Ich habe bewusst versucht, ADHS nicht als Ausrede zu nutzen und mich aktiv mit den Dingen auseinanderzusetzen, die mich in der Kindheit traumatisiert haben. Natürlich ist jeder Fall verschieden, aber ich denke, das könnte vielen Betroffenen helfen. Nur weil man diese Diagnose bekommt, bedeutet das nicht, dass man machtlos ist und nichts dagegen tun kann. Das ist bei Problemen im Bereich mentaler Gesundheit oft auch so. Wenn man offiziell diagnostiziert bekommt, dass man psychische Probleme hat, sollte man nicht denken: "Okay, das ist jetzt wissenschaftlich so belegt und ich kann nichts mehr dagegen tun."
MZEE.com: Es gibt verschiedene therapeutische Ansätze zur Behandlung von ADHS. Dazu zählen Medikamente wie Ritalin oder Medikinet, aber auch diverse Verhaltenstherapien. Hast du Erfahrungen mit einer dieser Möglichkeiten gemacht?
XAVER: Nein, habe ich nie. Für meine Mutter war das Thema ADHS früher sowieso Bullshit. Sie hat immer gesagt, dass ich mich einfach benehmen soll und keine Drogen brauche. Zu einem gewissen Grad kann ich sie in diesem Punkt verstehen. Diese Medikamente sind schon starke Drogen. Manche Leute nehmen Ritalin, obwohl sie gar keine ADHS haben, und haben eine ähnliche Wirkung davon wie bei Speed. Ich glaube auch, dass man das deshalb bei Kindern, deren Gehirn noch nicht vollständig entwickelt ist, abwägen muss. Natürlich helfen die Medikamente mindestens kurzfristig. Du kannst durch sie still im Klassenraum sitzen und deine Arbeit machen. Aber ich weiß nicht, ob es deshalb für jeden die richtige Lösung ist, weil ich bei einigen in meinem Jahrgang auch Schattenseiten der Medikamente beobachten konnte. Ein Freund von mir hatte als Nebenwirkung von Ritalin oft keinen Appetit und konnte den ganzen Schultag über nichts essen. Deshalb hat er sich letztendlich geweigert, es weiter zu nehmen. Ich kannte mal Zwillinge, von denen einer ADHS hatte und Ritalin bekam, und der andere nicht. Der eine wirkte auf mich immer kleiner, ungesünder und sozial schwächer als sein Bruder. Natürlich weiß ich nicht, ob das Ritalin in diesen Fällen schuld daran war, aber das hat zu meiner Skepsis beigetragen, die ich bis heute habe. Ich frage mich, ob es sich bei Kindern lohnt, nur für gute Schulnoten mögliche Nachteile in Kauf zu nehmen.
MZEE.com: Du bist ein bekennender Cannabis-Konsument. Registrierst du durch den Konsum Einflüsse auf deine ADHS?
XAVER: Mittlerweile kiffe ich zwar weniger, aber während der Schulzeit habe ich das auf jeden Fall gemacht und Einflüsse wahrgenommen. Ich möchte jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass das sinnvoll oder Selbstmedikation eine Lösung ist, aber mir persönlich hat das damals geholfen. Ich habe in etwa ab der achten Klasse gekifft, auch während der Schulzeit in den Pausen. Dadurch konnte ich im Unterricht still sitzen und war weniger auffällig. Sonst war ich ständig im Fokus, weil ich wegen meines Verhaltens so oft aus der Klasse geflogen bin und alle anderen damit entertaint habe. Das habe ich nicht so gefeiert. Man rutscht leicht in die Rolle des Klassenclowns, wenn man so ein typischer Zappelphilipp ist, obwohl man das gar nicht will. Natürlich hat mir das Kiffen deshalb nicht bei meinen Schulleistungen geholfen. Ich war immer noch genauso verpeilt und habe meine Hausaufgaben nicht gemacht. Aber durch das Kiffen habe ich weniger Ärger für mein Benehmen bekommen. Es gab zwar irgendwann neuen Ärger wegen dem Kiffen in der Schule, aber das war etwas anderes. Ich weiß nur eins: Vom Benehmen her haben mich die Lehrer bekifft mehr gemocht. Auch wenn die das vielleicht gar nicht wissen.
MZEE.com: Hattest du das Gefühl, irgendwie nicht in dieses Schulsystem reinzupassen?
XAVER: Ja, ich habe die Schule gehasst, weil ich dort schon früh schlechte Erfahrungen gemacht habe. Meiner Meinung nach vernachlässigt unser Schulsystem bestimmte Kinder. Ich war auf einer internationalen Schule. Dort waren verschiedene Kinder aus komplett unterschiedlichen Verhältnissen. Es ergab für mich einfach keinen Sinn, alle nach einem allgemeinen Standard und den gleichen Kriterien zu messen. Manche Kinder können sich bei Präsentationen nicht vor eine Klasse stellen und normal reden, aber trotzdem wird es bei allen nach dem gleichen Maßstab bewertet. Zum Glück ist die Schule vorbei, denn diese Zeit war für mich sehr schwierig.
MZEE.com: Ich finde dennoch, ADHS bekommt in Deutschland meistens dann Aufmerksamkeit, wenn es um Kinder und Themen wie Erziehung oder Bildung geht. Findest du, ADHS bei Erwachsenen wird von der Öffentlichkeit nicht genug beachtet?
XAVER: Sicher ist es ein Problem, dass viele Leute nicht genug darüber aufgeklärt sind und das Verständnis dafür fehlt, wie sich ADHS bei Erwachsenen auswirken kann. In einem Bürojob mit festen Arbeitszeiten oder in eintönigen Jobs, in denen man nicht kreativ sein kann, stellt ADHS einen bestimmt oft vor Probleme. In diesen Bereichen muss man sicherlich mehr darüber sprechen. Ich habe das Glück, dass meine Arbeit ganz gut mit der ADHS vereinbar ist und kenne auch einige andere Leute in unserer Branche, denen es ähnlich geht.
MZEE.com: Würdest du sagen, ADHS beeinflusst sogar deine Tätigkeit als Künstler? Auch wenn dieser Zusammenhang wissenschaftlich nicht eindeutig belegt ist, sagt man betroffenen Menschen häufig nach, dass sie eine kreative Ader haben und sich gerne künstlerisch betätigen.
XAVER: Ich glaube, ADHS hilft mir sogar. Dadurch, dass mir die ganze Zeit neue Gedanken durch den Kopf schießen, habe ich viele Ideen. Darauf basiert meine Arbeit eigentlich. Die Ideen sind zwar nicht alle gut, aber weil es so viele sind, ist oft etwas Gutes dabei. Das ist nicht nur bei meiner Musik nützlich. Ich mache nicht nur die Songs an sich, sondern auch meine eigenen Musikvideos und Cover-Artworks. Das Video zu meiner letzten Single "Kosmos im Chaos" ist uns beispielweise sehr gelungen, weil ich noch während dem Dreh die ganze Zeit neue Ideen bekam. Das bedeutete zwar viel zusätzlichen Arbeitsaufwand für meinen Videografen Elías Nader und mich, aber am Ende lohnt sich das immer.
MZEE.com: Hast du beim Schreiben eine bestimmte Vorgehensweise?
XAVER: Es gibt auf jeden Fall einen typischen Prozess, nach dem meine Texte entstehen. Was mir beim Rappen nämlich schwerfällt, ist der Anfang und das Ende. Ich weiß oft nicht, welche meiner Ideen die richtige ist, um sie an den Anfang zu stellen und den Rest des Textes darauf aufzubauen. Ich habe mir deshalb angewöhnt, coole Dinge aufzuschreiben, wenn ich sie höre oder lese. Falls ich im Studio bin und gerade nichts auf meiner Liste habe, frage ich den Produzenten: "Wie heißt der Beat? Wie heißt das Sample?" Dann benutze ich eben das als Schlagwort. Gestern war ich bei einer Session und der Produzent meinte, dass der Beat keinen Namen hat. Ich dachte mir: "Okay, dann schreibe ich jetzt darüber, dass ich mir einen Namen machen will." Es ist egal was, ich brauche nur eine Art Ankerpunkt, der mir für meinen Text auf die Sprünge hilft. Wenn ich den habe und gut vorbereitet bin, geht es meistens sehr schnell.
MZEE.com: Einige Betroffene von ADHS geben an, bei Tätigkeiten, für die sie viel Interesse verspüren, überdurchschnittlich konzentriert und ausdauernd sein zu können. Experten nennen dieses Phänomen "Hyperfokus". Kannst du bei dir Ähnliches beobachten?
XAVER: Auf jeden Fall. Das kann sich aber in beide Richtungen auswirken. In der Schulzeit hatte ich das oft, aber nicht auf den Unterrichtsstoff bezogen. Ich habe beispielweise eine komplette Doppelstunde nur dagesessen und gezeichnet. Dann haben sich die 90 Minuten nur wie 10 Minuten angefühlt. So geht es mir bei vielen kreativen Beschäftigungen, auch bei ganz komischen Sachen, für die ich eigentlich gar kein großes Talent habe. Früher habe ich Skulpturen aus Seife gemacht. Oder Collagen. Ich habe alles ausprobiert. Nicht, weil ich mir gesagt habe, "So, jetzt mache ich eine Collage". Ich habe einfach ein Magazin gelesen und dachte mir: "Ey, geiles Bild, das schneide ich jetzt aus." Bevor man es merkt, sind dann zwei Stunden vergangen und du hast eine krasse Collage vor dir. Solche spontanen Ideen kommen, glaube ich, durch das ADHS ein bisschen öfter.
MZEE.com: Für manche Betroffene spielt deren privates Umfeld eine wichtige Rolle im Umgang mit ADHS. Inwiefern sind deine Freunde oder Menschen, mit denen du zusammenarbeitest, für dein ADHS sensibilisiert? Gibt es bestimmte Strukturen oder Rituale, die ihr entwickelt habt?
XAVER: Dazu muss ich erst einmal sagen, dass ich einen sehr kleinen Kreis habe. Mit den meisten Leuten, mit denen ich befreundet bin, arbeite ich auch zusammen. Das klingt vielleicht komisch, aber man könnte sagen, dass ich nur mit Menschen befreundet bin, die mir etwas bringen und auf der gleichen Wellenlänge sind. Mein bester Freund hat beispielweise noch viel stärkeres ADHS als ich, deshalb können wir uns gegenseitig gut verstehen. Auch mein restliches Team weiß Bescheid, wie sie mit mir umgehen müssen. Mein Manager ruft mich bei Terminen eine Stunde, 30 Minuten und 5 Minuten davor an, weil es mir sonst schwerfällt, pünktlich zu sein. Ich stelle mir selbst Wecker, aber manchmal fallen mir, 5 Minuten bevor ich das Haus verlasse, plötzlich zehn andere Dinge ein, die ich schnell noch erledigen muss. Daran arbeite ich, weil die Unpünktlichkeit für meine Arbeit das Schlimmste am ADHS ist.
MZEE.com: Hast du zum Abschluss Tipps oder einen Rat für Menschen, bei deren Kindern oder ihnen selbst ADHS diagnostiziert wurde?
XAVER: Sport und Bewegung sind superwichtig. Ich mache zwar selbst nicht mehr so viel Sport wie früher, aber heute bin ich beschäftigter und deshalb automatisch am Ende des Tages müde. Früher konnte ich oft schlecht einschlafen, weil ich die ganze Zeit so auf Strom war. Weil ich heute meistens einen vollen Tag habe und meine Energie aufbrauche, habe ich damit keine Probleme mehr. Ich glaube, das ist auch für Kinder wichtig. Mir persönlich helfen auch Atemübungen und Meditationen, um mich runterzubringen. Davon abgesehen sollte man sich mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Man darf nicht denken "Ich bin jetzt ein ADHS-Kind und komme da nie wieder raus", weil beispielsweise ein Lehrer einem dieses Gefühl gibt. Womöglich hat dieser Lehrer selbst keine Ahnung, aber man wird dadurch zu einem Produkt seiner Umgebung. Wenn man sich selbst versteht, gibt das einem Selbstvertrauen und man kann sich dazu überwinden, Sachen zu verändern.
(Enrico Gerharth)
(Fotos von Dylan Barnes)