Triggerwarnung: In diesem Interview werden psychische Erkrankungen, Sucht, Suizid und Tod thematisiert. Falls Euch das triggert, solltet Ihr hier vielleicht nicht weiterlesen. Falls Ihr selbst mit psychischen Problemen kämpft, könnt Ihr euch telefonisch bei mehreren Anlaufstellen melden und darüber sprechen. In Folge haben wir zwei dieser Angebote für Euch verlinkt:
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Der Tod ist seit jeher ein Thema, das Menschen gleichzeitig abschreckt und fasziniert. Viele beschäftigen sich irgendwann mit der Endlichkeit ihrer Existenz oder stellen sich Fragen über das Leben danach. Manche verspüren in bestimmten Lagen gar eine Sehnsucht nach dem Tod. Dies kann beispielsweise bei Betroffenen von psychischen Krankheiten der Fall sein, die den eigenen Tod als Ausweg aus ihren Problemen betrachten und deshalb Suizidgedanken entwickeln. Eine immer wieder aufkommende Debatte in unserer Gesellschaft ist zudem das Thema aktive Sterbehilfe und die Frage, inwiefern man es unheilbar Erkrankten ermöglicht, ihrer Sehnsucht nach dem Tod selbstbestimmt nachzukommen. Auch in der Kunst ist der Tod kein neues Thema. Deutschsprachiger Rap setzt sich jedoch nicht all zu oft explizit mit seinen verschiedenen Facetten auseinander. Anders ist das beim Berliner Urgestein Tamas: Auf seinem am 17.06.2022 erscheinenden dritten Soloalbum "Stress" nimmt er nicht nur seine typische kritische Haltung gegenüber Staat und Polizei ein, sondern schlägt auch nachdenkliche Töne an und gewährt ungewohnt private Einblicke in seine Gefühlswelt. Er erzählt von Erfahrungen mit Suizid im persönlichen Umfeld, eigenen Problemen und Fragen nach dem Ende des Lebens. Grund genug für uns, mit Tamas einige der Themenfelder zu diskutieren und uns in einem Interview dem Thema Sehnsucht nach dem Tod zu widmen.
MZEE.com: Der Tod ist etwas, mit dem manche früher und manche später richtig in Berührung kommen. Kannst du dich daran erinnern, wann du das erste Mal bewusst über den Tod nachgedacht hast?
Tamas: Das war tatsächlich recht früh. Als mein ungarischer Opa verstarb, war ich acht oder neun Jahre alt. Die ganze Beerdigungssituation hat mich total geprägt. Da ist jemand von uns gegangen, aber noch nicht unter der Erde und irgendwie auch noch da … Das war erdrückend. Ich war seitdem nur noch auf einer anderen Beerdigung. Der Tod macht einem Angst, erlöst aber auch manche Menschen – es ist einfach so viel gleichzeitig. Ich erinnere mich nicht an viel aus meiner Jugend und Kindheit, aber an diese Beerdigung erinnere ich mich gut. Allein jetzt darüber zu reden, versetzt mich wieder dahin zurück.
MZEE.com: Das heißt, du hast die Anwesenheit auf Beerdigungen seitdem bewusst gemieden?
Tamas: Ja, habe ich. Ich habe den Angehörigen natürlich mein Beileid ausgesprochen, aber den Abschied wollte ich nie miterleben.
MZEE.com: Der Song "Visar" von deinem kommenden Album "Stress" handelt von Suizidgedanken und deutet an, dass du in deinem Umfeld selbst bereits Erfahrungen mit Suizid machen musstest. Verändern solche Ereignisse die eigene Sicht auf das Leben und den Tod?
Tamas: Das war tatsächlich die andere Beerdigung, auf der ich war. Solche Ereignisse verändern vor allem die Sicht auf Menschen und wie man mit dem Leben umgeht. Man realisiert, wie schnell es gehen kann, dass Menschen abschließen, weil sie nicht mehr können, und dann den Tod als Ausweg wählen. Es gibt leichte Wege in den Tod zu gehen und schwierige – er hat sich da einen sehr leichten Weg gesucht. Da wird einem bewusst, dass man auch an andere Menschen denken muss, wenn man selbst in solche Gedanken verfällt. Wenn ich darüber nachdenke, wie leicht es wäre, sich das Leben zu nehmen, denke ich an die Leute, die noch am Leben bleiben und dass man diese damit sehr verletzen würde. Wenn man keinen Abschiedsgruß hinterlässt und nicht mit den Menschen in seinem Umfeld redet, hinterlässt man nur verbrannte Erde. Meistens schauspielert man, das machen wir alle. Du gehst ja nicht in die Arbeit und sagst: "Ich habe einen Scheißtag." Du wirst gefragt, wie es dir geht und sagst: "Alles gut." So macht das jeder in unserer Gesellschaft.
MZEE.com: Einige deiner Songs thematisieren sehr düstere Gedanken. Lässt du diese über das Ventil Musik raus?
Tamas: Tatsächlich heute mehr als früher. Bei meinem aktuellen Album ist sehr viel Privates mit dabei. Es stimmt, dass ich dadurch vielleicht einfacher loslassen kann. Andererseits macht man sich damit eventuell sogar mehr Probleme, weil man aus dem Nähkästchen plaudert. Aber ich würde schon sagen, dass es hilft, darüber zu reden. Oder eben nur durch einen Song ein Gespräch anzuregen, so wie jetzt mit euch zum Beispiel. Sowas hilft auch.
MZEE.com: Würdest du Suizidgedanken eigentlich mit einer Sehnsucht gleichsetzen? Oder ist das zu positiv aufgeladen?
Tamas: Nein, die Sehnsucht nach dem Tod ist in dem Moment ja nur da, weil der Tod etwas Leichtes für die Person ist. Er wirkt zumindest leicht. Die Sehnsucht nach dem Tod ist wie die Sehnsucht nach dem Schmerz, wie man sie zum Beispiel in toxischen Beziehungen hat. Man liebt sich, aber trotzdem fickt man sich die ganze Zeit selbst. Das ist die Ecke im Kopf, die komplett dunkel ist und einen anzieht – wie ein schwarzes Loch. Man sollte versuchen, sich davon zu entfernen. Sei es, indem man sein Mindset ändert oder den Freundeskreis wechselt, wenn der schlecht für einen ist. Heutzutage nehmen ja auch viele Kids Drogen, um cool zu sein und weil man sie leichter denn je bekommt. Dadurch wird es ebenfalls dunkler im Kopf. Dein Endorphin-Spiegel ist ohne Drogen unten, du gehst deinen Verpflichtungen nicht mehr nach und bist abgefuckt von allem. Dann kommt auch die Sehnsucht nach dem Tod. Alles soll aufhören.
MZEE.com: In Ländern wie Belgien oder den Niederlanden haben unheilbar Kranke die Möglichkeit, der Sehnsucht nach dem Tod durch aktive Sterbehilfe nachzukommen. Dies gilt dort außerdem für Menschen, die unter schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depression leiden. In diesen Fällen muss neben der Erfüllung allgemeingültiger Kriterien für die Bewilligung von Sterbehilfe zusätzlich ein:e Psychiater:in klären, ob die vorliegende psychische Erkrankung unheilbar ist und keine Aussicht auf Besserung besteht. Wie denkst du darüber?
Tamas: Ich habe mal in der Diakonie gearbeitet und mir manchmal gedacht: "Kann nicht einfach jemand dieses Leid beenden?" Wenn der Mensch das selbst will, wieso nicht? Ich finde es schlimmer, jemanden zu zwingen, auf dieser Welt zu bleiben, obwohl er:sie das gar nicht mehr möchte. Das ist natürlich ein schwieriges Thema, aber ich denke, wenn sich ein Mensch aussucht zu sterben, weil er nicht mehr kann, dann sollte ihm geholfen werden. Natürlich muss dabei durch mehrere Instanzen psychologisch abgesichert sein, dass dem Menschen anders nicht mehr zu helfen ist. Aber sicherlich gibt es auch Gründe dagegen. Es gibt bestimmt viele, die die Meinung vertreten, dass alle psychisch kranken Menschen wieder "gesund" werden können. Aber das ist wieder die egoistische menschliche Art: "Ich kriege es hin, dass dieser Mensch wieder gesund wird."
MZEE.com: Bestimmt hilft es, dass in so einem Prozess die Familie und enge Mitmenschen einbezogen werden können und ihnen somit die Möglichkeit gegeben wird, sich zu verabschieden.
Tamas: Auf jeden Fall … Wenn diese nicht sagen: "Nein, ich möchte nicht, dass er:sie stirbt." Das würde es sogar erschweren. Das Thema haben wir ja in Deutschland auch in Situationen, in denen Verwandte entscheiden, ob bei einer Person die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden.
MZEE.com: Der Begriff Werther-Effekt beschreibt das Phänomen, dass sich nach der Veröffentlichung des Romans "Die Leiden des jungen Werthers" von Goethe, in dem die Hauptfigur Suizid begeht, eine Reihe junger Menschen ebenfalls das Leben nahm. Warum, glaubst du, kommt es zu solchen Nachahmungen?
Tamas: Weil jeder Vorbilder hat. Damals war es Goethe, heute ist es vielleicht Lil Peep. Der kann Gefühle einfach gut transportieren und viel Trauer in dein Herz tragen. Damals wurdest du zu dem, was du zig mal gelesen und verinnerlicht hast, so wie du heute zu dem wirst, was du hörst oder siehst. Menschen sind Gewohnheitstiere. Wenn du dich daran gewöhnst, dass es dir schlecht geht, obwohl es dir nicht schlecht geht, passieren solche Dinge.
MZEE.com: Inzwischen sind Nachahmungseffekte bei Suiziden sogar wissenschaftlich nachweisbar. Deshalb geriet in Deutschland beispielsweise die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" in die Kritik, die vom Suizid einer Schülerin handelt. Glaubst du, die Popkultur stellt Suizid oft verklärt oder gar glorifiziert dar?
Tamas: Ja, absolut. Es ist auch bei mir selbst so, dass ich meine schlechten Gefühle aufschreibe und rausbringe. Aber eigentlich kannst du nichts dafür, wer deine Musik hört. Kunst ist breit gefächert. Es gibt viele Songs, die Leute glücklich machen. Vielleicht sind jetzt gerade die Zeiten einfach schlecht. Jede:r kann durch einen Klick lesen, wo etwas Schlechtes passiert und schlechte Nachrichten sind leider auch immer die Lautesten. Das zieht die Leute runter. Darkness comes all over us.
MZEE.com: In unserer Gesellschaft sprechen wir mittlerweile offen über psychische Krankheiten wie Depressionen, aber Suizid ist nach wie vor häufig ein Tabuthema – obwohl es in jungen Altersgruppen sogar die häufigste Todesursache ist. Das erschließt sich mir nicht.
Tamas: Das stimmt. Allerdings begehen Menschen vielleicht sogar leichter Suizid, wenn man das Thema zu sehr in den Vordergrund rückt, weil die Angst davor mehr verloren geht. Es sollte nicht heißen: "Wenn du sterben willst, dann stirb doch." Sondern eher: "Versuch, dir Hilfe zu suchen." Dann ist ein Weg gegeben, der möglicherweise dort enden kann, worüber wir geredet haben – nämlich bei der Sterbehilfe.
MZEE.com: Aber nur weil man mal Suizidgedanken hat, heißt es ja nicht, dass es nicht besser werden kann. Ich glaube, wenn mehr darüber gesprochen würde, würde man merken, dass da draußen viele Menschen solche Gedanken selbst schon hatten und aus diesen wieder herausgefunden haben. Das kann Perspektiven geben.
Tamas: Natürlich, zum Beispiel wenn man darüber in bestimmten Communitys mit anderen Menschen spricht. Solche Angebote sind wichtig, denn leider gibt es immer wieder Arschlöcher, die einem sagen: "Ach, komm, so schlimm ist es doch nicht!" Deshalb braucht es helfende Auffangbecken, doch davon gibt es leider nicht genug. Selbst wenn du in die Psychiatrie willst, weil du Suizidgedanken hast, wirst du gefragt: "Warum haben Sie denn diese Gedanken?" Wenn du das nicht weißt, sollst du dir erst mal eine:n Psycholog:in nehmen. Du musst tausende Gänge gehen, um dich in Deutschland einweisen zu lassen. Das macht mich traurig und muss geändert werden, damit jede:r mit mentalen Problemen Hilfe bekommt. Ich hatte selbst mal eine Phase, in der mich ein dreiviertel Jahr lang alles angekotzt hat und ich wütend war, weil ich mich nicht verstanden gefühlt habe. Dadurch habe ich mich sehr verändert, habe Drogen genommen und richtig viel getrunken. Ich trinke zwar immer noch, das ist mein Laster, aber in dieser Phase war es krass. Alle haben gesagt: "Du bist doch Tamas, du schaffst das schon." Verpiss dich! Du weißt doch gar nicht, wie es in meinem Kopf aussieht. Das weiß niemand von anderen Menschen. Deshalb sollte es mehr Plätze geben, an denen man sich mit Leuten zusammensetzen kann, die Ähnliches erlebt haben und einen verstehen. Sowas gibt es zwar, aber dafür ist in Deutschland leider wenig Geld da. Für einen Flughafen, der nicht funktioniert, oder eine neue Polizeistation in Kreuzberg ist Geld da.
MZEE.com: Du hast in einigen anderen Interviews erwähnt, dass Alkohol und andere Drogen für dich in der Vergangenheit ein Mittel zur Verdrängung darstellten und du versuchst, das zu ändern. Warum ist es gefährlich, Probleme durch Rausch zu verdrängen?
Tamas: Ganz einfach: Weil es funktioniert. Du gaukelst deinem Körper und deinem Gehirn etwas vor und das funktioniert eine Zeit lang, aber nicht ewig. Ich zitiere da gern einen Spruch meiner Mutter: "Probleme können schwimmen." Egal, wie viel du trinkst, die Probleme kommen wieder hoch. Du musst dich mit ihnen auseinandersetzen, du musst mit Menschen darüber reden. Man kann nicht alles mit sich selbst ausmachen. Wer das sagt, gaukelt sich nur wieder etwas vor. Du musst dich verstanden fühlen, erst dann ist ein Weg zur Besserung möglich. Drogen machen dir eine kurze Party, aber danach ist wieder alles für den Arsch. Und dann machst du es wieder. Das ist dann der Sumpf. Deshalb gehe ich jetzt auch selbst anders mit Alkohol um. Ich habe zwar nicht komplett damit aufgehört, aber trinke nicht mehr täglich. Ich unterscheide, ob ich beispielsweise gerade auf Tour bin oder zu Hause, wo ich vernünftigen Verpflichtungen nachgehe. Das Mindset hat sich also geändert.
MZEE.com: Du scheinst dir über deine eigene Verantwortung als Künstler, der düstere Themen in seiner Musik verarbeitet, Gedanken zu machen. Gibt es Momente, in denen du dich fragst, wie du die Menschen am anderen Ende der Leitung damit beeinflusst?
Tamas: Ja. Aber ich bin durch Gespräche zu dem Entschluss gekommen, dass das den Leuten eher hilft. Also dass die hilfreiche Wirkung stärker ist als die negativen Auswirkungen. Das hat mich auch dazu gebracht, mich mehr zu öffnen. Vielleicht helfe ich einigen damit, wenn ich von meinem eigenen Leid erzähle.
MZEE.com: Kostet es dich viel Überwindung, solche Dinge in der Öffentlichkeit zu thematisieren?
Tamas: Ja, total, es kostet mich jetzt gerade Überwindung. Aber es befreit mich auch. Ich weiß zwar, dass ich mich damit angreifbar mache, aber dann greift mich doch an. Wenn ich über Dinge rede, die mich ficken, kann niemand kommen und mich noch mehr ficken. Ich habe mich ja selber schon so belastet, dass niemand noch mehr Last auf mich legen kann.
MZEE.com: Auf dem Song "War das alles" vom kommenden Album nimmst du die Sicht eines alten Mannes ein, der kurz vor dem Tod auf sein Leben zurückblickt. Hast du Angst davor, dich am Ende fragen zu müssen, ob du deine Zeit richtig genutzt hast und das schon alles war?
Tamas: Das Einzige, das ich mich sicher am Sterbebett fragen werde, ist: "War ich ein guter Mensch?" Tarek – mit dem dieser Song gemeinsam entstanden ist – und ich dachten uns, dass man bestimmt überlegen würde, was man hätte besser machen können. Ich persönlich hätte vielleicht mehr in das normale Leben eintauchen können. Aber grundsätzlich denke ich schon, dass ich versucht habe, alles zu geben und dass ich kein schlechter Mensch bin.
MZEE.com: Möchtest du unserem Gespräch noch etwas Abschließendes hinzufügen?
Tamas: Falls manche Leser:innen Probleme haben sollten: Es gibt sehr viele Notfalltelefone, bei denen man anrufen kann, und die helfen einem wirklich. Ich habe das auch schon mal gemacht. Selbst wenn es nur dieses eine Gespräch mit einer Person ist, die Euch nicht kennt und nicht wertet: Redet mit jemandem. Verzweifelt nicht. Wenn es nicht der beste Freund oder die beste Freundin sein kann, dann ruft bei diesen Hotlines an. Über Eure Probleme zu reden, macht alles besser.
(Yasmina Rossmeisl & Enrico Gerharth)
(Fotos: BerlinerBlende)