"Der echte Rap wird gerade erst geboren." Das sagte Rapper Otoy kürzlich gegenüber dem WDR-Magazin Cosmo. Seiner Meinung nach entsteht echter ukrainischer Rap erst jetzt – im Angesicht der Vernichtungsfantasien von Putin. Er ist sich sicher, dass sich beispielsweise viele Künstler:innen entscheiden werden, zukünftig auf Ukrainisch statt auf Russisch zu rappen. Seit den 90er Jahren, als HipHop seinen Weg in die ehemalige Sowjetunion findet, beobachten sich die russische und die ukrainische Rap-Szene gegenseitig genau. Verkürzt kann man sagen: In Moskau liegt das Geld, in Kyiv die Kreativität. Zwar ist die russische Rap-Szene wesentlich erfolgreicher und größer als die ukrainische, gleichzeitig gilt die Musikindustrie in Russland aber als altmodisch und festgefahren. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung blickt man daher aus Moskau nach Kyiv, das sich in den letzten Jahren zu einem der kreativen Hotspots Osteuropas entwickelt hat – und das ukrainische Künstler:innen mit einem Markt lockt, den es in ihrem Heimatland lange nicht gegeben hat.
The Moscow Times schrieb 2017, dass viele ukrainische Künstler:innen eigentlich ihre Auftritte in Russland absagen wollten – aus Protest gegen die russische Annexion der Krim und den Krieg im Donbass. Sie wurden jedoch abgeschreckt von ihren Rap-Kolleg:innen der Band Boombox, die dadurch viel Geld verloren haben sollen. Künstler:innen wie Alyona Alyona und Alina Pash halten jedoch bereits seit einigen Jahren dagegen. Sie haben sich gegen den russischen Markt entschieden. Mit ihrer Musik auf Ukrainisch, die sie selbst vermarkten, sind sie längst Popstars in der Ukraine. 2019 durfte Alina Pash beim ukrainischen Unabhängigkeitstag sogar die Nationalhymne rappen.
Wer etwas über die Ukraine lernen möchte, der sollte vor allem eins tun: den Menschen dort zuhören. Und das geht bekanntlich besonders gut, wenn unter das Erzählte ein Beat gelegt wird. Fünf Künstler:innen stechen dabei besonders heraus.
Alyona Alyona
Während sich in Deutschland Female Artists erst in den letzten Jahren einen echten Platz in der Rap-Szene erkämpft haben, steht in der Ukraine schon seit einigen Jahren eine Frau an der Spitze. Alyona Alyona ist die mit Abstand bekannteste Rapperin des Landes – weit vor ihren männlichen Kollegen. Ihren Durchbruch hatte die heute 30-Jährige 2018 mit einem Song über Fische, "Рибки" (Ribki) – in dem viele eine empowernde Message für junge Frauen sehen. "Ribki", auf Deutsch etwa "Fischlein", wird in der Ukraine gerne Frauen auf der Straße hinterhergerufen. In Alyona Alyonas Song ist der Fisch jedoch derjenige, der zufrieden im Wasser schwimmt und dem Seemann zuschaut, der in Seenot um sein Leben kämpft. Alyona Alyona steht für einen starken, energetischen Flow und Texte mit klarer Ansage. Ihr Sound orientiert sich an Elektro-inspirierten Trap-Beats. Dabei nimmt sie sich selbst nicht besonders ernst, tritt aber gleichzeitig für radikale Selbstakzeptanz ein. Die Künstlerin ist außerdem international vernetzt: Auf ihrem Album "Galas" von 2021 featuret Alyona Alyona Künstler:innen aus Israel, den USA, Mexiko und Deutschland. Auf "Shalom", einem Track über mehr Frieden und Liebe in der Welt, rappt auch Olexesh einen Part. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs macht Alyona Alyona wochenlang Freiwilligenarbeit in ihrem Heimatort Baryschiwka. Anschließend geht sie auf Reise in verschiedene europäische Städte, um Ukrainer:innen zu unterstützen, die sich im Ausland für ihr Heimatland engagieren.
T-Fest
Ein hagerer, blasser Junge schaut einen aus tiefliegenden Augen an, wenn T-Fest rappt. Vielleicht liegt es an seinem fragilen Aussehen, dass in den Lines des 25-Jährigen über Frauen, Loyalität und darüber, wie er das Rap-Game dominiert, immer auch eine gewisse Verletzlichkeit und Sehnsucht mitzuschwingen scheint. Obwohl in seiner Heimatstadt Czernowitz vorrangig Ukrainisch gesprochen wird, rappt T-Fest auf Russisch – und zwar nicht erst, seit er 2017 vom russischen Label "Gazgolder" gesignt worden ist. Einen seiner größten Erfolge feiert T-Fest mit dem Party-Track "Ламбада" (Lambada), den er 2017 zusammen mit dem kasachischen Künstler Scriptonit veröffentlicht. Seitdem konzentriert er sich aber eher auf straighte Trap-Songs. Der Krieg in der Ukraine zwingt auch T-Fest, sich zu positionieren. Im März gibt er auf Instagram bekannt, den Vertrag bei Gazgolder gekündigt und seine Konzert-Termine in Russland abgesagt zu haben. "Ich bin Ukrainer, ich stehe zur Ukraine", schreibt er.
Krechet
Ja, auch in der Ukraine gibt es sie: die Masken-Rapper:innen. Für Rapper Krechet reicht aber keine Panda- oder Iron Man-Maske, stattdessen versteckt er sich am liebsten komplett unter Gasmaske, Steampunk-Brille und einer dramatischen Kutte. Seinen bürgerlichen Namen kennt niemand. Krechet mag es düster und brutal. In dem Video zu seiner Single "Засинай" (Sasinaj) etwa bringt ein Maskierter einen reichen Geschäftsmann nach dem anderen um. Eine Allegorie auf das ukrainische Volk, das der Regierung die Macht entreißen wird, vermutete das ukrainische Online-Magazin "СЛУХ" (Sluch) bei der Veröffentlichung 2021. Den Krieg in seinem Land verarbeitet Krechet, wie viele seiner Kolleg:innen, musikalisch. Mitte April 2022 veröffentlicht der Künstler die EP "Незвана вечеря" (Nesvana vecherja), deren Track "Medeja" er laut dem Magazin rap.ua 158 Kindern widmet, die im Krieg getötet worden sind. "Wir sehen, wie unsere Kinder weinen, Städte lachen im Moment nicht", rappt er darin.
Alina Pash
Genauso wie Alyona Alyona ist auch Alina Pash inzwischen ein echter Popstar in der Ukraine. In Deutschland ist sie einigen bekannt, weil sie die Ukraine 2022 eigentlich beim Eurovision Song Contest vertreten sollte – ihre Teilnahme aber zurückgezogen hat, weil sie in der Vergangenheit mutmaßlich ohne Erlaubnis auf die von Russland annektierte Krim gereist war. Erst durch ihren Rücktritt wurde das Kalush Orchestra nominiert, das den Wettbewerb schließlich gewinnt. Dabei wäre sie rein stilistisch wohl eine gute Vertretung der Ukraine gewesen. Alina Pash, die in den Karpaten geboren wurde, bedient sich sowohl in ihrer Musik als auch in ihrem Auftreten der ukrainischen Folklore und schafft dabei mühelos den Spagat zwischen Pathos-beladener Pop-Musik – wie in ihrem Song "Shadows of Forgotten Ancestors", mit dem sie am ESC teilnehmen wollte – und mystisch-aggressivem Rap. So tanzt sie im Video zu "Bosorkanya" als Hexe in einem okkulten Kreis und rappt: "Nachbarn bekreuzigten sich, wenn ich mit einem leeren Eimer die Straße kreuzte, die Nachbarn hatten Angst vor mir, weil ich fünf schwarze Katzen hatte." Ähnlich wie Krechet ist Alina Pash ein düsteres, wenn auch dabei wesentlich verspielteres Gesamtkunstwerk aus Musik, Mode und Performance – jedoch längst zugänglich für die breite Masse. Das beweist neben ihrer ESC-Nominierung auch ihr Auftritt 2019 vor dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi. Für die ukrainische Rap-Szene leistet sie im Übrigen auch auf struktureller Ebene einen Beitrag: Viele Rapper wie Krechet oder Otoy waren oder sind bei ihrem Label "Batinga Blood" unter Vertrag.
Otoy
Dass Rapper mit Maschinengewehren posieren, kennt man. Nur sind diese meistens nicht echt und werden nach dem Fotoshooting wieder bei der Requisite abgegeben. Bei Otoy ist das anders. Der 23-jährige Rapper aus Lviv hat sich freiwillig als Soldat der ukrainischen Armee gemeldet. "Missiles, highlights, blood on sleeve, miss those Fridays we used to have, kisses, twilights, refuse to sleep, now we soldiers and we can't calve", rappt Otoy, der schon immer auch auf Englisch rappt, in seinem neuesten Song "Find my Country". Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, auch Otoy würde sich der Ästhetik von Waffen, Gewalt und der loyalen Crew ebenfalls nur für das Musikvideo bedienen, so unbeschwert rappt er daher. "Zurzeit ist der Krieg meine Routine", sagte er in einem Interview mit Arte TRACKS. Otoy macht düsteren, fast trotzigen Rap, in dem Gewalt und Stärke schon immer eine Rolle spielen, wie etwa im Track "Street Fighter" oder im Video zu "КІСТКИ" (Kistki), in dem er einen bewaffneten Raubüberfall inszeniert.
Über Nacht auf die europäische Karte gesetzt
Es ist die Mischung aus Pathos und Humor, der Hang zu großen Gefühlen kombiniert mit der Unfähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen, die ukrainischen Rap zu dem macht, was er ist. Zu finden ist diese Mischung im Übrigen auch im Song "Stefania" vom Kalush Orchestra, den Gewinnern des Eurovision Song Contest 2022. Mühelos vereinen die Rapper:innen darin den großen Kitsch mit kindlicher Freude und die Rap-Parts mit folkloristischen Elementen.
Über Nacht hat Kalush ukrainischen Rap auf die europäische Karte gesetzt – zumindest für die Länge der bekanntlich kurzen Halbwertszeit von ESC-Sieger:innen. Dabei hätten sie ihr Genre kaum besser repräsentieren können. Denn diese Kombination aus Altem und Neuem, Ernstem und Lustigem, Rohem und Mysteriösem ist es auch, die Rapper:innen wie Alina Pash, Krechet oder Alyona Alyona auszeichnet.
Spätestens dieser Erfolg zeigt, dass man in Sachen Rap mit der Ukraine rechnen muss. Bei aller Entschlossenheit, mit der die ukrainischen Rapper:innen auch im Angesicht des Krieges weitermachen und die Musik nutzen, um ihre Geschichten zu erzählen, wird daran wohl auch Wladimir Putin nichts ändern können.
(Marie Ahlers)
(Titelbild von Daniel Fersch)