Da Musik bekanntlich Geschmackssache ist, würde man auf die Frage nach prägenden HipHop-Alben wahrscheinlich sehr unterschiedliche und individuelle Antworten erhalten. Dennoch würden bestimmte Alben wohl häufiger genannt werden als andere. Manche Platten schaffen es schließlich, bei nahezu jedem einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie prägen ihr Genre nachhaltig und wirken sich direkt oder indirekt auf die Musik anderer Künstler:innen aus. Was aber macht diese Alben so besonders? Sicher ist es vor allem wichtig, alte Muster zu durchbrechen und einen neuen Weg vorzugeben. Dabei ist es essenziell, den ganz eigenen Sound zu finden. Eine standardisierte Antwort gibt es hierfür aber wohl nicht. Einfluss gilt es, stets individuell zu betrachten – und ein Blick in die Geschichte des einflussreichen Raps lohnt sich. Dieses Mal mit dem sechsten Studioalbum von Jay-Z: "The Blueprint".
Vor dem Release
Zu Beginn der 00er Jahre ist Jay-Z bereits ein Rap-Superstar. Während der vorherigen fünf Jahre wurde jedes seiner Alben mit mindestens einer Platinplatte ausgezeichnet, drei von ihnen erklommen die Nummer eins der amerikanischen Charts. Trotzdem lastet ein riesiger Druck auf Jay-Z und seinem nächsten Release. Denn langsam, aber sicher werden Stimmen laut, welche behaupten, Jigga würde sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Darüber hinaus befindet er sich zu der Zeit seit Längerem in einer Auseinandersetzung mit diversen New Yorker Rappern wie Fat Joe, Jadakiss und Mobb Deep. Auch bahnt sich eine Fehde mit Nas an. Des Weiteren ist die gesamte HipHop-Szene in tiefer Trauer, denn nur wenige Wochen vor dem Release verstarb die R 'n' B-Sängerin und Freundin von Roc-a-Fella Records-Mitbegründer Damon Dash, Aaliyah, bei einem tragischen Flugzeugabsturz. Sie war auch eine enge Freundin von Jay-Z. Als wäre all das noch nicht genug, wird Sean Carter – Jay-Zs bürgerlicher Name – wegen Waffenbesitzes und Körperverletzung angeklagt. Nichtsdestotrotz erscheint Jay-Zs sechstes Album "The Blueprint" am 11. September 2001. Dem Tag, der allen als der Tag der Anschläge auf das World Trade Center in New York im Gedächtnis bleibt. Ein unglücklicher Zufall, denn das Releasedatum musste aufgrund von bereits aufgetauchten Leaks vorgezogen werden. In Anbetracht all dieser Umstände steht das Release natürlich unter einem denkbar schlechten Stern. Somit ist es ein schweres Unterfangen für Jay-Z, seinen Mäklern und Konkurrenten die Stirn zu bieten.
Die Producer & ihre Samples
Anstatt sich jedoch, wie seine Kritiker behaupten, auf seinem Ruhm auszuruhen, suchte Jay-Z für sein neues Release nach neuen Inspirationen und Sounds. So gibt er auf dem Album zwei besonderen jungen Produzenten eine Chance: zum einen Just Blaze, der zu diesem Zeitpunkt noch recht unbekannt ist. Zwei der von ihm produzierten Songs schaffen es sogar, als Single ausgewählt zu werden. Zum anderen findet sich auf der ersten Single des Albums in den Credits ein Name, der noch die gesamte HipHop-Szene auf den Kopf stellen sollte. Am 21. August 2001 erscheint "Izzo (H.O.V.A)", produziert von niemand Geringerem als Kanye West, der bis dahin noch kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Zwar baute er schon im Vorjahr auf "The Dynasty: Roc La Familia" einen Beat, jedoch war "Izzo (H.O.V.A.)" als Leadsingle für "The Blueprint" viel prominenter platziert und erreichte die Top Ten der Billboard-Charts. Damit feiert Kanye West seinen ersten großen Hit als Produzent und legt so den Grundstein für eine der größten HipHop-Karrieren aller Zeiten. Neben den beiden Newcomern sind auch Größen wie Timbaland, die Trackmasters oder Bink an den Instrumentals beteiligt.
Insgesamt spielt das Thema "Sampling" eine große Rolle auf dem Album. Nachdem in den 90er Jahren einige Artists wie Biz Markie oder A Tribe Called Quest schwere rechtliche Konsequenzen wegen ungeclearter Samples tragen mussten, wurde der Einsatz von echten Instrumenten, vor allem aber Synthesizern, immer beliebter. Denn das Einholen von Lizenzen für einzelne Samples ist aufwendig und vor allem teuer. Jedoch verfügte Jay-Z zu dieser Zeit schon über beachtliche finanzielle Mittel. So lässt sich auf nahezu jedem Song ein Sample finden. Vor allem Vocals lassen sich als immer wiederkehrendes Element ausmachen. Aus den musikalischen Werken von The Doors, Al Green und Bad Meets Evil werden Songs wie "Five to One", "Blueprint (Momma Loves Me)" oder "Renegade" – auch wenn einige der benutzten Soundschnipsel niemals lizensiert werden. Auf "Girls, Girls, Girls" sampelt Just Blaze Vocals von Slick Rick, Biz Markie und Q-Tip. Sogar der King of Pop, Michael Jackson, trägt Vocals bei – wird aber nicht in den Credits genannt. Der Song schafft es auf Platz 18 der US-Charts. Die Single "Song Cry" wird ebenfalls von Just Blaze produziert. Diese wird sogar für den Grammy in der Kategorie "Best Male Rap Solo Performance" nominiert. Das enthaltene Sample stammt aus "Sounds Like a Love Song" von Bobby Glenn. Trotz des Erfolgs erhält Glenn nie Credits für die Verwendung seines Werks. Aber auch um den Song "Izzo (H.O.V.A.)" gab es rechtliche Probleme. So behauptet Demme Ulloa, die Sängerin, die in der Hook "H to the izzo, V to the izzay" singt, niemals Geld für ihren Beitrag erhalten zu haben.
Die Entstehung des Covers
Inhaltlich strotzt das Album vor Referenzen an reale und fiktive Gangster, wie man es von Jay-Z gewohnt ist. So auch das Cover des Albums, das ihn vor einer Gruppe nicht erkennbarer Männer auf einem Tisch sitzend zeigt, während er eine Zigarre raucht. Das Foto wurde von Jonathan Mannion geschossen. Dieser hat schon für die Coverbilder der vorangegangen Alben gesorgt und soll im Laufe seiner Karriere über 300 Cover gestaltet haben, unter anderem für Dr. Dre, Aaliyah, Outkast, Nas, Nicki Minaj, Brandy Norwood oder Kendrick Lamar. Das Cover zu "The Blueprint" ist einem Bild nachempfunden, das im Original aus einem Fotoband von Jocelyn Bain Hogg stammt. In diesem werden echte britische Kriminelle aus London ungeschönt und authentisch auf Schwarz-Weiß-Film porträtiert. Selbstverständlich wird hier noch Jay-Zs persönliche Note hinzugefügt. So trägt er eine Jacke aus seiner Rocawear-Linie, das auf dem Tisch liegende Telefon im Originalbild wurde durch ein Mikrofon ersetzt. Die Darstellung auf dem Bild soll außerdem Jay-Zs Machtstellung symbolisieren. Wie eine Figur aus "Der Pate" sitzt er auf dem Tisch und gibt Anweisungen an seine Gefolgschaft. Extrem passend, wenn man bedenkt, dass Sean Carters Wandel vom dealenden Hustler hin zum anzugtragenden Geschäftsmann, der er heute ist, sich hier bereits deutlich zeigt.
Der Beef mit Nas
Doch "The Blueprint" stellt auch den Startpunkt eines der größten Beefs in der HipHop-Geschichte dar. Nämlich den von Jay-Z und Nas, nachdem die beiden bereits seit 1996 wegen abgesagter Features, ungefragtem Sampling und persönlicher Befindlichkeiten immer wieder Sneak-Disses austauschten. Dies änderte sich auf dem Hot 97 FMs 2001 Summer Jam. Dort startete Jay-Z seine erste direkte Attacke auf Nas. Er performte den bis dahin unreleasten Song "Takeover", der zwar hauptsächlich Disses gegen Mobb Deep enthielt, jedoch mit einer sehr prägnanten Line abschloss: "Ask Nas, he don't want it with Hov. No." Diese Provokation konnte Nas nicht auf sich sitzen lassen und beleidigte Jay-Z auf einer Reihe von Freestyle-Tapes. Als dann "The Blueprint" erscheint, wird "The Takeover" gleich als zweiter Song platziert und enthält noch einen dritten Part, der sich gänzlich gegen Nas richtet und gleichzeitig eine versteckte Anspielung darauf enthält, dass Jay-Z eine Affäre mit der Mutter von Nas' erstem Kind, Carmen Bryan, hätte. Natürlich schaden Disses dieser Art der Reputation eines gestandenen Rappers wie Nas. Unter Fans und Kritikern wird die Frage laut, ob Nas sich davon überhaupt erholen, geschweige denn zurückschlagen kann. Dieser releast aber den bis heute legendären Disssong "Ether". Darauf greift er Jay-Z auf jeder erdenklichen Ebene an und ändert den Chorus von "The Takeover" von "R-O-C, we runnin' this rap shit" zu "R-O-C, get gunned up and clapped quick". Daraufhin entbrennt ein regelrechter Krieg um die Krone des "King of New York" zwischen den beiden. Dies ändert sich erst vier Jahre später, als Jay-Z bei seiner "I Declare War"-Show einige Acts einlädt, mit denen er in der Vergangenheit Differenzen hatte. Unter anderem auch Nas. So beenden sie ihren Beef im Jahr 2005 genauso, wie er begonnen hatte: live on Stage.
Erfolg auf ganzer Linie
Der erwähnte Druck, der bis zum Release auf Jay-Z lastete, hätte einige Artists zusammenbrechen lassen, nicht aber Hova. Mit jungen Talenten wie Just Blaze und Kanye West im Rücken schien er seinen Hunger aus früheren Tagen auf der Platte wiedergefunden zu haben. Raptechnisch befand sich Jay-Z nach wie vor in seiner Blüte und festigte weiter seinen Platz an der Spitze des New Yorker Raps. Der einzige Rapper, den Jay-Z als Gast auf sein Album eingeladen hat, war Eminem, der zu dieser Zeit am Anfang seiner Karriere stand und einen gigantischen Hype mit sich trug. Sein Part auf dem von ihm produzierten "Renegade" gilt als so gut, dass bis heute behauptet wird, Eminem hätte Jay-Z auf seinem eigenen Song zur Nebenperson degradiert.
Umsatztechnisch schnitt das Album sehr stark ab. Es verkaufte sich in der ersten Woche knapp eine halbe Million Mal und sollte später den Doppelplatin-Status in den USA erreichen. In Deutschland – wo HipHop in den frühen 2000ern kommerziell eher eine untergeordnete Rolle spielte – konnte die Platte Platz 55 in den Charts erreichen. Insgesamt wurden weltweit mehr als 3,5 Millionen Einheiten verkauft. Auch die Presse war von Jay-Zs sechstem Studioalbum mehr als begeistert: Das Vibe-Magazin bezeichnete "The Blueprint" als Jay-Zs bestes Album, The Source erteilte im Releasejahr ein "5-Mic-Rating", was die beste zu erreichende Wertung darstellt. Der BBC-Radiomoderator DJ Ace sagte über das Album: "The Blueprint for me is the perfect Album. If we think about consistency, impact on general culture – Jay-Z might have to be number one." Der Langspieler wird sogar im Jahr 2019 in die amerikanische "National Recording Registry" aufgenommen. In dieser finden sich Singles und Alben, welche "kulturell, historisch oder ästhetisch bedeutend" sind. Aus den knapp 500 aufgenommenen Titeln stammt der Großteil aus den Genres Jazz, Klassik oder Blues. Lediglich acht dieser Alben stammen von Rappern, unter anderem 2Pac, Public Enemy – oder eben Jay-Z. Im Übrigen ist "The Blueprint" das erste Rapalbum aus dem 21. Jahrhundert, das in das Archiv aufgenommen wurde. All das wirkt umso beeindruckender, wenn man den Gerüchten glaubt, dass Jay-Z "The Blueprint" in nur zwei Wochen aufgenommen habe – ohne dabei seine Lyrics aufzuschreiben.
War "The Blueprint" wirklich eine Blaupause?
Heute ist Jay-Z einer der größten Musiker der Welt. Zur Zeit, als "The Blueprint" erschien, hatte Jigga zwar schon großen Erfolg, jedoch konnte niemand ahnen, dass er einmal zum ersten Rap-Milliardär werden sollte. Sein derzeitiges Vermögen soll sich laut Schätzungen auf 1,3 Milliarden US-Dollar belaufen. Ironischerweise wird er in der HipHop-Welt finanziell nur von seinem ehemaligen Schützling Kanye West übertrumpft. Insgesamt hinterlässt das Album tiefgreifende Spuren. Immer wieder finden sich Referenzen und Hinweise, die auf die Platte oder einzelne Songs von ihr abzielen. Sogar ganze Alben werden in Anlehnung an sie benannt. So beispielsweise "The Pinkprint" von Nicki Minaj oder Larry Junes "Orange Print". Alles in allem ist "The Blueprint" von Jay-Z eines seiner einflussreichsten Alben und selbstverständlich eine Blaupause, vor allem wenn man bedenkt, dass dies der Start einer Trilogie ist. Jeder Teil von "The Blueprint" setzte mehrere Millionen Einheiten ab und brachte Welt-Hits wie "Empire State Of Mind" hervor. Und all das trotz der finsteren Vorzeichen, unter denen der erste Teil von "The Blueprint" erschien.
(Nico Maturo)
(Grafik von Daniel Fersch)