Objektiv betrachtet unterscheidet sich die Deutschrap-Community gar nicht so stark von anderen Szenen innerhalb der Popkultur. Ein feiner Unterschied zu den anderen Gruppierungen ist aber doch zu finden: Es scheint so, als hätten die im deutschen Rap beschäftigten Akteur:innen so akuten Redebedarf wie in kaum einem anderen Genre. Egal, ob Künstler:innen, Journalist:innen, Magazine, Labels oder Fans – jede:r hat zu allem eine mehr oder weniger fundierte Meinung, wodurch teils Diskussionen entstehen, deren Sinnhaftigkeit nicht immer zu klären ist. Was noch auffällt: Es entwickeln sich immer mehr kleine Untergruppen, die sowohl in ihrer musikalischen Darstellung als auch in ihrem Denken und Auftreten nicht verschiedener sein könnten. Dies äußert sich natürlich auch politisch: Während sich einige Künstler:innen gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie stark machen, befeuern andere genau diesen mit furchtbaren Texten und noch abscheulicherem Verhalten. Davon bekommen noch mal andere wahrscheinlich kaum etwas mit, weil sie ganz im Stile ihrer amerikanischen Vorbilder sediert im Studio hängen. Trotz oder gerade wegen dieser Ausdifferenzierung der Szene wird Rap immer größer – so groß, dass ganze Supermarktregale mit Rap-bezogenen Produkten gefüllt werden. Liegt diese Pluralisierung der Szene daran, dass sich unsere Gesellschaft immer mehr ausdifferenziert und Rap einen Querschnitt derer abbildet? Oder aber beeinflusst Rap die Gesellschaft dahingehend maßgeblich? Können inhaltlich wertvolle Texte für ein Umdenken in den Köpfen von Jugendlichen sorgen oder befeuert Rap beispielsweise ein längst veraltetes Männlichkeitsbild bei Heranwachsenden? Um solche und andere Fragen zu besprechen, haben wir uns mit Martin Seeliger unterhalten. Er betreibt seit Jahren wichtige Forschung im Bereich der HipHop Studies an der Universität Hamburg, wenn er nicht gerade seiner eigentlichen Arbeit als Wirtschafts- und Arbeitssoziologe nachgeht. Als Sozialwissenschaftler ist er vor allem daran interessiert, Kausalbeziehungen zwischen bestehenden Phänomen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herzuleiten – diese haben wir gemeinsam besprochen und versucht, zu analysieren.
MZEE.com: Fangen wir mit etwas Leichtem an: Was macht deutschen Rap für dich als Fan so faszinierend?
Martin Seeliger: Ich bin gar kein Deutschrap-Fan im klassischen Sinne. Wenn, dann bin ich Gangsterrap-Fan. Die alten Bushido-Sachen habe ich sehr viel gehört und finde sie immer noch gut. Die Musik ist wirklich simpel und geht gut rein, das mag ich. Er war der Erste, der seine Gangster- und Straßengeschichten ganz stereotyp, aber zugänglich erzählt hat. Er etablierte eine Art Pioniercharakter. Bushido tritt ganz wie der typische Gangsterrapper in drei Kategorien zutage: als Gewalttäter mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund. Dieses stereotype Bild, das typische Auftreten und die Inszenierung finde ich wirklich spannend. Ansonsten mag ich die Standarddinger: Xatar, Haftbefehl und so. Wenn es gut gemacht ist und einen gewissen künstlerischen Anspruch hat, spricht es mich an. Deswegen mochte ich auch die La Honda Boys sehr gerne. Die hatten etwas comichaftes, einfach zwei Türsteher-Typen, die ganz hart und einfach rappen. Das hatte was. Ich komme aus der älteren Generation. Die ganzen neuen Sachen wie Cloudrap, Afrotrap und Trap höre ich nicht gerne.
MZEE.com: Und was interessiert dich aus der Forschungsperspektive?
Martin Seeliger: Meine Forschung in Bezug auf Rap fällt hinter richtig gutem Journalismus eigentlich zurück. Nichts von dem, was ich sage, unterscheidet sich grundsätzlich von wirklich guten journalistischen Beiträgen von Falk Schacht, Marcus Staiger, den Homegirls oder anderen. Im Gegenteil, die wissen meist alles viel früher als ich. (lacht) Viel mehr als sie machen wir auch nicht. Mit "Wir" meine ich: Jacob Baier, Heidi Süß, Marc Dietrich und mich – wir sind ja die vier, die gut sichtbare Beiträge zur HipHop-Kultur in Deutschland liefern. Als Sozialwissenschaftler fällt uns die besondere Aufgabe zu, diese Beobachtungen an gesellschaftliche Rahmenbedingungen rückzubinden. Das fasziniert mich wirklich. Da kann man zwei Wege gehen. Zum einen kann man fragen: "Welche gesellschaftlichen Ursachen hat Rap?" Und zum anderen: "Welche gesellschaftlichen Folgen hat Rap?" Sich das systematisch anzuschauen, ist unsere Aufgabe. Dabei entdecken wir natürlich nichts völlig Neues. Viel eher versuchen wir, bestehendes Wissen neu zu kontextualisieren, um daraus Erkenntnisse zu ziehen.
MZEE.com: Du selbst kommst ursprünglich aus dem Punk. In der HipHop-Welt von heute sprechen einige Szenepersönlichkeiten, darunter Miriam Davoudvandi und grim104, davon, dass Rap der neue Punk sei. Wie siehst du das?
Martin Seeliger: Ich sehe das nicht so, obwohl ich es immer wieder höre. Im Journalismus oder als Künstler arbeitet man viel mit Metaphern und Analogien. Es braucht oft starke Bilder, um etwas gut auf den Punkt zu bringen. Dabei kommt das genaue Definieren dieser Analogien leider oft zu kurz. Wenn man sagen will, dass HipHop der neue Punk ist, braucht man zuerst Indikatoren dafür, was Punk eigentlich genau ist und unter welchen Aspekten er zu definieren ist. Ebendiese muss man dann im HipHop wiederfinden. Und das tue ich eher nicht. Punk kommt in Deutschland vorwiegend aus der bürgerlichen Ecke. HipHop hingegen kommt aus allen möglichen Ecken. Da ist es schwieriger, genau zu sagen, woher er kommt. Punk ist für Musiker außerdem voraussetzungsreicher. Man braucht eine Band, einen Proberaum, Instrumente und so weiter. So etwas wie Streetart hatten wir im Punk auch nicht. Heruntergebrochen ist Punk eigentlich eine Straßenkultur, bei der man auf der Straße sitzt und säuft. Da gibt es keine Competition oder Battle-Gedanken, dadurch ist alles auch weniger kapitalisierbar. Trotzdem sagen immer wieder Leute, dass Rap der neue Punk wäre. In meinen Augen ergibt das aber keinen Sinn.
MZEE.com: Ein Punkt, den du auch in deinem kürzlich erschienenen Buch thematisierst, ist das im HipHop schon immer omnipräsente hegemoniale Männerbild. Warum ist dieses so tief im Rap verankert?
Martin Seeliger: Die Antwort ist einfach. (lacht) Das hegemoniale Männerbild zeichnet sich ja dadurch aus, dass es überall gilt. Also auch im Rap. Aber du hast natürlich recht, im Rap tritt es verstärkt auf. Das liegt daran, dass Männer versuchen, das hegemoniale Männerbild zu aktualisieren. Es ist nicht so, dass beispielweise ein Bushido der hegemoniale Mann ist. Er ist vielmehr ein Anwärter auf die hegemoniale Vertretung von Männlichkeit geworden, indem er für sich beansprucht hat, "Leistungsfähigkeit" als Kernelement hegemonialer Männlichkeit besser abbilden zu können als die aktuelle weiße Managermännlichkeit dies tun kann. Er hat es, so er selbst, schließlich von ganz unten nach ganz oben geschafft, während Josef Ackermann es nur von St. Gallen beziehungsweise seinem BWL-Studium nach oben geschafft hat. Das hat Bushido sehr deutlich klargemacht. Kollegah hat es noch mal verstärkt, indem er die unternehmerischen Momente der Leistungsfähigkeit zugespitzt und gesagt hat: "Ein richtiger Mann darf nur trainieren und Geld verdienen!"
MZEE.com: Seit Kurzem berichten zahlreiche betroffene Frauen unter dem Hashtag #deutschrapmetoo über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in der HipHop-Szene. Leider muss man dazu sagen, dass ähnliche Bewegungen in der Vergangenheit teils durch Unterlassungsklagen verhindert wurden und Vorwürfe so von vornherein unter den Tisch gekehrt wurden. Wie schätzt du die jetzige Organisation ein?
Martin Seeliger: Ich schätze das erst einmal sehr positiv ein. Man muss aber auch sehen, dass in beiden Lagern gerade mobilisiert wird und eine Art Deutungskampf losbricht. Es ist total irre, was dieser Typ macht – seine Fans aufzufordern, rauszugehen und diese Frau als Lügnerin darzustellen … Das ist eine ziemlich harte Nummer und einer der größten Widersprüche im Gangsterrap: Alles ist immer einhundert Prozent echt. Es sei denn, es geht um Sexismus und Misogynie, dann ist es nur Kunst. Auf der einen Seite steht der Rapper, der mit all seiner Macht versucht, seine Anhänger zu mobilisieren. Auf der anderen Seite steht die Kampagne. Das ist natürlich ein Ungleichgewicht. Ich habe sogar gesehen, dass sich weitere Rapper auf seine Seite gestellt haben und dies immer noch tun. Einer hat zum Beispiel geschrieben, dass das Verhalten der Frau ganz schlimm wäre und derartige Vorwürfe Karrieren zerstören können. Da hat er natürlich auch recht. So etwas kann wirklich Karrieren zerstören. Die Frage ist aber nicht, ob solche Vorwürfe Karrieren zerstören können, sondern ob er es getan hat oder nicht. Eine weitere Frage, die man stellen könnte, wäre, warum uns solche Vorwürfe überhaupt so sehr überraschen und schockieren – wir wissen schließlich alle, wie zentral Misogynie in der Szene ist.
MZEE.com: In diesem Kontext erscheint es besonders absurd, dass deutscher Rap trotz oder gerade wegen der oben genannten Skandale die kommerziell erfolgreichste Zeit seit seiner Entstehung feiert. Wie erklärst du dir das?
Martin Seeliger: Das erscheint mir ganz und gar nicht absurd. Wir haben im deutschen Rap viele Themen, die gerade auf das Tableau kommen. Ich würde das nicht rein politisch erklären. Die Erfolgsgeschichte von Rap hat sicher auch mit seiner Ästhetik und dem aktuellen Zeitgeist zu tun. Aber die momentane große Bedeutsamkeit der Musik in der Popkukltur kommt sicher auch aus einem gesellschaftspolitischen Kontext. Wir sind heute, 70 Jahre nach der Multikulturalisierung der deutschen Gesellschaft und 50 Jahre nach der Migration aus dem Libanon, an einem Zeitpunkt angekommen, an dem sich die Nachkommen der Einwanderer einen Raum in der Popkultur nehmen können. Bis 2006 hat der heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble noch gesagt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die multikulturelle Identität Deutschlands wurde über lange Jahre geleugnet. Wenn man sich die 80er mal anschaut, gab es Udo Jürgens, Nena, Peter Maffay oder meinetwegen Campino von den Toten Hosen. Zu dieser Zeit konnte man Deutschlands Identität als Einwanderungsgesellschaft noch leugnen. Heute geht das nicht mehr. Ich denke, dass dieser Kampf um Anerkennung und der Wunsch, endlich in der Popkultur abgebildet zu werden, sehr entscheidend für die Erfolgsgeschichte von Rap sind. Und natürlich auch die Musik, weil sie einfach knallt. (lacht)
MZEE.com: Meinst du, dass Rap – insbesondere Gangsterrap – von seinen Skandalen profitiert?
Martin Seeliger: Ja, total. Rap ist ein leistungsfähiges, ansprechendes Hybridprodukt. Genauso wie ein Überraschungsei Spannung, Spiel und Schokolade mitbringt, bringt der Gangsterrapper Erotik, Kriminalität, Drogen und eine konfliktbehaftete Migrationsgeschichte mit. Das macht ihn natürlich sehr ansprechend. Das Phänomen, dass wir beispielsweise Kriegsfilme oder Kriminalromane populär finden, gibt es ja schon deutlich länger als Gangsterrap. Geschichten vom Rande der Gesellschaft, oder allgemein von Delinquenz, sind schon immer spannend. Der Gangsterrap heute ist eine Art Hybridformat zwischen Kriminalfilmen und Rapsongs. Man kann quasi gleichzeitig Rap hören und einen Krimi schauen. Es ist einfach ein tolles, integriertes Produkt und das macht es natürlich ansprechend.
MZEE.com: Rap ist so erfolgreich, dass er in den Mainstream gewandert ist und nebenbei in nahezu allen Supermarktketten in Form von Eistee und Pizza vertreten wird. Könnte Rap, aus wirtschaftssoziologischer Perspektive, ein bedeutender Wirtschaftszweig werden?
Martin Seeliger: Nein, Rap selbst nicht unbedingt. Die sekundären Arbeitsmärkte von Rap sind weiterhin relativ klein. Als Kulturbranche ist er natürlich nicht zu verachten, aber er wird auch kein besonders relevanter Wirtschaftszweig werden. Es ist aber so, dass andere Wirtschaftszweige Rap als Marketingtool betrachten. Wenn Capital Bra Pizza verkauft, ist das am Ende immer noch eine Pizza. Sie wird durch Rap allerdings deutlich attraktiver. Es ist also schon so, dass sich Rap als Marketingtool und Kommunikationsform, quasi als Imagefacette, mit anderen Wirtschaftszweigen verbindet. Das macht die Pizza aber nicht zu einem Rap-Produkt. Sie ist weiterhin Tiefkühlkost und dient der Ernährung. Trotzdem wird sie natürlich symbolisch aufgeladen. Ein Kultursoziologe würde mir wahrscheinlich widersprechen und auf den Charakter der Pizza als Lifestyle-Produkt verweisen. Ich bin da ein bisschen konservativer und würde sagen, die Pizza ist in erster Linie immer noch eine Pizza.
MZEE.com: Findest du es gerade deshalb wichtig, HipHop – als mittlerweile größte Jugendkultur der Welt – aus theoretischer Perspektive besser zu erforschen, damit Antworten und Lösungswege auf die gerade besprochenen Fragen gefunden werden können?
Martin Seeliger: Ich sehe mich nicht als jemanden, der Lösungsvorschläge machen muss. Ich tue das zwar manchmal, wenn ich einen Widerspruch sehe und ihn kritisieren möchte, aber Lösungen im Allgemeinen müssen politische Akteure erarbeiten. Seien es Regierungen, Unternehmen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Initiativen oder Aktivisten – die können Lösungen vorschlagen. Wissenschaftler sind meistens nicht so gut darin. Trotzdem haben Jacob Baier, Heidi Süß, Marc Dietrich und ich die "Berlin HipHop University" gegründet – eine WhatsApp-Gruppe. (lacht) Es gibt aber noch mehr Personen in Deutschland, die sich auf akademischer Ebene mit HipHop auseinandersetzen. Aus dem Nachwuchs kommen immer mehr richtig gute Leute. Das sieht man auch daran, dass in Kultur- und Sozialwissenschaften immer mehr Abschlussarbeiten über Rap geschrieben werden. In den nächsten Jahren haben wir wahrscheinlich einen Überfluss an guten Beiträgen. Zu Anfang waren wir wirklich ziemlich wenige. Darunter hat die Qualität auch ein wenig gelitten. Marc Dietrich und ich sind da damals ziemlich unbedacht rangegangen und wollten etwas Neues ausprobieren. Dadurch, dass jetzt viel mehr Leute dabei sind, werden wir selbst gar nicht mehr unbedingt mit allem gedruckt. (lacht)
MZEE.com: Deutscher Rap bietet sicher auch andere, positivere Themenfelder, über die wir hätten sprechen können. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse erschien mir dies allerdings falsch. Daher die Frage zum Abschluss: Was würdest du dir für deutschen Rap wünschen, damit wir uns wieder über die schönen Dinge unterhalten können?
Martin Seeliger: Ich würde mir wünschen, dass die kritische Auseinandersetzung mit Rap, die zum Beispiel Skinny, Alex Barbian, Marcus Staiger oder Oliver Marquart lange Zeit betrieben haben, wieder mehr zum Vorschein kommt. Diese Form der kritischen Berichterstattung über Rap muss gestärkt werden. So kann man Konflikte möglichst offen austragen und sich sowohl untereinander als auch mit Rappern konstruktiv streiten – auf eine konfrontative, aber faire Art und Weise. So kann man einen mutigen und fairen Umgang mit allen möglichen Rappern, seien sie noch so kontrovers, ermöglichen. Marc Dietrich und ich haben vor ein paar Jahren einen relativ gemeinen und nicht besonders konstruktiven Artikel zum Rapjournalismus geschrieben. Da haben wir sozusagen geschrieben, dass alle Rapjournalisten Waschlappen sind, die ihr Maul nicht aufbekommen, weil sie genauso sein wollten wie die Rapper selbst. Das scheint sich gerade ein bisschen zu ändern. Zumindest ist etwas in Bewegung. Alles in allem würde ich mir eine konstruktivere Streitkultur wünschen. Dann wären wir auch näher beim Punk. (lacht)
(Jonas Jansen)