Dass die Welt nicht gerecht ist, wird den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens bewusst – manchen früher, manchen später. Daraus resultiert auch, dass manche Menschen mehr und manche weniger Privilegien haben. Und die bestimmen nicht zu knapp, wie viele Chancen man hat oder wie hart man um Anerkennung kämpfen muss. Was ist Gerechtigkeit? Sicherlich nicht aufgrund seiner Hautfarbe ermordet und angegriffen zu werden. Dem Rapper Ulysse ist das bewusst – das merkt man nicht nur an Zeilen wie "Sie spalten uns in Klassen in einem mattgrauen Dschungel", sondern auch an seiner Haltung. Er hat nicht erst seit der Black Lives Matter-Bewegung geäußert, dass Rassismus und Diskriminierung in Deutschland alltägliche Themen sind, die alles andere als Gerechtigkeit beinhalten. Das zeigt er auch in seiner Musik – inhaltlich ist diese durch ernste Themen geprägt. So geht es um das Leben im Ghetto, Verticken von Drogen und soziale Konflikte. Er steckt seine Wut gegen soziale Ungerechtigkeit in Tracks mit kraftvollem Flow und Boom bap-Beats der alten Schule. Das alles haben wir zum Anlass genommen, um mit ihm über sein Verständnis von Gerechtigkeit zu sprechen. Außerdem ging es darum, welche Ungerechtigkeiten ihn am meisten berühren und wo er mit seiner Musik ansetzen möchte, um etwas dagegen zu unternehmen.
MZEE.com: Stell dir vor, du wärst Politiker: Für welches Thema würdest du dich als Erstes einsetzen?
Ulysse: Bus- und Bahnfahren wär' kostenlos.
MZEE.com: Gibt es noch andere Dinge, die dir wichtig wären? Vielleicht in Bezug auf soziale Gerechtigkeit.
Ulysse: Ich würde mich dafür einsetzen, dass alleinerziehende Mütter und Jugendliche, die in Problemvierteln aufwachsen, mehr Unterstützung erhalten. Zum Beispiel durch Sportangebote, damit sie nicht nur auf der Straße abhängen. Mehr Bildung und mehr Möglichkeiten für jemanden, der schlau ist, aber nicht das nötige Geld hat. Weißt du, was ich meine? Natürlich würde ich darauf achten, das Land nicht zu verschulden. Es sollte sich ausgleichen und niemand sollte zu kurz kommen, vor allem nicht die "sozial Schwächeren". Es ist mir wichtig, dass es da keine Ungerechtigkeit gibt.
MZEE.com: Ist Rap für dich ein Werkzeug, um dich dafür einzusetzen?
Ulysse: Safe. Seitdem ich mehr Anklang gefunden habe, schreiben mir Leute, die Ähnliches erlebt haben. Sie bedanken sich für die Musik, weil ich ihnen helfe. Das hat mir gezeigt, dass ich die Leute erreichen und wirklich ein Wendepunkt für jemanden sein kann. Das hätte ich früher nicht gedacht. Eine Line hat jemanden wirklich so berührt, dass er sein Leben geändert hat. Das ist schon nice.
MZEE.com: Gibt es noch andere Bereiche, in denen du dich mit deiner Musik für mehr Gerechtigkeit einsetzen möchtest?
Ulysse: Klar, zum Beispiel für die Black Lives Matter-Bewegung. Dafür, dass Schwarze nicht von Anfang an dumm angeguckt und gefragt werden, ob sie deutsch oder der Sprache mächtig sind. Dass Afrodeutsche mehr anerkannt werden. Und allgemein dafür, dass Ausländer nicht das Doppelte machen müssen, um das Gleiche zu erreichen wie der Karl-Heinz.
MZEE.com: Du kommst aus Karlsruhe. Dort sind mit dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof die höchsten deutschen Rechtsinstitutionen ansässig. Hast du generell eine positive oder negative Assoziation mit dem deutschen Rechtsstaat?
Ulysse: Ich bin ehrlich: Durch meine Hautfarbe habe ich eher negative Assoziationen. Wenn irgendwo eine Schlägerei ist, fahren die erst mal zu uns, klatschen mich auf brutalste Weise gegen die Wand und beschuldigen mich. Das ist so oft passiert. In Karlsruhe ist es häufig rassistisch. Wenn man etwas sagt, heißt es immer, dass es nicht so wäre. Das ist voll strange. Je älter man wird, desto mehr Dinge fallen einem auf, die total ungerecht sind und einen zum Nachdenken anregen. Ich bin wirklich gegen das Rechtssystem, weil es sehr unfair ist.
MZEE.com: Wie ist es deiner Meinung nach um die Chancengleichheit in Deutschland bestellt?
Ulysse: Ich habe nichts gegen Homosexuelle, Schwarze, Weiße oder Menschen mit Behinderungen. Ich sehe da gar keinen Unterschied. Alles sollte gerecht sein. Ich finde es gut, wenn sich andere Geschlechter etwas trauen und man nicht in der gleichen Nische bleibt. Es ist nicht so, dass ein Mann dieses machen muss, ein Schwarzer jenes und ein Deutscher wieder etwas anderes. Frauen können "Männerberufe" lernen. Wir haben 2020, es soll multikulti sein. Wir müssen uns besser kennenlernen. Ich hab' keine Probleme mit solchen Themen.
MZEE.com: Dadurch, dass Politiker größtenteils älter, Weiß und männlich sind, sind gewisse Gruppen wie zum Beispiel LGBTIQ oder POC eher unterrepräsentiert. Daher werden deren Meinungen nicht so gut vertreten.
Ulysse: Es gibt in Deutschland kaum Schwarze Politiker. Wenigstens haben die Türken welche, Cem Özdemir bei den GRÜNEN zum Beispiel. Wir, die POC in Deutschland, sind ein bisschen weit zurück, was das angeht. Die trauen sich nicht so viel. Es wird noch dauern, bis wir Anklang finden, bis einer kommt und sich was ändert. Wenn Schwarze Politiker in Parlamenten sitzen, ist das ein Zeichen dafür, dass die Integration wächst, Leute lernen und sie an die Zukunft denken. Wenn es einer schafft, wächst die Chance, dass es in den folgenden Jahren mehr werden.
MZEE.com: Würdest du sagen, dass es eine Entwicklung gibt und sich die Chancengleichheit in Deutschland verbessert?
Ulysse: Ja, das würde ich schon sagen. Es verbessert sich. Es ist ein bisschen langsam, aber es geht.
MZEE.com: Du rappst oft über Straßengeschichten. Ein Thema hierbei ist Drogenhandel. Wie gerecht ist es, mit der Abhängigkeit anderer Geld zu machen, wenn man selbst um seine Existenz bangen muss?
Ulysse: Manche Leute machen es einfach, weil sie kein Geld haben. Die Mutter einer Familie kommt gerade noch mit dem Sozialgeld klar. Dann möchte man nicht das letzte Geld von ihr nehmen. Man will eher helfen, den Kühlschrank vollzumachen. Viele Leute haben keine Qualifikationen, die scheitern schon bei der Bewerbung. Warum dann warten, wenn es auch gleich geht? Man fängt mit so etwas nicht an, weil es cool ist, sondern schlicht, um Sicherheit zu haben. Ich denke nicht, dass einer zum Spaß auf die Straße geht.
MZEE.com: Eher aus Perspektivlosigkeit?
Ulysse: Das hat auch etwas damit zu tun. Das ist leider so. Sag mir einen Namen, der jetzt reich ist, der es früher nicht gemacht hat, als er broke war.
MZEE.com: Einige kommen dadurch ins Gefängnis und danach sind die Chancen, aus diesem Kreislauf auszubrechen, noch schlechter.
Ulysse: Ja, aber sagen wir mal so: Es liegt immer an einem selbst. Wenn du dir treu bleibst und dich nicht von anderen beeinflussen lässt, dann geht das. Das hab' ich gelernt. Das ist eine Ausrede. Sobald du Scheiße baust und jemandem Geld schuldest, wird es schwer. Aber wenn alles okay ist, kann man nicht zu jemandem sagen: "Mach das!" Dann sage ich: "Nein." Verstehst du? Wir sind hier nicht in Amerika, wo es Gangs gibt und so.
MZEE.com: Gibt es Rapper, die deiner Meinung nach durch soziales Engagement besonders hervorstechen? Ich denke da zum Beispiel an Nipsey Hussle, der sich in seiner Nachbarschaft für viele soziale Projekte engagiert hat.
Ulysse: Ich finde es schade, dass Nipsey erst vor zwei Jahren gehypt wurde. Ich habe seine Musik gepumpt, als ich fünfzehn war und schon damals seinen Hunger gehört. Er hat einfach das zurückgegeben, was er bekommen hat. Er ist humble geblieben. Ein Kendrick Lamar macht solche Sachen, J. Cole unterstützt auch. Der geht mit demonstrieren auf die Straße. Oder ein 50 Cent. Jeder US-Rapper, der einen dicken Deal gemacht hat, drückt auf jeden Fall was an die Hood ab.
MZEE.com: Gibt es einen, der dich in dieser Hinsicht besonders geprägt hat?
Ulysse: Es gab einen Rapper, der erst etwas an die Hood gegeben hat, bevor er sich dicke Autos und so geholt hat. Das war The Game. Der hat mich inspiriert. Er setzt sich für andere Leute ein. Das ist ihm nicht scheißegal, auch wenn er Millionen hat. Er ist wirklich das, was er rappt.
MZEE.com: Im Video zur Single "Wer" von deiner kommenden EP tragen du und deine Crew George Floyd-Masken. Wie wichtig ist es dir, in deiner Musik Haltung zu beweisen?
Ulysse: Das ist für mich sehr wichtig. Es ist das A und O. Ich kenne das selbst aus meiner Kindheit. Mein Vater wurde aufgrund seiner Hautfarbe auf der Straße beleidigt. Ich möchte niemals erleben, dass mein Kind sieht, wie ich von einem Kerl auf der Straße so behandelt werde. Ich bin noch kein Vater, aber ich will Statements setzen, dass das vorbei ist.
MZEE.com: Du machst Musik und gehst damit an die Öffentlichkeit. Dadurch hast du eine gewisse Vorbildfunktion.
Ulysse: Ich finde, wenn du als Künstler die Chance hast, nach einem politischen Ereignis ein Statement zu bringen, das deine Meinung hervorhebt, dann solltest du das machen. Ohne jemanden indirekt zu beleidigen oder belasten. Ich bin froh, dass ich nicht gesagt habe, dass alle Schwarzen gut sind oder so. Ich habe das nicht glorifiziert. Auf gar keinen Fall. Ich bin mit Ausländern und mit Deutschen aufgewachsen. Es gibt sowohl ausländische als auch deutsche Arschlöcher. Das habe ich gelernt.
MZEE.com: Durch die Black Lives Matter-Bewegung und den Tod von George Floyd steht die Diskussion um Rassismus mehr denn je in der Öffentlichkeit. Hast du das Gefühl, dass sich aktuell mehr Menschen mit den Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft befassen?
Ulysse: Ja, schon. Nenn mir ein Ereignis, nach dem die ganze Welt so demonstriert hat wie nach dem Tod von George Floyd. Ich will nicht übertreiben und ich weiß nicht, ob es sowas schon einmal gab. Aber das mit ihm war schon heftig. Es war ein verdammter Weckruf. Das finde ich sehr gut. Klar, in den zwei Wochen danach bekommst du ein nettes Lächeln auf der Straße geschenkt, aber großartig geändert hat sich noch nichts, wenn man ehrlich ist. Es hat mich gefreut, dass in meiner Stadt 4 000 Leute auf der Demo waren. Vielleicht ist es für jede zehnte Person darunter nur ein Trend. Das ist ein bisschen traurig. Das muss man aber leider auch akzeptieren und versuchen, diese Leute weiter zu motivieren.
MZEE.com: Glaubst du, dass sich dadurch wirklich etwas verändern kann?
Ulysse: Ich denke, es wird sich etwas ändern, denn wir sind die nächste Generation. Meine Freundin ist Weiß. Wenn ich mit ihr ein Kind hätte, wäre es halb Schwarz, halb Weiß. Halb Afrikaner, halb Deutscher. Mein Neffe ist auch ein Mischling. Das ist ein Zeichen dafür, dass es anders sein wird in Bezug auf die nächsten zehn Jahre. Es ist schlimm, dass Schwarze jeden Tag Rassismus erleben. Aber es gibt auch Schwarze, die Weiße Freunde haben, die das miterleben und geschockt sind. Die motivieren andere, sich damit zu beschäftigen. Ich habe es gesehen von Deutschland bis nach Belgien, Luxemburg und Holland. Man sieht, dass da eine Bewegung kommt und sich alles zum Guten ändert. Das finde ich sehr gut. HipHop kommt von uns Schwarzen. Warum magst du meine Hautfarbe nicht, wenn du meine Musik magst? HipHop kommt vom Afrikanischen und das muss man akzeptieren.
MZEE.com: Wo ist dir im HipHop-Kontext Rassismus begegnet?
Ulysse: Nachdem man etwas im Netz veröffentlicht hat, kommt irgendein Internet-Rambo und schreibt "Du scheiß N****". Aber sowas interessiert mich nicht. Soll er es mir ins Gesicht sagen. Das ist etwas anderes. Alle Rapper, die ich kennengelernt habe, waren nett. Natürlich sind die alle respektvoll und beleidigen nicht deine Hautfarbe. Ich komme ja auch nicht in deine Stadt, mache Session und beleidige dein Land. Das habe ich bis jetzt noch nie erlebt.
MZEE.com: Falk Schacht hat dich als größte Boom bap-Hoffnung in Deutschland bezeichnet. Die großen Erfolge feiern aber gerade eher Artists, die den moderneren Sound fahren. Findest du das manchmal ungerecht?
Ulysse: Nein, weil der Artist, der jetzt diese Musik macht und Erfolg hat, jahrelang die Steps gemacht hat, die ich auch mache oder machen musste. Das habe ich im Business gelernt. Juju oder Nura haben bestimmt auch diverse kleine Auftritte und Recordingsessions gemacht, bis sie zu dem Punkt gekommen sind, an dem es geknallt hat. So wie es bei RIN war. Ufo361 ist das beste Beispiel. Der Kerl hat gehustlet und dann ist seine Zeit gekommen. Ich mache schon länger Musik, aber öffentlich erst seit ungefähr drei Jahren. Da kann ich nicht mein Maul aufreißen und sagen, dass das unfair ist. Es wäre respektlos den anderen gegenüber. Das habe ich früher nicht gecheckt, aber jetzt schon. Du kannst so gut rappen, wie du willst, aber du brauchst Disziplin und musst einfach machen. Deshalb bin ich nicht neidisch auf andere Rapper, die jetzt ihre Goldchain haben. Natürlich fühle ich mich durch die Worte von Falk Schacht geehrt. Früher war er auf VIVA und hat Jay-Z, Lauryn Hill und einfach alle Ami-Acts interviewt. Der kennt sich im Schlaf mit HipHop aus. Ich habe ihn bei einem Auftritt von mir in Hamburg kennengelernt. Danach haben wir geredet und das hat mich voll gefreut. Ich bedanke mich für die Props. Ich gebe mein Bestes dafür, es so beizubehalten, damit er Recht behalten wird. Aber man kennt ja Falk Schacht, er hat immer recht behalten. (lacht)
MZEE.com: Auf deinem aktuellen Track "Wer" sagst du "Hier kriegst du auf die Schnauze für das N-Wort", auf früheren Tracks sprichst du das Wort aus. Hat sich deine Einstellung zu dem Begriff geändert?
Ulysse: (lacht) Nein. Auf gar keinen Fall. Wir nennen uns unter Freunden schon so. "Unter Freunden", das musst du betonen. Nach den ganzen Ereignissen muss man schauen. Dann fragt der deutsche Kollege, warum ich das sagen darf und er nicht. Er weiß zwar, warum, aber ich weiß ganz genau, dass die ganzen Leute, die das hören, so denken. Deshalb sage ich noch mal explizit dieses Keyword, damit die es checken. Ich habe es extra so geschrieben, damit zum Beispiel die Marta aus Mönchengladbach checkt, dass sie das Wort nicht sagen darf.
MZEE.com: Es ist mir aufgefallen, weil es sich im Vergleich zu früher geändert hat.
Ulysse: Ja, ich möchte nicht mit dreißig nur noch "Negro, Negro" rappen. Obwohl ich noch voll jung bin.
MZEE.com: Die letzten Worte gehören dir.
Ulysse: Meine neue EP ist draußen. Ich bedanke mich bei jedem einzelnen Produzenten, dem Kameramann und dem Label, über das sie erschienen ist. Danke für das nette Gespräch und danke an MZEE.com. Ihr wart das erste Magazin, das über mich geschrieben hat. Es war ganz früher, da war ich 18 und habe eine Kritik bekommen. (lacht)
(Malin Teegen)
(Fotos von Sansimo)