Triggerwarnung: In Teilen dieses Interviews geht es um psychische Traumata, Menschenrechtsverletzungen und Folgestörungen. Falls Euch das triggert, solltet Ihr hier vielleicht nicht weiterlesen.
Psychische Traumata sind ein integraler Teil der Menschheitsgeschichte. Sie sind Gegenstand der Geschichtsschreibung, von Kriegen des Altertums bis hin zur Gegenwart, und eine nicht enden wollende Konsequenz aus religiöser, rassistischer und politischer Verfolgung. Aber auch Naturkatastrophen, Unfälle, familiäre Ereignisse sowie sexualisierte Gewalt können sich in heftigen emotionalen Reaktionen wie Angst, Hilflosigkeit, Entsetzen oder Erstarrung äußern. Mit Helen Fares – Journalistin, Aktivistin, Podcasterin und Wirtschaftspsychologin –, die ihre Reichweite nutzt, um Musik und Kunst, aber auch Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zu thematisieren, haben wir über Trauma, Resilienz (Anm. d. Red.: psychische Widerstandsfähigkeit) und Epigenetik (Anm. d. Red.: Einfluss der Umwelt auf die Genaktivität) gesprochen.
MZEE.com: In deiner Instagramreihe "Was macht die Psyche …" besprichst du verschiedene psychologische und gesellschaftliche Themen. Unter anderem hast du dort auch ausführlich über das Thema "Trauma" gesprochen. Was ist ein Trauma genau und wie entsteht es?
Helen Fares: Das Wort "Trauma" kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Wunde". Wir können Traumata also bildlich als seelische Verletzungen verstehen, die bei einem traumatisierenden Erlebnis entstehen, wobei die Schutzfunktion unserer Psyche überfordert wird. Aber was sind traumatisierende Erlebnisse überhaupt? Da gibt es verschiedene Faktoren, die ein Trauma ausmachen. Plötzlichkeit, Unkontrollierbarkeit der Situation oder ein stark negatives Empfinden in Bezug auf die Situation. Es gibt aber auch Traumatypen, die nicht plötzlich, sondern durch ein andauerndes Erlebnis oder sich ständig wiederholende Situationen entstehen, zum Beispiel Folter oder sexueller Missbrauch. Dabei muss man nicht einmal selbst betroffen sein, weil auch der Verlust einer nahestehenden Person oder das Miterleben einer traumatischen Situation auf uns traumatisierend wirken kann.
MZEE.com: Grundsätzlich gibt es wohl keinen Maßstab, an dem man kategorisieren kann, welche Geschehnisse wen wie stark oder überhaupt traumatisieren. Warum ist das so?
Helen Fares: Das hat etwas mit menschlicher Resilienz zu tun. Die Expert:innen streiten sich darum, ob es genetische Gründe hat, also angeborene Resilienz ist, mit der man durchs Leben geht. Oder ob es erlernte Skills sind und was der Mensch für Werkzeuge hat, um mit schwierigen oder extrem komplexen Situationen umzugehen. Andere Expert:innen sagen, es wäre ein Mix aus beidem. Ich glaube auch daran, dass es sowohl eine genetische und eine epigenetische als auch eine Frage dessen ist, wie ein Mensch aufwächst. Natürlich spielt auch die Frage eine Rolle, wie stabil die eigene Kindheit war, wie viel Sicherheit man gelernt hat und wie in der eigenen Familie mit Stress, schwierigen Situationen oder auch potenziell traumatischen Ereignissen umgegangen wurde. Meiner Ansicht nach sind es sehr viele verschiedene Faktoren, die da reinspielen.
MZEE.com: Du hast Resilienz schon angesprochen. Was bedeutet Resilienz überhaupt und kann man diese stärken?
Helen Fares: Resilienz bedeutet, wie gut ein Mensch mit schwierigen Situationen oder mit Situationen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden umgehen kann. Resilienz kann man auf jeden Fall stärken, indem man verschiedene Übungen macht. Darüber habe ich tatsächlich gerade erst mit meinem ehemaligen Psychologieprofessor Prof. Dr. Stefan Buchrichter gesprochen. Er beschreibt es immer in einem ganz schönen Bild: "Du bekommst einen Elefanten nicht durch eine Tür ins Zimmer. Du musst den Elefanten in Scheiben schneiden und jedes Stück einzeln reintragen. Im Zimmer kannst du ihn dann wieder zusammensetzen." Wenn man also ein großes Erlebnis hat, was einen stresst, dann sollte man es auseinandernehmen. Was stört dich daran? Was ist daran schwierig? Zerleg die Situation in Einzelteile, um sie für dich aufzulösen, und schau, ob es Ansätze gibt, das Problem anzugehen. Die Teile, die du angehen kannst, gehst du an. Für die Teile, die du nicht angehen kannst, muss man leider eine gewisse Akzeptanz erlernen. Resilienz kann man durch verschiedene Praxen stärken, zum Beispiel Meditation oder Übungen für Selbstliebe – ich weiß, so viel leichter gesagt als getan. Es gibt so viele verschiedene Übungen, jede Person muss für sich selbst schauen, was für sie passt. Man wird natürlich auch resilienter, je öfter man erfolgreich durch Situationen geht, die am Anfang so gewirkt haben, als wären sie unüberwindbar. Das ist leider die harte Schule.
MZEE.com: Was für eine Strategie hat dir persönlich am meisten geholfen, resilienter zu werden? Oder würdest du sagen, dass du ein grundsätzlich resilienter Mensch bist?
Helen Fares: Ich glaube, ich habe eine bestimmte Resilienz, die sich auf berufliche Stresssituationen bezieht, die daher kommt, dass ich eine relativ traumatisierende Schulzeit hatte. Ich musste Wege finden, damit zurechtzukommen. Und meine Resilienz, die meinen beruflichen Werdegang betrifft, ist ein Coping-Mechanismus (Anm. d. Red.: Bewältigungsstrategie), der aus traumatischen Erlebnissen resultiert ist. Das soll nicht heißen, dass meine Traumata super für mich sind, aber ich glaube, dass Coping-Mechanismen etwas sind, die einem im späteren Leben auch noch helfen können. Auch wenn ich diese lieber nicht hätte und auch auf die traumatischen Erlebnisse hätte verzichten können.
MZEE.com: In deiner Instagramreihe hast du auch über den Begriff "Trigger" gesprochen und gesagt, dass man diesen nicht inflationär benutzen sollte. Was sind Trigger genau?
Helen Fares: Trigger können viele unterschiedliche Dinge sein, die an ein traumatisches Erlebnis erinnern und dadurch eine Reaktion hervorrufen. Nicht unbedingt in derselben Stärke, manchmal aber schon. Diese passt dann zum traumatischen Erlebnis, nicht aber zum auslösenden Trigger. Ich finde es schwierig, das Wort "Trigger" inflationär zu benutzen, weil der Begriff in der Psychologie tief mit dem Thema Traumafolgestörung und Posttraumatischer Belastungsstörung – kurz PTBS – verwurzelt ist. Das Wort Trigger kommt ja auch aus der Medizin. In der Physiotherapie gibt es etwa auch die Triggerpunktmassage, was im Prinzip Punkte am Körper sind, die einen großen Schmerz, aber auch eine große Erlösung auslösen können. Es ist für Menschen, die zum Beispiel PTBS haben, wichtig, dass wir mit diesem Begriff vorsichtig umgehen. Wir sollten adäquat darauf reagieren, wenn diese Personen uns darauf aufmerksam machen. Wenn wir von allem als Trigger sprechen, kann das natürlich dafür sorgen, dass die Bedeutung an Stärke verliert. Das fände ich gesellschaftlich sehr schade. Ich halte das nicht für hochgradig gefährlich, aber es wäre nicht so gut für die Menschen, die wirklich an PTBS oder Traumafolgestörungen leiden. Wenn zum Beispiel ein Freund eine problematische Aussage trifft und man diese nicht gut findet, kann man seine Gefühle auch damit beschreiben, dass es einen wütend macht oder ein unangenehmes Gefühl auslöst. Alles Möglichkeiten, das Wort "Trigger" nicht dafür zu benutzen, wenn es einen eben nicht wirklich triggert. Es wäre gut, dieses Wort in Kontexten, die medizinisch oder psychologisch angemessen sind, zu nutzen. Was nun aber wirklich triggernd ist oder einfach nur nervt, dass muss jede:r für sich selbst entscheiden. Auch da ist es wichtig, dass wir einander nicht mit erhobenem Zeigefinger ermahnen.
MZEE.com: Nachdem es im echten Leben keine Triggerwarnungen gibt: Wie kann man am besten so sensibel wie möglich mit Menschen umgehen, um potenzielle Traumata nicht wieder aufleben zu lassen?
Helen Fares: Das ist eine schöne Frage. Ich finde, es kommt darauf an, wie nah man dem Menschen steht. Aber man kann zum Beispiel fragen, wie man ihn unterstützen kann. Wenn man weiß, dass eine Person PTBS hat, weiß man wahrscheinlich, in welche Richtung diese geht. Hier kann man fragen, über welche Themen die Person nicht sprechen will oder kann. Ist man mit der Person befreundet, kann man auch fragen, welche Anzeichen man in einer sozialen Situation beachten sollte und wie eine Unterstützung aussehen soll. Ich denke, Fragen und Zuhören ist eigentlich das Wichtigste.
MZEE.com: Eine der letzten Folgen deines Podcasts "Homegirls", den du mit deiner Freundin und Kollegin Josi Miller machst, handelt auch von Trauma und Heilung. Hier hast du unter anderem erzählt, wie schlecht es dir in letzter Zeit ging. Die Geschehnisse um das Erdbeben in der Türkei und Syrien haben dich sehr mitgenommen. Wie findet man in so einer schweren Zeit Halt und was hat hat dir geholfen, dich aus dieser Situation zu befreien?
Helen Fares: (überlegt) Ich habe eine krasse Familie. Mein Bruder und meine Mutter sind heftig. Ich habe extrem gute Freunde, die mir wirklich zur Seite stehen und die ganze Zeit für mich erreichbar sind. Auch wenn ich zum fünften Mal an dem Tag anrufe und wieder über die gleiche Sache klage, sind sie für mich da. Aber ich bin auch ein Mensch, der wirklich weiß, was er braucht. Ich frage aktiv danach, ob man mich in den Arm nehmen, mein Gesicht streicheln oder mir vielleicht sogar zur Ablenkung eine Geschichte erzählen kann. Dass meine Freundinnen und mein Bruder das liebevoll und nachsichtig mitmachen, ist das, was mir am meisten geholfen hat. Und dann noch unterschiedliche Dinge: mich bewegen, tanzen, meditieren, kalt duschen, rumschreien, Retreats machen, die ganze Bandbreite an Kram, der so helfen soll. Self inquiry (Anm. d. Red.: Selbsterforschung) ist sehr wichtig in so einem Heilungsprozess. Umso frustrierender kann es sein, wenn man weiß, was einem hilft, und die gute Wirkung davon dann aber nur von kurzer Dauer ist. Man muss den Schmerz leider auch zulassen, es bringt halt nichts, ihn wegzudrücken. Sonst frisst man ihn in sich rein und dadurch wird der Körper krank.
MZEE.com: Wie hast du denn herausgefunden, was dir persönlich am besten hilft?
Helen Fares: Ich habe Wirtschaftspsychologie studiert und alles ausprobiert, wofür es wissenschaftliche Belege gibt, das es hilft. Körperliche Nähe, egal ob in einer Partnerschaft oder mit Friends und Family, ist zum Beispiel etwas, bei dem bewiesen ist, dass es gut für den Menschen ist. Generell nicht alleine sein, bestimmte Musik hören, bestimmte Nahrungsmittel zu sich nehmen, Bewegung und so weiter. Ich zwinge mich oft, auch wenn ich es nicht immer hinbekomme, Sachen zu machen. Ausprobieren und schauen, was sich gut anfühlt, aber manchmal hat man ja auch intuitiv schon ein Gefühl. Wenn man mit jemandem zusammensitzt und sich mehr Geborgenheit wünscht, sollte man aussprechen, dass man eine Umarmung braucht. Natürlich muss man dazu mit Menschen sein, bei denen man sich sicher fühlt. Es ist auch wissenschaftlich belegt, dass die Anwesenheit eines Tieres eine Auswirkung auf die Psyche hat. Ich hab' ja Karli, meinen Hund, und der ist natürlich sehr gut für meinen Kopf. (lacht) Ich wache auf und das erste, was ich sehe, ist Karli, wie er seinen Happy Dance vor meinem Gesicht macht.
MZEE.com: Du hattest bereits den Begriff "Epigenetik" erwähnt, der die Vererbung von Traumata beschreibt. Wie nehmen die Erfahrungen der Eltern und Großeltern Einfluss auf die Entwicklung ihrer Nachkommen?
Helen Fares: Am Menschen ist das noch nicht gut erforscht und auch nicht gut erforschbar, an Mäusen hingegen schon. Es wurden in einer Studie zwei Reize mit einer klassischen Konditionierung miteinander verknüpft. Eine weibliche Maus hat einen neutralen Reiz bekommen. Sie hat ein Licht gesehen und wenn dieses Licht angegangen ist, hat die Maus einen Elektroschock bekommen. Als sie dann Babys bekommen hat und diese mit dem Reiz des Lichtes konfrontiert wurden, haben auch sie mit einem erhöhten Stressaufkommen reagiert. Das ist der Beleg dafür, dass traumatische Ereignisse, wenn auch ohne Erinnerung, weitervererbt werden können. Es gibt aber auch Fälle, von denen es heißt, dass Kinder oder auch Erwachsene Bilder von traumatischen Ereignissen ihrer Vorfahren vor dem inneren Auge sehen können. Das ist aber sehr schlecht erforscht. Ich kann dazu eine Dokumentation auf ARTE empfehlen, "Vererbte Narben". Die ist schon etwas älter, der Forschungsstand jetzt mit Sicherheit schon viel weiter, aber die ist wirklich sehr interessant.
MZEE.com: Du kommst aus Syrien. Gibt es im Hinblick auf deine Kultur Unterschiede im Umgang mit psychischen Erkrankungen und Stigmatisierung?
Helen Fares: (überlegt) Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass in der arabischen Welt das Thema psychische Erkrankungen noch nicht so normalisiert ist.
MZEE.com: Was würdest du Therapeut:innen empfehlen, um sensibler auf rassistische Traumata einzugehen?
Helen Fares: Rassismuskritische Bücher lesen, zum Beispiel "Exit Racism" von Tupoka Ogette oder "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" von Alice Hasters.
MZEE.com: Leider kann man die Uhr nicht zurückdrehen und Geschehnisse, die ein Trauma ausgelöst haben, ungeschehen machen. Aber kann man sich von einem Trauma erholen und vollständige Heilung erfahren?
Helen Fares: Ich denke, dass es möglich ist, eine Wunde zu schließen. Die Narbe wird bleiben. Ich finde, das Bild einer Wunde ist beim Thema Trauma ganz bezeichnend. Wir haben Narben, aber wir fühlen die Wunde nicht mehr. Wenn die Wunde offen ist, tut alles weh, was darauf liegt, aber wenn die Wunde heilen durfte, kann eine Narbe entstehen. Voraussetzung ist natürlich, dass nicht immer ein Finger in der Wunde liegt. Dann kann sie auch heilen und der Mensch hat die Möglichkeit, darüber hinwegzukommen. Aber ja, leider ist das ein psychisch weitaus komplexerer und anstrengenderer Prozess als die tatsächliche Wundheilung am physischen Körper. Es ist aber definitiv möglich. Ich möchte allen, die starke emotionale Probleme haben, noch etwas mitgeben: Solltet Ihr klassische Psychotherapie probiert haben und das war nichts für Euch, dann seht Euch nach Alternativen um. Vielleicht ist Körpertherapie, Kunsttherapie, Tanztherapie oder eine der vielen anderen Optionen besser für Euch. Sprecht mit allen, mit denen Ihr sprechen könnt, und sucht nach Hilfe. Irgendwo ist vielleicht die Antwort auf Eure Frage versteckt.
(Anna Melmann & Sven Aumiller)
(Fotos von Jannik Nolte)