Vor über drei Monaten ist Russland in die Ukraine eingefallen. Seitdem herrscht nicht nur Krieg in einem europäischen Land, sondern eine Ausnahmesituation in der westlichen Politik: Sanktionen gegen Russland und seine Oligarchen, geplante Energie-Embargos, die jeder von uns zu spüren bekommt, und eine Aufrüstung der NATO. Gleichzeitig geht ein Ruck durch die Gesellschaft, der vor allem zu Beginn durch eine große und selbstverständliche Hilfsbereitschaft für die geflüchteten Ukrainer:innen geprägt ist. Damit einhergehend kommen aber auch Fragen auf: Handeln wir hier fair mit Blick auf die tausenden Geflüchteten aus anderen Ländern? Oder handeln wir mit einer Doppelmoral? Und ist Doppelmoral nicht etwas, das unseren Alltag andauernd prägt? Zeit für ein Gespräch mit dem Rapper Horst Wegener – der Wuppertaler engagiert sich seit mehreren Jahren selbst politisch für Geflüchtete in seiner Heimatstadt und spricht in seiner Musik immer wieder gesellschaftskritische Themen an. Im Interview unterhielten wir uns über die unterschiedlichen Reaktionen der Gesellschaft auf Fluchtwellen, seine Erfahrungen in der Lokalpolitik und warum er sich mittlerweile lieber auf sich selbst verlässt.
MZEE.com: Ich würde mit dir heute gerne über Doppelmoral sprechen. Die wohl bekannteste Beschreibung davon dürfte ja "Wasser predigen und Wein trinken" von Heinrich Heine sein. Wobei hast du bei dir zuletzt eine Doppelmoral festgestellt?
Horst Wegener: Hm … Ich bin perfekt (lacht). Ich denke, in unserem Alltag ist es schwierig, immer nach seinen Werten zu leben. Ich wohne 25 Minuten zu Fuß vom Studio entfernt und das gehe ich mal zu Fuß, aber ich fahre es auch gerne mal mit dem Auto. Und das ist so eine Doppelmoral, weil wir uns ja alle eigentlich einig sind, dass man im innerstädtischen Raum ein Fahrrad benutzen oder zu Fuß gehen sollte. Und dennoch nimmt man aus Bequemlichkeit oft die Erleichterung und nimmt damit in Kauf, etwas nicht so Gutes zu tun.
MZEE.com: Und wann hast du dich in letzter Zeit über Doppelmoral bei jemand anderem richtig aufgeregt?
Horst Wegener: Ein Thema, das mich wurmt, ist die Doppelmoral, wenn Menschen nicht aufrichtig zueinander sind und sich nur aus opportunistischen Gründen nett geben. Ich finde es immer superschwierig, dass Menschen so oft ihre Werte verwerfen, um irgendein anderes Ziel zu erreichen. Das bedeutet auch, dass man weiß, wie Person A über Person B redet – und am nächsten Tag sieht man sie zusammen in einer Insta-Story. Das ist so ein Phänomen unserer Zeit, wo wir auf möglichst vielen unterschiedlichen Plattformen stattfinden wollen und uns dann eigentlich oft auch egal ist, was wir spüren oder was wir für Bedenken bei bestimmten Personen oder Situationen haben. Da ist man sich selbst gegenüber nicht aufrichtig – das stört mich. Doppelmoral beginnt für mich da, wo du einer dir gegenüberliegenden Person nicht aufrichtig spiegelst, wie du zu ihr stehst. Und dass du eine Position einnimmst, um dich vielleicht zu profilieren, anstatt wirklich für etwas einzustehen. Auch wenn das bedeutet, dass es mal unangenehm wird oder dir einige Türen verschlossen bleiben.
MZEE.com: Der Aufhänger für das Thema Doppelmoral ist für mich aktuell auch der Ukraine-Krieg. Seitdem dieser ausgebrochen ist, gibt es eine dauerhafte Berichterstattung. Andere Konflikte wie etwa in Mali, Syrien, Afghanistan oder im Jemen werden kaum noch thematisiert – falls sie es überhaupt im selben Umfang wurden. Wie nimmst du das wahr?
Horst Wegener: Ja, das ist der Grundsatz einer Doppelmoral. Das, was ich dir gerade als Beispiel genannt habe, kann man auch darauf anwenden. Wir sind einem Konflikt sehr nahe und damit geht eine Angst einher, dass unsere Freiheit eingeschränkt werden kann. Dadurch werden wir mehr erschüttert als von einem Konflikt in der Ferne, der uns erst mal nicht direkt betreffen kann – weder durch wirtschaftliche noch durch militärische Sanktionen. Das führt zu einer anderen Sensibilität, die eben nicht aufrichtig ist, weil es in der Kommunikation um den Ukraine-Krieg auch um uns geht. Den Personen und auch den Medienschaffenden scheint dieses Thema viel mehr am Herzen zu liegen, weil sie wissen, dass mit dem Krieg in der Ukraine auch unsere Sicherheit einhergeht. Das ist dieses Drama: Wir wollen Leid beenden, sind aber bereit, es in Kauf zu nehmen, wenn es weit von uns entfernt ist. Sei es bei Konsumentscheidungen oder bei Kriegen – da handeln wir eigentlich immer nach denselben Grundsätzen und wenden zweierlei Maß an.
MZEE.com: Bundesaußenministerin Baerbock sagte zuletzt in Butscha, dass die Opfer auch wir hätten sein können. Ist die Betroffenheit angesichts der Lage in der Ukraine auch etwas Egoistisches?
Horst Wegener: Ja, genau. Das meine ich mit zweierlei Maß messen. Also einmal ist es sicherlich etwas sehr Menschliches – nämlich die Empathie von Weißen für Weiße. Ich kann aber auch nur von mir ausgehen. Für mich hat es durch den Ukraine-Konflikt auch sehr gekribbelt. Ich bin danach in Paris gewesen – das ist für mich eine Reise von sechs Stunden – und ich wusste, ich hätte auch sechs Stunden in die andere Richtung fahren können und wäre fast in der Ukraine gewesen. Das macht was mit dem Bewusstsein und hebt diesen Konflikt auf eine andere Ebene als den Konflikt in Mali. Nichtsdestotrotz ist es für Menschen, die sich in den letzten fünf bis sechs Jahren in Deutschland durchgekämpft haben, total schwierig zu sehen, wie mit den Menschen jetzt umgegangen wird, die hierherkommen, und wie mit ihnen selbst umgegangen wurde. Einfach, was für ungleiche Chance da aufgetan wurden. Was nicht bedeutet, dass die Aufrichtigkeit den Ukrainern gegenüber nicht richtig ist. Nur dort wurden Gesetze schnell EU-weit erlassen, die den Menschen zugutekommen, um sie in unsere Gesellschaft einzugliedern, die wir auch im Syrien-Konflikt gut hätten vorantreiben können. Wir haben hier in Wuppertal supertolle Initiativen, die das aus privatgesellschaftlichem Engagement aufbauen – wir haben hier genauso Akademiker, Studierende, Abiturienten oder Menschen, die besser Englisch sprechen als ich. Die erfüllen genauso jede Voraussetzung, eigentlich sofort loslegen zu können. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre in drei Jahren da, wo jemand direkt ist, wenn er hierhinkommt – dann würde ich mich auf jeden Fall stark benachteiligt fühlen.
MZEE.com: Gleichzeitig ist es auch logisch, dass eine Gesellschaft anders mit verschiedenen Fluchtwellen umgeht. Einerseits wird Geflüchteten aus der Ukraine sehr geholfen, andererseits stand auch niemand am Bahnhof und hat für sie geklatscht wie etwa 2015, als tausende Geflüchtete etwa aus Syrien ankamen. Was meinst du, woran das liegt? Ist die Gesellschaft vielleicht "geübter"?
Horst Wegener: Ich habe versucht, mich in den letzten Monaten aus diesen Thematiken rauszuhalten, weil sie mich belasten. Letztendlich muss sich Deutschland einfach eingestehen, Integration über Jahrzehnte hinweg sehr schlecht kultiviert zu haben. Man sieht ja noch heute, was es mit der Gesellschaft macht, etwa Gastarbeitende aus den südlichen Ländern nicht richtig integriert zu haben. Ich hoffe, dass es ein Lerneffekt ist und keine Ausrede, denn die ganzen Erlasse, die jetzt umgesetzt wurden, müsste man dann auch auf alle Menschen anwenden können, die den Bedarf haben. Und da wird es dann wieder kompliziert, weil man mit zweierlei Maß messen muss. Irgendwelche Regularien braucht es ja trotzdem. Letztendlich ist die Bürokratie auch eine Grenze beziehungsweise eine Sicherheit, um eben kontrolliert Menschen zu erfassen und so weiter und so fort. Natürlich funktioniert dieses Konzept, dass alle Menschen kommen können, nur solange es ein System gibt, das in der Lage ist, diese Menschen überhaupt zu erfassen und zu organisieren. Ich glaube, das ist wirklich die größte Herausforderung, und ich hoffe, dass ein Lerneffekt der Grund ist, weshalb es gerade so schnell funktioniert. Dann müssen aber auch Taten in andere Richtungen folgen, damit das eine authentische Argumentation ist.
MZEE.com: Du sitzt seit zwei Jahren mit der Initiative "Power of Color" im Integrationsausschuss der Stadt Wuppertal – begegnen dir dort auch Formen von Doppelmoral?
Horst Wegener: Ja, total. Das, was man mitbekommen hat, etwa afrikanische Studierende, die aus der Ukraine nicht rausgekommen sind, obwohl sie de facto im selben Grad Leidtragende des Ukraine-Konflikts sind, aber nicht dieselben Rechte haben. Dasselbe erlebt man hier in Deutschland auch. Ich habe eine Bekannte, die ist seit vier Jahren in Deutschland, hat hier promoviert und letztes Jahr sechs Monate lang für ihren Aufenthaltsstatus gekämpft. Einfach, weil die Lage nach der Promotion noch nicht geklärt war und sie keinen unterschriebenen Vertrag hatte. Aber sie war faktisch eine gut bezahlte Doktorandin an einem Lehrstuhl in Wuppertal – und muss für einen Aufenthaltsstatus kämpfen. Sie ist der Sprache inzwischen mächtig, hat eine soziale Infrastruktur und für sie war das ein Kampf, mit einer Erlaubnis im Land zu bleiben. Diesen Kampf können so viele Menschen gar nicht erst führen. Bei den ukrainischen Geflüchteten ist der Arbeitsmarkt direkt offen, aber auch der Wohnungsmarkt, weil sie nicht durch das normale Asylverfahren müssen, was für viele sehr kräftezehrend ist. Alleine das Schlafen in Turnhallen oder Sammelstellen sind Dinge, die der Menschenwürde nicht guttun. Das sind Notlösungen und das weiß auch die Regierung, aber eigentlich muss ja das Ziel sein, diese Zeit für alle Menschen, die darauf angewiesen sind, so kurz wie möglich zu halten.
MZEE.com: Auf Instagram hatte ich auch das Zeugnis eines Mannes aus Afghanistan gesehen. Er hatte einen Uni-Abschluss in Medizin gemacht und ihm wurde es als Realschulabschluss angerechnet. Schüler aus der Ukraine wiederum können hier anfangen zu studieren, ohne dass sie ihren Schulabschluss fertig gemacht haben.
Horst Wegener: Genau, ich hatte gerade beim letzten Punkt den Faden verloren, nämlich dass wir unsere Integrationspolitik verkackt haben. Wenn du schaust, wie viele krasse Leute aus der Türkei, aus Kurdistan und anderen Ländern gekommen sind, die heute bei uns Taxi fahren, obwohl sie Literatur oder andere Dinge studiert haben. Der Vater meines Managers ist studierter Doktor, arbeitet aber als medizinischer Assistent und ist superunglücklich in seinem Job, weil er weiß, dass er aufgrund seines Studiums ganz woanders in der Gesellschaft stehen könnte. Das muss uns doch eigentlich eine Lehre sein – diese Geschichten werden seit zehn Jahren durch die Nachfolgegeneration erzählt, die in der Lage ist, das zu kommunizieren. Unserer Gesellschaft ist nicht damit geholfen, wenn wir noch mehr Menschen haben, die ihr Potenzial nicht entfalten können und damit unzufrieden sind.
MZEE.com: Die BR-Journalistin Lili Ruge hat mit Blick auf den Vorwurf der Doppelmoral Folgendes geschrieben: "Wir sind als Europäer angreifbar, weil wir Moria nicht verhindern, weil wir in Afghanistan diejenigen im Stich gelassen haben, die auf ein selbstbestimmtes Leben in einem freien Land gehofft hatten. Folgte man allerdings der Kritik müsste man sich entweder über jeden Konflikt in der Welt gleichermaßen empören – eine Aufgabe, der wir allein kognitiv nicht gewachsen sind. Oder man duckt sich auch jetzt weg und entzieht der Ukraine aus gewissermaßen traditionellen Gründen die Solidarität. Jedoch sind weder blinder Aktionismus noch Gleichgültigkeit jetzt zielführend." – Wo kann man überhaupt eine Grenze in der Hilfsbereitschaft ziehen, falls das moralisch möglich ist?
Horst Wegener: Ich glaube wirklich, dass die Distanz eine der Hauptrollen in diesem Thema spielt. Dass Menschen in der Lage waren, sich in einen Zug zu setzen und direkt nach Berlin zu fahren, ist einfach eine ganz andere Voraussetzung, als wenn du aus Aleppo über die Balkan-Route oder das Mittelmeer hierhinkommen musstest. Das ist ja auch eigentlich das Schöne an Europa: Es ist alles so nah beieinander. Ich finde, der Ukraine-Konflikt ist höchst herausfordernd, auch für die Politik. In der Position, Entscheidungen zu treffen, will ich auf jeden Fall nicht sein. Vor der Situation, die unsere Regierung direkt handlen muss, habe ich allerhöchsten Respekt. Es gibt da kein Richtig und kein Falsch in der Debatte, etwa ob man sich am Krieg beteiligt oder nicht – argumentativ ist ja alles eine Doppelmoral. Überall findet dieses Thema statt und egal, wie man sich positioniert, lässt man immer eine Perspektive außer Acht, die wichtig wäre, zu thematisieren. Das ist, glaube ich, eine Folge daraus, dass dieser Konflikt so nah ist und uns wirtschaftlich viel krasser beeinflusst als ein Krieg in Mali, Syrien oder im Kosovo. Dadurch hat jeder eine scheiß Meinung dazu, weil der Sprit 2,10 Euro pro Liter kostet. Und das Schlimme ist: In keinem der Konflikte haben wir als Individuen die Chance, irgendwie einzugreifen und diesen Konflikt zu lenken. Wir können nur Meinung machen, aber keine Taten folgen lassen. Das ist ernüchternd.
MZEE.com: Du sitzt halt einfach ohnmächtig da und kriegst es natürlich mit – wie du schon sagtest. Viele Politiker haben sich ja auch vor Zapfsäulen gestellt und gesagt, dass man jetzt, wo die Spritpreise so hoch seien, endlich mal handeln müsse.
Horst Wegener: Das Gleiche ist ja aber auch mit Moria, Calais und all den anderen Camps, die es gab und gibt. Wie willst du als normaler Bürger diesen Zustand aufbrechen, ohne dahinzufahren und den Menschen zu helfen? Das sind politische Entscheidungen, die da getroffen werden müssen, und es gibt seit Jahren Druck, der von einer breiten Masse an Menschen ausgeübt wird. Und dieser Druck reicht einfach nicht aus, um die Verhältnisse zu verändern. Das ist, finde ich, ziemlich deprimierend. Ich habe Respekt vor jedem Menschen, der jeden Morgen aufsteht und die Kraft sammeln kann, darauf aufmerksam zu machen – jedes Mal aufs Neue.
MZEE.com: Ist Moral in politischen Fragen immer ein guter Ratgeber?
Horst Wegener: Das ist auch wieder superkompliziert. Wir haben eine Regierung gewählt, die alle Menschen in diesem Land repräsentiert, deren Interessen wahrt und im besten Fall unbestechlich rationale Entscheidungen trifft. In einer Welt, die so komplex ist wie diese, wird es nie Entscheidungen geben, in denen Menschen nicht in Mitleidenschaft dadurch gezogen werden, dass es anderen Menschen gut geht. Würde da eine Moral mit reinkommen, würdest du, wie wir, gelähmt sein. Und politikmachende Menschen müssen dann die Entscheidungen mit dem kleinstmöglichen Verlust beziehungsweise mit dem größtmöglichen Effort für die eigene Bevölkerung treffen. Das ist im Kern erst mal egoistisch, aber eben das System, das wir uns selbst aufgebaut haben.
MZEE.com: Ich denke da zum Beispiel gerade an Robert Habeck, der das in meinen Augen sehr gut kommuniziert, was er gerade macht. Er sagt klar, dass er nur zwischen Pest und Cholera wählen kann und den Weg des kleinsten Übels nimmt. Man könnte sich mit einer rein moralischen Frage also quasi im Weg stehen.
Horst Wegener: Genau, dann holst du eben das Gas aus irgendwelchen anderen dubiosen Staaten und sicherst die Versorgung in deinem Land. Aber moralisch gesehen wäre es besser gewesen, auch darauf zu verzichten und zu sagen: "Es wird jetzt 'ne krasse Zeit für zwei Jahre, aber bis dahin schaffen wir erneuerbare Energien." Ich weiß es nicht … Das ist eben so eine Entscheidung – wer will die treffen? Und Robert Habeck muss das auf einmal tun. Deshalb meinte ich auch, dass ich so einen Respekt vor unserer Regierung habe. Er wird am Ende daran gemessen, er wird dafür haftbar gemacht, dass er in unserem Sinne entschieden hat. Er hat uns als Bevölkerung jetzt ermöglicht, dass wir aus diesem Konflikt so wenig Konsequenzen wie nur möglich spüren. Wäre die Moral der größte Einfluss gewesen, hätte Habeck vielleicht aufgewogen, dass wir einfach ein Jahr mit noch mehr Inflation aushalten, aber uns moralisch in dem Thema nichts vorzuwerfen haben. Da muss man wieder abwägen, was es wert ist: das Leben der hier lebenden 80 Millionen Menschen möglichst unbeschwert zu halten oder in den sauren Apfel zu beißen. Und da ist ja eine Entscheidung getroffen – am Ende will diese Politik auch wiedergewählt werden, was es dann auch wieder zu einem egoistischen Akt macht.
MZEE.com: Gerade zu Beginn des Kriegs wurde in einigen Talkshows und auch anderen Medien die Hilfsbereitschaft der westlichen Gesellschaften verteidigt. Dabei sind Sätze gefallen wie "Dieses Mal sind es echte Flüchtlinge" oder dass die Ukrainer schließlich unsere Werte teilen würden. Machen wir gesellschaftlich gesehen, gerade angesichts der BLM-Bewegung, einen Schritt rückwärts, was Rassismus angeht?
Horst Wegener: Ob in Freundschaften oder im Unternehmertum, man sagt ja, dass man in schweren Zeiten seine wirklichen Freunde erkennt. Die Zeit ist jetzt gerade schwer und die Medienlandschaft entpuppt sich nicht als Freund der Minderheitsgesellschaften in Deutschland und das ist obvious. Ob man den Schlenker auf die Gesamtbevölkerung machen kann, weiß ich nicht. Dafür habe ich gerade ein viel zu schlechtes Bild. Ich war aber gestern wählen (Anm. d. Redaktion: Dieses Interview wurde einen Tag nach der NRW-Landtagswahl geführt) und merke, dass den Leuten in NRW alles scheißegal war, was die CDU verbockt hat, und sie ist stärkste Kraft geworden. Da denkt man dann immer: "Scheiße, haben die ganzen Leute das nicht mitbekommen oder was ist los?" Ich habe gemerkt – deshalb habe ich dir auch am Anfang gesagt, dass ich mich aus diesen Themen etwas zurückgezogen habe –, dass sich auf ein Kollektiv zu verlassen, das dich unterstützt und dir Türen aufmacht, zwar funktionieren kann, ich aber an dem Punkt bin: "Fuck it, ich mach' das jetzt alleine." Einfach, weil ich dieses Vertrauen in die Gesamtbevölkerung gerade nicht spüre. Und auch bei Black Lives Matter ist es eine große Dunkelziffer an Menschen, die das aus trendigen Gründen mitgemacht haben. Nichtsdestotrotz wurde aus diesem trendigen auch eine Meinungsbildung vollzogen, die wichtig ist. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube auf jeden Fall, dass die Medienlandschaft allgemein sehr schwierig ist, weil es keine diverse Belegung an Redakteur:innen oder Journalist:innen gibt. Und demnach ist es auch klar, dass die Meinung, die publiziert wird, nicht immer die ist, mit der ich mich identifizieren kann und im besten Fall du dich vielleicht auch nicht.
MZEE.com: Was hat dazu geführt, dass dein Vertrauen in die Gesamtbevölkerung gebröckelt ist und du an den Punkt gekommen bist, alles selber zu machen?
Horst Wegener: Da werden sicher viele eine Gegenmeinung zu haben, was auch vollkommen richtig ist, aber ich glaube, es ist diese Ernüchterung, dass sich Dinge eben so schnell nicht ändern. Ich habe inzwischen zwei, drei kleine Firmen im Kultur- und Werbebereich und bald auch in der Gastronomie. Mein Ziel war es, in allen Bereichen, die mich und mein Schaffen betreffen, unabhängig von Mehrheitsstrukturen zu sein. Das ist ein Antrieb, der daraus resultiert, dass ich immer wieder Probleme gehabt habe, weil da irgendeine Weiße Person war, die irgendwelche Steine in den Weg gelegt hat. Darauf habe ich keinen Bock mehr gehabt und gleichzeitig gemerkt, dass es mich krank macht, mich immer wieder als Opfer einer diskriminierenden Gesellschaft zu sehen. Wer will immer Opfer sein oder sich immer wieder damit auseinandersetzen? Deswegen reflektiere ich darüber ab und zu und hatte mir auch vorgenommen, keine Interviews mehr zu solch schweren Thematiken zu geben, weil ich halt nach vorne blicken will. Das geht aber nur, weil ich mir über die letzten vier Jahren diese Privilegien aufgebaut habe, dass die Hürde meiner Hautfarbe beispielsweise keine Hürde mehr ist. Das war aber ein jahrelanger Prozess. Als ich etwa frisch aus der Schule kam, war ich an einem ganz anderen Punkt. Da brauchte ich quasi den Support von außen und die Sensibilität der Mehrheitsgesellschaft für diese Themen, um mich in Positionen zu bringen, die es mir ermöglichen, unabhängig zu sein. Und das wünsche ich jeder einzelnen Person, die in welches Land auch immer kommt – bei ihren Stärken unterstützt zu werden und sich innerhalb kurzer Zeit eine Selbstständigkeit aufbauen zu können. Dann ist es ein Gewinn für alle Teile der Gesellschaft und eigentlich das, was sich selbst die Erzkonservativen von den Ukrainern versprechen. Und dass das genauso bei den Menschen aus anderen Ländern passiert, ist genau die Aufgabe der Gesellschaft – nämlich so wenig Hürden wie möglich zu schaffen, damit die Menschen nicht dem System zur Last fallen, sondern so schnell wie möglich durch eigenständiges Schaffen Teil des Systems werden.
MZEE.com: Danke, dass du dir trotz des Vorhabens, zu solchen Themen keine Interviews mehr zu geben, die Zeit nimmst. Mir ist auch bewusst, dass man mit dem Thema "Doppelmoral" immer ein riesiges Fass aufmacht. Meine Abschlussfrage wäre: Glaubst du, man kann in einer aufgeklärten Gesellschaft dem Vorwurf der Doppelmoral überhaupt entgehen?
Horst Wegener: Meine Freundin hat dazu letztens was Schönes in Bezug auf Fleischkonsum gesagt. In so woken Bubbles ist man so krass angreifbar und unterwirft sich immer wieder Zwängen, sich Dinge nicht einzugestehen, weil wir Angst davor haben, für eine Handlung gejudget zu werden. "Hm, jetzt war ich doch mal in einem Restaurant und habe mir ein gutes Steak gegönnt" oder "Oh, jetzt bin ich doch nach Mallorca geflogen, weil ich unbedingt ans Meer musste". Ich finde, wir müssen es schaffen, die Geschichte andersrum aufzuziehen. Dass wir sagen: Jedes Mal, wenn du aktiv eine moralisch gute Entscheidung triffst, ist das geil. Dieses Anspruchsdenken, dass wir als woke, junge Menschen alles perfekt machen, ist doch sowas von übertrieben. Wie willst du das machen, wenn 95 Prozent des Angebots deinen moralischen Prinzipien widersprechen? Dann kostet es dich ja viel mehr Kraft, deinen eigenen moralischen Grundsätzen nachzugehen, als dass du überhaupt irgendwelche Kapazitäten für den alltäglichen Scheiß hast. Das kann ja letztendlich auch nicht sein, weil ich am Ende auch einer Tätigkeit nachgehen und meine Miete zahlen muss. Und das machen sich Konzerne ja auch zunutze. Nur weil ich vegane Kosmetik kaufe, weiß ich trotzdem nicht, ob der Konzern dahinter geil ist. Das bedarf so viel Recherche und Zeit, die wir als Zivilbevölkerung gar nicht aufbringen können, wenn wir einem normalen Leben nachgehen. Daher müssen wir in meinen Augen lernen, Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und jede Sache, die sie gut oder besser machen wollen, als wertvoll zu erachten, anstatt mit dem Finger auf die eine Sache zu zeigen, die sie nicht gut machen.
MZEE.com: Gut, dass du es schon andeutest, weil meine Folgefrage gewesen wäre, wie man damit überhaupt umgehen soll.
Horst Wegener: Ja, man wird ja unsicher. Ich kenne Freund:innen, die in solchen Kreisen unsicher werden, etwas Falsches zu sagen. Und das kann es doch auch nicht mehr sein, wenn wir uns nicht mehr trauen, authentisch zu uns selbst zu stehen, weil wir Angst haben, dass das, wofür wir stehen, mit der Meinung eines anderen kollidiert und es zu einem schlechten Bild von einem selbst führt. Dann werden wir nämlich wieder unaufrichtig und erschaffen zwei Bilder – einmal das Selbstbild, das ehrlich ist, und einmal das Bild, das wir nach außen sind und das unauthentisch ist. Wenn unsere Gesellschaft daraus bestehen würde, dass wir immer zwei Bilder kreieren müssen … Man, wären wir dann im Arsch. Und es sind viele im Arsch. (lacht)
(Sam Levin)
(Fotos von Wupperwerft Studios)