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Interview

Horst Wegener – ein Gespräch über Doppelmoral

"Wir müs­sen in mei­nen Augen ler­nen, jede Sache, die Men­schen gut oder bes­ser machen wol­len, als wert­voll zu erach­ten, anstatt mit dem Fin­ger auf die eine Sache zu zei­gen, die sie nicht gut machen." – Horst Wege­ner über Dop­pel­mo­ral im All­tag und wie man damit umge­hen kann.

Vor über drei Mona­ten ist Russ­land in die Ukrai­ne ein­ge­fal­len. Seit­dem herrscht nicht nur Krieg in einem euro­päi­schen Land, son­dern eine Aus­nah­me­si­tua­ti­on in der west­li­chen Poli­tik: Sank­tio­nen gegen Russ­land und sei­ne Olig­ar­chen, geplan­te Energie-​Embargos, die jeder von uns zu spü­ren bekommt, und eine Auf­rüs­tung der NATO. Gleich­zei­tig geht ein Ruck durch die Gesell­schaft, der vor allem zu Beginn durch eine gro­ße und selbst­ver­ständ­li­che Hilfs­be­reit­schaft für die geflüch­te­ten Ukrainer:innen geprägt ist. Damit ein­her­ge­hend kom­men aber auch Fra­gen auf: Han­deln wir hier fair mit Blick auf die tau­sen­den Geflüch­te­ten aus ande­ren Län­dern? Oder han­deln wir mit einer Dop­pel­mo­ral? Und ist Dop­pel­mo­ral nicht etwas, das unse­ren All­tag andau­ernd prägt? Zeit für ein Gespräch mit dem Rap­per Horst Wege­ner – der Wup­per­ta­ler enga­giert sich seit meh­re­ren Jah­ren selbst poli­tisch für Geflüch­te­te in sei­ner Hei­mat­stadt und spricht in sei­ner Musik immer wie­der gesell­schafts­kri­ti­sche The­men an. Im Inter­view unter­hiel­ten wir uns über die unter­schied­li­chen Reak­tio­nen der Gesell­schaft auf Flucht­wel­len, sei­ne Erfah­run­gen in der Lokal­po­li­tik und war­um er sich mitt­ler­wei­le lie­ber auf sich selbst verlässt.

MZEE​.com​: Ich wür­de mit dir heu­te ger­ne über Dop­pel­mo­ral spre­chen. Die wohl bekann­tes­te Beschrei­bung davon dürf­te ja "Was­ser pre­di­gen und Wein trin­ken" von Hein­rich Hei­ne sein. Wobei hast du bei dir zuletzt eine Dop­pel­mo­ral festgestellt?

Horst Wege­ner: Hm … Ich bin per­fekt (lacht). Ich den­ke, in unse­rem All­tag ist es schwie­rig, immer nach sei­nen Wer­ten zu leben. Ich woh­ne 25 Minu­ten zu Fuß vom Stu­dio ent­fernt und das gehe ich mal zu Fuß, aber ich fah­re es auch ger­ne mal mit dem Auto. Und das ist so eine Dop­pel­mo­ral, weil wir uns ja alle eigent­lich einig sind, dass man im inner­städ­ti­schen Raum ein Fahr­rad benut­zen oder zu Fuß gehen soll­te. Und den­noch nimmt man aus Bequem­lich­keit oft die Erleich­te­rung und nimmt damit in Kauf, etwas nicht so Gutes zu tun.

MZEE​.com​: Und wann hast du dich in letz­ter Zeit über Dop­pel­mo­ral bei jemand ande­rem rich­tig aufgeregt?

Horst Wege­ner: Ein The­ma, das mich wurmt, ist die Dop­pel­mo­ral, wenn Men­schen nicht auf­rich­tig zuein­an­der sind und sich nur aus oppor­tu­nis­ti­schen Grün­den nett geben. Ich fin­de es immer super­schwie­rig, dass Men­schen so oft ihre Wer­te ver­wer­fen, um irgend­ein ande­res Ziel zu errei­chen. Das bedeu­tet auch, dass man weiß, wie Per­son A über Per­son B redet – und am nächs­ten Tag sieht man sie zusam­men in einer Insta-​Story. Das ist so ein Phä­no­men unse­rer Zeit, wo wir auf mög­lichst vie­len unter­schied­li­chen Platt­for­men statt­fin­den wol­len und uns dann eigent­lich oft auch egal ist, was wir spü­ren oder was wir für Beden­ken bei bestimm­ten Per­so­nen oder Situa­tio­nen haben. Da ist man sich selbst gegen­über nicht auf­rich­tig – das stört mich. Dop­pel­mo­ral beginnt für mich da, wo du einer dir gegen­über­lie­gen­den Per­son nicht auf­rich­tig spie­gelst, wie du zu ihr stehst. Und dass du eine Posi­ti­on ein­nimmst, um dich viel­leicht zu pro­fi­lie­ren, anstatt wirk­lich für etwas ein­zu­ste­hen. Auch wenn das bedeu­tet, dass es mal unan­ge­nehm wird oder dir eini­ge Türen ver­schlos­sen bleiben.

MZEE​.com​: Der Auf­hän­ger für das The­ma Dop­pel­mo­ral ist für mich aktu­ell auch der Ukraine-​Krieg. Seit­dem die­ser aus­ge­bro­chen ist, gibt es eine dau­er­haf­te Bericht­erstat­tung. Ande­re Kon­flik­te wie etwa in Mali, Syri­en, Afgha­ni­stan oder im Jemen wer­den kaum noch the­ma­ti­siert – falls sie es über­haupt im sel­ben Umfang wur­den. Wie nimmst du das wahr?

Horst Wege­ner: Ja, das ist der Grund­satz einer Dop­pel­mo­ral. Das, was ich dir gera­de als Bei­spiel genannt habe, kann man auch dar­auf anwen­den. Wir sind einem Kon­flikt sehr nahe und damit geht eine Angst ein­her, dass unse­re Frei­heit ein­ge­schränkt wer­den kann. Dadurch wer­den wir mehr erschüt­tert als von einem Kon­flikt in der Fer­ne, der uns erst mal nicht direkt betref­fen kann – weder durch wirt­schaft­li­che noch durch mili­tä­ri­sche Sank­tio­nen. Das führt zu einer ande­ren Sen­si­bi­li­tät, die eben nicht auf­rich­tig ist, weil es in der Kom­mu­ni­ka­ti­on um den Ukraine-​Krieg auch um uns geht. Den Per­so­nen und auch den Medi­en­schaf­fen­den scheint die­ses The­ma viel mehr am Her­zen zu lie­gen, weil sie wis­sen, dass mit dem Krieg in der Ukrai­ne auch unse­re Sicher­heit ein­her­geht. Das ist die­ses Dra­ma: Wir wol­len Leid been­den, sind aber bereit, es in Kauf zu neh­men, wenn es weit von uns ent­fernt ist. Sei es bei Kon­sum­entschei­dun­gen oder bei Krie­gen – da han­deln wir eigent­lich immer nach den­sel­ben Grund­sät­zen und wen­den zwei­er­lei Maß an.

MZEE​.com​: Bun­des­au­ßen­mi­nis­te­rin Baer­bock sag­te zuletzt in But­scha, dass die Opfer auch wir hät­ten sein kön­nen. Ist die Betrof­fen­heit ange­sichts der Lage in der Ukrai­ne auch etwas Egoistisches?

Horst Wege­ner: Ja, genau. Das mei­ne ich mit zwei­er­lei Maß mes­sen. Also ein­mal ist es sicher­lich etwas sehr Mensch­li­ches – näm­lich die Empa­thie von Wei­ßen für Wei­ße. Ich kann aber auch nur von mir aus­ge­hen. Für mich hat es durch den Ukraine-​Konflikt auch sehr gekrib­belt. Ich bin danach in Paris gewe­sen – das ist für mich eine Rei­se von sechs Stun­den – und ich wuss­te, ich hät­te auch sechs Stun­den in die ande­re Rich­tung fah­ren kön­nen und wäre fast in der Ukrai­ne gewe­sen. Das macht was mit dem Bewusst­sein und hebt die­sen Kon­flikt auf eine ande­re Ebe­ne als den Kon­flikt in Mali. Nichts­des­to­trotz ist es für Men­schen, die sich in den letz­ten fünf bis sechs Jah­ren in Deutsch­land durch­ge­kämpft haben, total schwie­rig zu sehen, wie mit den Men­schen jetzt umge­gan­gen wird, die hier­her­kom­men, und wie mit ihnen selbst umge­gan­gen wur­de. Ein­fach, was für unglei­che Chan­ce da auf­ge­tan wur­den. Was nicht bedeu­tet, dass die Auf­rich­tig­keit den Ukrai­nern gegen­über nicht rich­tig ist. Nur dort wur­den Geset­ze schnell EU-​weit erlas­sen, die den Men­schen zugu­te­kom­men, um sie in unse­re Gesell­schaft ein­zu­glie­dern, die wir auch im Syrien-​Konflikt gut hät­ten vor­an­trei­ben kön­nen. Wir haben hier in Wup­per­tal super­tol­le Initia­ti­ven, die das aus pri­vat­ge­sell­schaft­li­chem Enga­ge­ment auf­bau­en – wir haben hier genau­so Aka­de­mi­ker, Stu­die­ren­de, Abitu­ri­en­ten oder Men­schen, die bes­ser Eng­lisch spre­chen als ich. Die erfül­len genau­so jede Vor­aus­set­zung, eigent­lich sofort los­le­gen zu kön­nen. Wenn ich mir vor­stel­le, ich wäre in drei Jah­ren da, wo jemand direkt ist, wenn er hier­hin­kommt – dann wür­de ich mich auf jeden Fall stark benach­tei­ligt fühlen.

MZEE​.com​: Gleich­zei­tig ist es auch logisch, dass eine Gesell­schaft anders mit ver­schie­de­nen Flucht­wel­len umgeht. Einer­seits wird Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne sehr gehol­fen, ande­rer­seits stand auch nie­mand am Bahn­hof und hat für sie geklatscht wie etwa 2015, als tau­sen­de Geflüch­te­te etwa aus Syri­en anka­men. Was meinst du, wor­an das liegt? Ist die Gesell­schaft viel­leicht "geüb­ter"?

Horst Wege­ner: Ich habe ver­sucht, mich in den letz­ten Mona­ten aus die­sen The­ma­ti­ken raus­zu­hal­ten, weil sie mich belas­ten. Letzt­end­lich muss sich Deutsch­land ein­fach ein­ge­ste­hen, Inte­gra­ti­on über Jahr­zehn­te hin­weg sehr schlecht kul­ti­viert zu haben. Man sieht ja noch heu­te, was es mit der Gesell­schaft macht, etwa Gast­ar­bei­ten­de aus den süd­li­chen Län­dern nicht rich­tig inte­griert zu haben. Ich hof­fe, dass es ein Lern­ef­fekt ist und kei­ne Aus­re­de, denn die gan­zen Erlas­se, die jetzt umge­setzt wur­den, müss­te man dann auch auf alle Men­schen anwen­den kön­nen, die den Bedarf haben. Und da wird es dann wie­der kom­pli­ziert, weil man mit zwei­er­lei Maß mes­sen muss. Irgend­wel­che Regu­la­ri­en braucht es ja trotz­dem. Letzt­end­lich ist die Büro­kra­tie auch eine Gren­ze bezie­hungs­wei­se eine Sicher­heit, um eben kon­trol­liert Men­schen zu erfas­sen und so wei­ter und so fort. Natür­lich funk­tio­niert die­ses Kon­zept, dass alle Men­schen kom­men kön­nen, nur solan­ge es ein Sys­tem gibt, das in der Lage ist, die­se Men­schen über­haupt zu erfas­sen und zu orga­ni­sie­ren. Ich glau­be, das ist wirk­lich die größ­te Her­aus­for­de­rung, und ich hof­fe, dass ein Lern­ef­fekt der Grund ist, wes­halb es gera­de so schnell funk­tio­niert. Dann müs­sen aber auch Taten in ande­re Rich­tun­gen fol­gen, damit das eine authen­ti­sche Argu­men­ta­ti­on ist.

MZEE​.com​: Du sitzt seit zwei Jah­ren mit der Initia­ti­ve "Power of Color" im Inte­gra­ti­ons­aus­schuss der Stadt Wup­per­tal – begeg­nen dir dort auch For­men von Doppelmoral?

Horst Wege­ner: Ja, total. Das, was man mit­be­kom­men hat, etwa afri­ka­ni­sche Stu­die­ren­de, die aus der Ukrai­ne nicht raus­ge­kom­men sind, obwohl sie de fac­to im sel­ben Grad Leid­tra­gen­de des Ukraine-​Konflikts sind, aber nicht die­sel­ben Rech­te haben. Das­sel­be erlebt man hier in Deutsch­land auch. Ich habe eine Bekann­te, die ist seit vier Jah­ren in Deutsch­land, hat hier pro­mo­viert und letz­tes Jahr sechs Mona­te lang für ihren Auf­ent­halts­sta­tus gekämpft. Ein­fach, weil die Lage nach der Pro­mo­ti­on noch nicht geklärt war und sie kei­nen unter­schrie­be­nen Ver­trag hat­te. Aber sie war fak­tisch eine gut bezahl­te Dok­to­ran­din an einem Lehr­stuhl in Wup­per­tal – und muss für einen Auf­ent­halts­sta­tus kämp­fen. Sie ist der Spra­che inzwi­schen mäch­tig, hat eine sozia­le Infra­struk­tur und für sie war das ein Kampf, mit einer Erlaub­nis im Land zu blei­ben. Die­sen Kampf kön­nen so vie­le Men­schen gar nicht erst füh­ren. Bei den ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten ist der Arbeits­markt direkt offen, aber auch der Woh­nungs­markt, weil sie nicht durch das nor­ma­le Asyl­ver­fah­ren müs­sen, was für vie­le sehr kräf­te­zeh­rend ist. Allei­ne das Schla­fen in Turn­hal­len oder Sam­mel­stel­len sind Din­ge, die der Men­schen­wür­de nicht gut­tun. Das sind Not­lö­sun­gen und das weiß auch die Regie­rung, aber eigent­lich muss ja das Ziel sein, die­se Zeit für alle Men­schen, die dar­auf ange­wie­sen sind, so kurz wie mög­lich zu halten.

MZEE​.com​: Auf Insta­gram hat­te ich auch das Zeug­nis eines Man­nes aus Afgha­ni­stan gese­hen. Er hat­te einen Uni-​Abschluss in Medi­zin gemacht und ihm wur­de es als Real­schul­ab­schluss ange­rech­net. Schü­ler aus der Ukrai­ne wie­der­um kön­nen hier anfan­gen zu stu­die­ren, ohne dass sie ihren Schul­ab­schluss fer­tig gemacht haben.

Horst Wege­ner: Genau, ich hat­te gera­de beim letz­ten Punkt den Faden ver­lo­ren, näm­lich dass wir unse­re Inte­gra­ti­ons­po­li­tik ver­kackt haben. Wenn du schaust, wie vie­le kras­se Leu­te aus der Tür­kei, aus Kur­di­stan und ande­ren Län­dern gekom­men sind, die heu­te bei uns Taxi fah­ren, obwohl sie Lite­ra­tur oder ande­re Din­ge stu­diert haben. Der Vater mei­nes Mana­gers ist stu­dier­ter Dok­tor, arbei­tet aber als medi­zi­ni­scher Assis­tent und ist super­un­glück­lich in sei­nem Job, weil er weiß, dass er auf­grund sei­nes Stu­di­ums ganz woan­ders in der Gesell­schaft ste­hen könn­te. Das muss uns doch eigent­lich eine Leh­re sein – die­se Geschich­ten wer­den seit zehn Jah­ren durch die Nach­fol­ge­ge­nera­ti­on erzählt, die in der Lage ist, das zu kom­mu­ni­zie­ren. Unse­rer Gesell­schaft ist nicht damit gehol­fen, wenn wir noch mehr Men­schen haben, die ihr Poten­zi­al nicht ent­fal­ten kön­nen und damit unzu­frie­den sind.

MZEE​.com​: Die BR-​Journalistin Lili Ruge hat mit Blick auf den Vor­wurf der Dop­pel­mo­ral Fol­gen­des geschrie­ben: "Wir sind als Euro­pä­er angreif­bar, weil wir Moria nicht ver­hin­dern, weil wir in Afgha­ni­stan die­je­ni­gen im Stich gelas­sen haben, die auf ein selbst­be­stimm­tes Leben in einem frei­en Land gehofft hat­ten. Folg­te man aller­dings der Kri­tik müss­te man sich ent­we­der über jeden Kon­flikt in der Welt glei­cher­ma­ßen empö­ren – eine Auf­ga­be, der wir allein kogni­tiv nicht gewach­sen sind. Oder man duckt sich auch jetzt weg und ent­zieht der Ukrai­ne aus gewis­ser­ma­ßen tra­di­tio­nel­len Grün­den die Soli­da­ri­tät. Jedoch sind weder blin­der Aktio­nis­mus noch Gleich­gül­tig­keit jetzt ziel­füh­rend." – Wo kann man über­haupt eine Gren­ze in der Hilfs­be­reit­schaft zie­hen, falls das mora­lisch mög­lich ist?

Horst Wege­ner: Ich glau­be wirk­lich, dass die Distanz eine der Haupt­rol­len in die­sem The­ma spielt. Dass Men­schen in der Lage waren, sich in einen Zug zu set­zen und direkt nach Ber­lin zu fah­ren, ist ein­fach eine ganz ande­re Vor­aus­set­zung, als wenn du aus Alep­po über die Balkan-​Route oder das Mit­tel­meer hier­hin­kom­men muss­test. Das ist ja auch eigent­lich das Schö­ne an Euro­pa: Es ist alles so nah bei­ein­an­der. Ich fin­de, der Ukraine-​Konflikt ist höchst her­aus­for­dernd, auch für die Poli­tik. In der Posi­ti­on, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, will ich auf jeden Fall nicht sein. Vor der Situa­ti­on, die unse­re Regie­rung direkt hand­len muss, habe ich aller­höchs­ten Respekt. Es gibt da kein Rich­tig und kein Falsch in der Debat­te, etwa ob man sich am Krieg betei­ligt oder nicht – argu­men­ta­tiv ist ja alles eine Dop­pel­mo­ral. Über­all fin­det die­ses The­ma statt und egal, wie man sich posi­tio­niert, lässt man immer eine Per­spek­ti­ve außer Acht, die wich­tig wäre, zu the­ma­ti­sie­ren. Das ist, glau­be ich, eine Fol­ge dar­aus, dass die­ser Kon­flikt so nah ist und uns wirt­schaft­lich viel kras­ser beein­flusst als ein Krieg in Mali, Syri­en oder im Koso­vo. Dadurch hat jeder eine scheiß Mei­nung dazu, weil der Sprit 2,10 Euro pro Liter kos­tet. Und das Schlim­me ist: In kei­nem der Kon­flik­te haben wir als Indi­vi­du­en die Chan­ce, irgend­wie ein­zu­grei­fen und die­sen Kon­flikt zu len­ken. Wir kön­nen nur Mei­nung machen, aber kei­ne Taten fol­gen las­sen. Das ist ernüchternd.

MZEE​.com​: Du sitzt halt ein­fach ohn­mäch­tig da und kriegst es natür­lich mit – wie du schon sag­test. Vie­le Poli­ti­ker haben sich ja auch vor Zapf­säu­len gestellt und gesagt, dass man jetzt, wo die Sprit­prei­se so hoch sei­en, end­lich mal han­deln müsse.

Horst Wege­ner: Das Glei­che ist ja aber auch mit Moria, Calais und all den ande­ren Camps, die es gab und gibt. Wie willst du als nor­ma­ler Bür­ger die­sen Zustand auf­bre­chen, ohne dahin­zu­fah­ren und den Men­schen zu hel­fen? Das sind poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen, die da getrof­fen wer­den müs­sen, und es gibt seit Jah­ren Druck, der von einer brei­ten Mas­se an Men­schen aus­ge­übt wird. Und die­ser Druck reicht ein­fach nicht aus, um die Ver­hält­nis­se zu ver­än­dern. Das ist, fin­de ich, ziem­lich depri­mie­rend. Ich habe Respekt vor jedem Men­schen, der jeden Mor­gen auf­steht und die Kraft sam­meln kann, dar­auf auf­merk­sam zu machen – jedes Mal aufs Neue.

MZEE​.com​: Ist Moral in poli­ti­schen Fra­gen immer ein guter Ratgeber?

Horst Wege­ner: Das ist auch wie­der super­kom­pli­ziert. Wir haben eine Regie­rung gewählt, die alle Men­schen in die­sem Land reprä­sen­tiert, deren Inter­es­sen wahrt und im bes­ten Fall unbe­stech­lich ratio­na­le Ent­schei­dun­gen trifft. In einer Welt, die so kom­plex ist wie die­se, wird es nie Ent­schei­dun­gen geben, in denen Men­schen nicht in Mit­lei­den­schaft dadurch gezo­gen wer­den, dass es ande­ren Men­schen gut geht. Wür­de da eine Moral mit rein­kom­men, wür­dest du, wie wir, gelähmt sein. Und poli­tik­ma­chen­de Men­schen müs­sen dann die Ent­schei­dun­gen mit dem kleinst­mög­li­chen Ver­lust bezie­hungs­wei­se mit dem größt­mög­li­chen Effort für die eige­ne Bevöl­ke­rung tref­fen. Das ist im Kern erst mal ego­is­tisch, aber eben das Sys­tem, das wir uns selbst auf­ge­baut haben.

MZEE​.com​: Ich den­ke da zum Bei­spiel gera­de an Robert Habeck, der das in mei­nen Augen sehr gut kom­mu­ni­ziert, was er gera­de macht. Er sagt klar, dass er nur zwi­schen Pest und Cho­le­ra wäh­len kann und den Weg des kleins­ten Übels nimmt. Man könn­te sich mit einer rein mora­li­schen Fra­ge also qua­si im Weg stehen.

Horst Wege­ner: Genau, dann holst du eben das Gas aus irgend­wel­chen ande­ren dubio­sen Staa­ten und sicherst die Ver­sor­gung in dei­nem Land. Aber mora­lisch gese­hen wäre es bes­ser gewe­sen, auch dar­auf zu ver­zich­ten und zu sagen: "Es wird jetzt 'ne kras­se Zeit für zwei Jah­re, aber bis dahin schaf­fen wir erneu­er­ba­re Ener­gien." Ich weiß es nicht … Das ist eben so eine Ent­schei­dung – wer will die tref­fen? Und Robert Habeck muss das auf ein­mal tun. Des­halb mein­te ich auch, dass ich so einen Respekt vor unse­rer Regie­rung habe. Er wird am Ende dar­an gemes­sen, er wird dafür haft­bar gemacht, dass er in unse­rem Sin­ne ent­schie­den hat. Er hat uns als Bevöl­ke­rung jetzt ermög­licht, dass wir aus die­sem Kon­flikt so wenig Kon­se­quen­zen wie nur mög­lich spü­ren. Wäre die Moral der größ­te Ein­fluss gewe­sen, hät­te Habeck viel­leicht auf­ge­wo­gen, dass wir ein­fach ein Jahr mit noch mehr Infla­ti­on aus­hal­ten, aber uns mora­lisch in dem The­ma nichts vor­zu­wer­fen haben. Da muss man wie­der abwä­gen, was es wert ist: das Leben der hier leben­den 80 Mil­lio­nen Men­schen mög­lichst unbe­schwert zu hal­ten oder in den sau­ren Apfel zu bei­ßen. Und da ist ja eine Ent­schei­dung getrof­fen – am Ende will die­se Poli­tik auch wie­der­ge­wählt wer­den, was es dann auch wie­der zu einem ego­is­ti­schen Akt macht.

MZEE​.com​: Gera­de zu Beginn des Kriegs wur­de in eini­gen Talk­shows und auch ande­ren Medi­en die Hilfs­be­reit­schaft der west­li­chen Gesell­schaf­ten ver­tei­digt. Dabei sind Sät­ze gefal­len wie "Die­ses Mal sind es ech­te Flücht­lin­ge" oder dass die Ukrai­ner schließ­lich unse­re Wer­te tei­len wür­den. Machen wir gesell­schaft­lich gese­hen, gera­de ange­sichts der BLM-​Bewegung, einen Schritt rück­wärts, was Ras­sis­mus angeht?

Horst Wege­ner: Ob in Freund­schaf­ten oder im Unter­neh­mer­tum, man sagt ja, dass man in schwe­ren Zei­ten sei­ne wirk­li­chen Freun­de erkennt. Die Zeit ist jetzt gera­de schwer und die Medi­en­land­schaft ent­puppt sich nicht als Freund der Min­der­heits­ge­sell­schaf­ten in Deutsch­land und das ist obvious. Ob man den Schlen­ker auf die Gesamt­be­völ­ke­rung machen kann, weiß ich nicht. Dafür habe ich gera­de ein viel zu schlech­tes Bild. Ich war aber ges­tern wäh­len (Anm. d. Redak­ti­on: Die­ses Inter­view wur­de einen Tag nach der NRW-​Landtagswahl geführt) und mer­ke, dass den Leu­ten in NRW alles scheiß­egal war, was die CDU ver­bockt hat, und sie ist stärks­te Kraft gewor­den. Da denkt man dann immer: "Schei­ße, haben die gan­zen Leu­te das nicht mit­be­kom­men oder was ist los?" Ich habe gemerkt – des­halb habe ich dir auch am Anfang gesagt, dass ich mich aus die­sen The­men etwas zurück­ge­zo­gen habe –, dass sich auf ein Kol­lek­tiv zu ver­las­sen, das dich unter­stützt und dir Türen auf­macht, zwar funk­tio­nie­ren kann, ich aber an dem Punkt bin: "Fuck it, ich mach' das jetzt allei­ne." Ein­fach, weil ich die­ses Ver­trau­en in die Gesamt­be­völ­ke­rung gera­de nicht spü­re. Und auch bei Black Lives Mat­ter ist es eine gro­ße Dun­kel­zif­fer an Men­schen, die das aus tren­di­gen Grün­den mit­ge­macht haben. Nichts­des­to­trotz wur­de aus die­sem tren­di­gen auch eine Mei­nungs­bil­dung voll­zo­gen, die wich­tig ist. Um auf dei­ne Fra­ge zurück­zu­kom­men: Ich glau­be auf jeden Fall, dass die Medi­en­land­schaft all­ge­mein sehr schwie­rig ist, weil es kei­ne diver­se Bele­gung an Redakteur:innen oder Journalist:innen gibt. Und dem­nach ist es auch klar, dass die Mei­nung, die publi­ziert wird, nicht immer die ist, mit der ich mich iden­ti­fi­zie­ren kann und im bes­ten Fall du dich viel­leicht auch nicht.

MZEE​.com​: Was hat dazu geführt, dass dein Ver­trau­en in die Gesamt­be­völ­ke­rung gebrö­ckelt ist und du an den Punkt gekom­men bist, alles sel­ber zu machen?

Horst Wege­ner: Da wer­den sicher vie­le eine Gegen­mei­nung zu haben, was auch voll­kom­men rich­tig ist, aber ich glau­be, es ist die­se Ernüch­te­rung, dass sich Din­ge eben so schnell nicht ändern. Ich habe inzwi­schen zwei, drei klei­ne Fir­men im Kultur- und Wer­be­be­reich und bald auch in der Gas­tro­no­mie. Mein Ziel war es, in allen Berei­chen, die mich und mein Schaf­fen betref­fen, unab­hän­gig von Mehr­heits­struk­tu­ren zu sein. Das ist ein Antrieb, der dar­aus resul­tiert, dass ich immer wie­der Pro­ble­me gehabt habe, weil da irgend­ei­ne Wei­ße Per­son war, die irgend­wel­che Stei­ne in den Weg gelegt hat. Dar­auf habe ich kei­nen Bock mehr gehabt und gleich­zei­tig gemerkt, dass es mich krank macht, mich immer wie­der als Opfer einer dis­kri­mi­nie­ren­den Gesell­schaft zu sehen. Wer will immer Opfer sein oder sich immer wie­der damit aus­ein­an­der­set­zen? Des­we­gen reflek­tie­re ich dar­über ab und zu und hat­te mir auch vor­ge­nom­men, kei­ne Inter­views mehr zu solch schwe­ren The­ma­ti­ken zu geben, weil ich halt nach vor­ne bli­cken will. Das geht aber nur, weil ich mir über die letz­ten vier Jah­ren die­se Pri­vi­le­gi­en auf­ge­baut habe, dass die Hür­de mei­ner Haut­far­be bei­spiels­wei­se kei­ne Hür­de mehr ist. Das war aber ein jah­re­lan­ger Pro­zess. Als ich etwa frisch aus der Schu­le kam, war ich an einem ganz ande­ren Punkt. Da brauch­te ich qua­si den Sup­port von außen und die Sen­si­bi­li­tät der Mehr­heits­ge­sell­schaft für die­se The­men, um mich in Posi­tio­nen zu brin­gen, die es mir ermög­li­chen, unab­hän­gig zu sein. Und das wün­sche ich jeder ein­zel­nen Per­son, die in wel­ches Land auch immer kommt – bei ihren Stär­ken unter­stützt zu wer­den und sich inner­halb kur­zer Zeit eine Selbst­stän­dig­keit auf­bau­en zu kön­nen. Dann ist es ein Gewinn für alle Tei­le der Gesell­schaft und eigent­lich das, was sich selbst die Erz­kon­ser­va­ti­ven von den Ukrai­nern ver­spre­chen. Und dass das genau­so bei den Men­schen aus ande­ren Län­dern pas­siert, ist genau die Auf­ga­be der Gesell­schaft – näm­lich so wenig Hür­den wie mög­lich zu schaf­fen, damit die Men­schen nicht dem Sys­tem zur Last fal­len, son­dern so schnell wie mög­lich durch eigen­stän­di­ges Schaf­fen Teil des Sys­tems werden.

MZEE​.com​: Dan­ke, dass du dir trotz des Vor­ha­bens, zu sol­chen The­men kei­ne Inter­views mehr zu geben, die Zeit nimmst. Mir ist auch bewusst, dass man mit dem The­ma "Dop­pel­mo­ral" immer ein rie­si­ges Fass auf­macht. Mei­ne Abschluss­fra­ge wäre: Glaubst du, man kann in einer auf­ge­klär­ten Gesell­schaft dem Vor­wurf der Dop­pel­mo­ral über­haupt entgehen?

Horst Wege­ner: Mei­ne Freun­din hat dazu letz­tens was Schö­nes in Bezug auf Fleisch­kon­sum gesagt. In so woken Bubbles ist man so krass angreif­bar und unter­wirft sich immer wie­der Zwän­gen, sich Din­ge nicht ein­zu­ge­ste­hen, weil wir Angst davor haben, für eine Hand­lung gejud­get zu wer­den. "Hm, jetzt war ich doch mal in einem Restau­rant und habe mir ein gutes Steak gegönnt" oder "Oh, jetzt bin ich doch nach Mal­lor­ca geflo­gen, weil ich unbe­dingt ans Meer muss­te". Ich fin­de, wir müs­sen es schaf­fen, die Geschich­te anders­rum auf­zu­zie­hen. Dass wir sagen: Jedes Mal, wenn du aktiv eine mora­lisch gute Ent­schei­dung triffst, ist das geil. Die­ses Anspruchs­den­ken, dass wir als woke, jun­ge Men­schen alles per­fekt machen, ist doch sowas von über­trie­ben. Wie willst du das machen, wenn 95 Pro­zent des Ange­bots dei­nen mora­li­schen Prin­zi­pi­en wider­spre­chen? Dann kos­tet es dich ja viel mehr Kraft, dei­nen eige­nen mora­li­schen Grund­sät­zen nach­zu­ge­hen, als dass du über­haupt irgend­wel­che Kapa­zi­tä­ten für den all­täg­li­chen Scheiß hast. Das kann ja letzt­end­lich auch nicht sein, weil ich am Ende auch einer Tätig­keit nach­ge­hen und mei­ne Mie­te zah­len muss. Und das machen sich Kon­zer­ne ja auch zunut­ze. Nur weil ich vega­ne Kos­me­tik kau­fe, weiß ich trotz­dem nicht, ob der Kon­zern dahin­ter geil ist. Das bedarf so viel Recher­che und Zeit, die wir als Zivil­be­völ­ke­rung gar nicht auf­brin­gen kön­nen, wenn wir einem nor­ma­len Leben nach­ge­hen. Daher müs­sen wir in mei­nen Augen ler­nen, Men­schen so zu neh­men, wie sie sind, und jede Sache, die sie gut oder bes­ser machen wol­len, als wert­voll zu erach­ten, anstatt mit dem Fin­ger auf die eine Sache zu zei­gen, die sie nicht gut machen.

MZEE​.com​: Gut, dass du es schon andeu­test, weil mei­ne Fol­ge­fra­ge gewe­sen wäre, wie man damit über­haupt umge­hen soll.

Horst Wege­ner: Ja, man wird ja unsi­cher. Ich ken­ne Freund:innen, die in sol­chen Krei­sen unsi­cher wer­den, etwas Fal­sches zu sagen. Und das kann es doch auch nicht mehr sein, wenn wir uns nicht mehr trau­en, authen­tisch zu uns selbst zu ste­hen, weil wir Angst haben, dass das, wofür wir ste­hen, mit der Mei­nung eines ande­ren kol­li­diert und es zu einem schlech­ten Bild von einem selbst führt. Dann wer­den wir näm­lich wie­der unauf­rich­tig und erschaf­fen zwei Bil­der – ein­mal das Selbst­bild, das ehr­lich ist, und ein­mal das Bild, das wir nach außen sind und das unau­then­tisch ist. Wenn unse­re Gesell­schaft dar­aus bestehen wür­de, dass wir immer zwei Bil­der kre­ieren müs­sen … Man, wären wir dann im Arsch. Und es sind vie­le im Arsch. (lacht)

(Sam Levin)
(Fotos von Wup­per­werft Studios)