"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem:einer Künstler:in oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der:die Gesprächspartner:in ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm:ihr das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
"My tea's gone cold, I wonder why …" – Es ist nur schwer vorstellbar, dass es HipHop-Fans gibt, die nicht wissen, wie dieser Text weitergeht. Das alleine zeichnet schon einen Klassiker aus, aber was hat eine 24 Jahre alte Strophe von Dido mit HipHop zu tun?
Tatsächlich handelt es sich beim Refrain von Eminems Hit "Stan" aus dem Jahr 2000 ursprünglich um einen Teil der ersten Strophe von Didos zwei Jahre älterem Song "Thank You", der auch für das Instrumental gesamplet wurde. Zu dieser Zeit waren Kollaborationen zwischen HipHop- und Pop-Artists noch seltener als heute, aber nicht nur das macht den Song so besonders. Die ersten drei Verses sind aus der Perspektive eines jungen Mannes namens Stan – ein Wortspiel aus Stalker und Fan – geschildert. Em gelingt es dabei durch einen anderen Stimmeinsatz und einen veränderten Flow, dem lyrischen Ich eine eigene Identität zu geben. Was zunächst im ersten Part wie harmlose Bewunderung und Fanpost wirkt, stellt sich im zweiten Part als krankhafte Obsession heraus. Im dritten Part findet diese ihren dramatischen Höhepunkt, als der Protagonist aufgrund der fehlenden Anerkennung durch sein Idol die Kontrolle über sein Leben vollständig verliert. In der vierten und letzten Strophe meldet sich Eminem schließlich aus seiner eigenen Perspektive zu Wort und beantwortet Stans Briefe endlich – jedoch zu spät. Dass ich mit meiner Einordnung nicht alleine bin, zeigt auch, wie viele Hommagen zu "Stan" existieren, um mal mit Prinz Pi oder einer VBT-Runde von coru aus dem Jahr 2009 nur zwei Beispiele zu nennen.
Neulich habe ich mich beim Einkaufen dabei erwischt, wie ich nach Didos Gesang anfing, den ersten "Stan"-Part zu rappen. Es handelte sich bei dem Song, der im Supermarkt gespielt wurde, jedoch um das originale "Thank You". Wahrscheinlich wird mir das auch in den nächsten 22 Jahren noch passieren. Eminems "Stan" ist eben ein zeitloser Klassiker.
(Michael Collins)