"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Schon seit "Palmen und Freunde" war Dexter als Rapper und Produzent in meiner Plattensammlung immer eine Konstante in Sachen Qualität. 2020 machte er allerdings mit "Yung Boomer" einiges anders und hat damit einen heftigen Eindruck hinterlassen. Dexter wird nämlich richtig persönlich, was für ihn alles andere als typisch ist.
Aber erst mal zu dem, was man von dem Stuttgarter gewohnt ist – angefangen bei den unverkennbaren Beats. Sie bauen auf klassische Jazz-Elemente auf, wirken dabei aber nicht altbacken. Mal mehr, mal weniger Trap-Sounds im Instrumental machen dabei den Unterschied zum belanglosen 08/15-Sound. Wild wird es aber nie – Dexters Tracks stehen eher für ein Glas Vino auf der Couch als für den Club. Neben dem charakteristischen Sound und den handverlesenen Featuregästen unterscheidet sich "Yung Boomer" für mich in einem Aspekt aber eindeutig vom Rest seiner Diskografie: Statt betont entspannt übers Kiffen und guten Wein zu rappen, gibt Dexter zum ersten Mal viel mehr Einblick in sein Leben. "Apoplex" thematisiert etwa seinen Schlaganfall. Der Produzent und Rapper reflektiert auf dem einwandfreien Storyteller über die Vergänglichkeit des Lebens, was bei mir immer noch eine Gänsehaut auslöst. Auf "Requiem für eine Bierbong" und "Beyblade" hingegen lässt er seine Jugend Revue passieren. Beim Hören der Platte merkt man, dass Dexter als HipHop-Nerd mit Unsicherheiten zu kämpfen hatte und lange weit von seiner heutigen Wavyness entfernt war. Es ist für ihn etwas komplett Neues, so persönliche Themen in Songs anzusprechen.
Dass ein Künstler, über den fast nichts bekannt ist, ein Album mit solch persönlichen Tracks releast, hat mich damals völlig unvorbereitet getroffen. Dexter gibt zum ersten Mal ein bisschen mehr Einblick in seine Struggles und entfernt sich von der beabsichtigten Belanglosigkeit, die jahrelang funktioniert hat. Damit dürfte klar sein, warum genau "Yung Boomer" so einen starken Eindruck bei mir hinterlassen hat.
(Jakob Zimmermann)