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Kommentar

Mensch, Marcus! – Über Staigers Weigerung, sich impfen zu lassen

Mar­cus Staiger erklärt in einem Pod­cast, dass er sich nicht imp­fen las­sen wird. Wie kommt gera­de er auf die Idee? Ein offe­ner Brief über fal­sche Argu­men­te und zwei­fel­haf­te Analysen.

An die­ser Stel­le möch­ten wir Gedan­ken zu aktu­el­len Gescheh­nis­sen aus dem Deutschrap-​Kosmos zum Aus­druck brin­gen. Die jeweils dar­ge­stell­te Mei­nung ist die des:der Autor:in und ent­spricht nicht zwangs­läu­fig der der gesam­ten Redak­ti­on – den­noch möch­ten wir auch Ein­zel­stim­men Raum geben.

Im Fol­gen­den beschäf­tigt sich unser Redak­teur Simon mit dem Pod­cast von Lower­class­ja­ne und Mar­cus Staiger, in dem bei­de über das Imp­fen diskutieren.

 

Lie­ber Staiger,

ange­lehnt an die Tra­di­ti­on der wun­der­sa­men Rap­wo­che möch­te ich in Brief­form eini­ge Din­ge anmer­ken, die wäh­rend Dei­nem Gespräch mit Lower­class­ja­ne bezüg­lich Dei­ner Ent­schei­dung, Dich nicht imp­fen zu las­sen, auf­fäl­lig wur­den. Ihr hat­tet in einem auf You­Tube ver­öf­fent­lich­ten Streit­ge­spräch dis­ku­tiert, wel­che poli­ti­schen Feh­ler wäh­rend der Corona-​Pandemie gemacht wur­den und wel­che gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Zwän­ge im Zuge der letz­ten zwei Jah­re ent­stan­den sind. Haupt­the­ma war aller­dings, wie bereits ange­spro­chen, dass Du Dich selbst nicht imp­fen las­sen möch­test und was Dich zu die­ser unso­li­da­ri­schen Ent­schei­dung bewegt hat. Es geht mir hier­bei nicht dar­um, Dich davon zu über­zeu­gen, doch ver­nünf­tig zu wer­den und Dich imp­fen zu las­sen. Du bist wahr­lich schlau genug, um zu wis­sen, was Du tust. Ich möch­te auch nicht die unzäh­li­gen Falsch­aus­sa­gen, Halb­wahr­hei­ten und pole­mi­schen Über­spit­zun­gen ein­zeln wider­le­gen. Natür­lich könn­te man dar­auf ein­ge­hen, dass es selbst­ver­ständ­lich randomisiert- kon­trol­lier­te Stu­di­en ob der Wirk­sam­keit und Schäd­lich­keit der Impf­stof­fe gibt, auch wenn Du groß­spu­rig ande­res behaup­test. Man könn­te auf die über­wäl­ti­gen­de Daten­la­ge hin­wei­sen, die es bezüg­lich des Risi­kos einer Erkran­kung sowie des Risi­kos und der Wirk­sam­keit einer Imp­fung sehr wohl gibt, auch wenn Du das nicht sehen willst. Man könn­te sich fra­gen, wo denn die gan­zen Ver­lin­kun­gen zu Stu­di­en und Arti­keln blei­ben, die Du nach­rei­chen woll­test, damit sich nach­voll­zie­hen lässt, wor­auf Dei­ne Zwei­fel beru­hen. Man könn­te Dir zei­gen, dass hin­ter mRNA über 30 Jah­re For­schung ste­cken und es kei­nes­wegs etwas ganz Neu­es ist, wie Du behaup­test. Aber das braucht man alles nicht, denn das weißt Du alles selbst. Du weißt sehr genau, dass Du ein paar Stu­di­en und Arti­kel über­flo­gen hast, die Dir im rich­ti­gen Maße kri­tisch erschie­nen, ohne das groß­ar­tig zu über­prü­fen oder zu ver­ste­hen. Du begreifst sehr wohl den Unter­schied zwi­schen "über Impf­pflicht dis­ku­tie­ren" und "über das Imp­fen als Not­wen­dig­keit dis­ku­tie­ren", auch wenn Du bei­de Dis­kus­sio­nen zusam­men­wirfst. Du weißt, dass Du die­se Dis­kus­si­on gegen eine in die­ser Rich­tung wis­sen­schaft­lich kom­pe­ten­te­re und bes­ser vor­be­rei­te­te Per­son wie zum Bei­spiel Mai Thi Nguyen-​Kim haus­hoch ver­lo­ren hät­test. Dafür hät­test Du nicht mal den Non­sens vom Immun­sys­tem, das durch die Imp­fung nach­hal­tig geschwächt wird, erzäh­len müs­sen. Wis­sen­schaft­lich und ratio­nal gese­hen sind Dei­ne "Argu­men­te" halt­los und zei­gen nur, dass der Dunning-​Kruger-​Effekt auch nicht vor Dir haltmacht.

Was ich aller­dings viel inter­es­san­ter fin­de, ist, dass Du aus­ge­hend von die­sen fal­schen Prä­mis­sen auch bezüg­lich Dei­nes eigent­li­chen Ste­cken­pferds, der mar­xis­ti­schen Gesell­schafts­ana­ly­se, ver­sagst. Gehen wir davon aus, dass eine pri­mä­re Funk­ti­ons­wei­se des Kapi­ta­lis­mus die Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on ist. Wirt­schaft­li­ches Wachs­tum ist also der ent­schei­den­de Fak­tor, nach dem poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Akteu­re agie­ren. Die Corona-​Pandemie lähmt teil­wei­se die glo­ba­le Wirt­schaft seit gut zwei Jah­ren. Auch wenn eini­ge Fir­men und Per­so­nen mit Sicher­heit von der Situa­ti­on pro­fi­tie­ren konn­ten, ist es für das Sys­tem Kapi­ta­lis­mus ele­men­tar, dass die pan­de­mi­sche Lage so schnell wie mög­lich über­wun­den wird. Dein Gemau­schel von Imp­stof­fen, die "extra schwach" sei­en, um sie mehr­fach ver­imp­fen zu kön­nen und so immer wie­der abzu­kas­sie­ren, impli­ziert aber etwas ganz ande­res. Du gehst näm­lich davon aus, dass ein­zel­ne raff­gie­ri­ge Per­so­nen an der Spit­ze der ent­spre­chen­den Unter­neh­men die Phar­ma­in­dus­trie so len­ken und alle betei­lig­ten Wissenschaftler:innen täu­schen oder bestechen kön­nen, dass die­se eben extra schwa­che Impf­stof­fe her­stel­len. Natür­lich kannst Du das durch nichts bele­gen und ver­siehst Dei­ne Behaup­tun­gen vor­sorg­lich mit einem Fra­ge­zei­chen. Den­noch ist das eine klas­si­sche Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung, die auf einer ver­kürz­ten Kapi­ta­lis­mus­kri­tik beruht, da sie die grund­sätz­li­che Sys­te­ma­tik und die gesell­schaft­li­chen Akteur:innen und Ver­net­zun­gen außer Acht lässt. War­um eine sol­che Kri­tik pro­ble­ma­tisch ist, hast Du selbst ja schon auf genug Podi­ums­dis­kus­sio­nen aus­ge­führt. Sie kann zu gefähr­li­chen Fehl­schlüs­sen à la "die da oben müs­sen ein­fach besei­tigt wer­den" füh­ren und leis­tet häu­fig struk­tu­rel­lem Anti­se­mi­tis­mus Vorschub.

Span­nend ist auch, dass Du wäh­rend dem gan­zen Gespräch davon redest, dass die Debat­te viel zu mora­li­sie­rend und wenig prag­ma­tisch geführt wür­de. Wenn es aber um die Phar­ma­un­ter­neh­men geht, sprichst Du von "den Schwei­nen, die an der gan­zen Schei­ße ver­die­nen". Dass kapi­ta­lis­ti­sche Unter­neh­men pro­fit­ori­en­tiert agie­ren, ist jetzt aber nicht die ganz gro­ße Neu­ig­keit. Dei­ne Kri­tik ist also genau das, was Du an ande­rer Stel­le bemän­gelst, näm­lich mora­li­sie­rend und ober­fläch­lich. Apro­pos: Ab wie vie­len Biontech-​Aktien zählt man eigent­lich zu "den Schwei­nen" und war­um ist Dei­ne per­sön­li­che Berei­che­rung – Du besitzt eini­ge Biontech-​Aktien – da noch nicht inbe­grif­fen? Weil Du sie "aus Spaß" gekauft hast oder das Geld anders aus­ge­ben wirst als ande­re? Die­se Argu­men­ta­ti­on ist nicht nur aus kapi­ta­lis­mus­kri­ti­scher Per­spek­ti­ve frag­wür­dig, sie ergibt auch rein logisch kei­nen Sinn. Ent­we­der ist es legi­tim, an Impf­stof­fen Geld zu ver­die­nen oder eben nicht. Aber es kann nicht bei den einen eine Tod­sün­de sein und bei den ande­ren ein fun­ny Freizeitspaß.

Der unan­ge­neh­me Höhe­punkt war für mich erreicht, als Du von Jane völ­lig zurecht vor­ge­wor­fen bekom­men hast, wie ein trot­zi­ges Kind zu agie­ren, und Du dar­auf ent­geg­net hast, dass dies ja eine "legi­ti­me Posi­ti­on" sei. Auch hier zeigt sich, dass die Moti­va­ti­on für Dein Ver­hal­ten nicht etwa aus einer prag­ma­ti­schen Ana­ly­se der Ver­hält­nis­se ent­springt. Statt­des­sen agierst Du undif­fe­ren­ziert und emo­tio­nal. Ein wei­te­res Bei­spiel dafür ist Dein Echauf­fie­ren dar­über, dass Impf­stof­fe aus Kuba oder Chi­na hier (noch) nicht zuge­las­sen sind. Impli­ziert wird hier­bei, dass eine Imp­fung für Dich durch­aus eine Alter­na­ti­ve wäre, wenn sich dies ändern wür­de. Es geht also nicht dar­um, ob der Stoff wirkt, son­dern wer ihn herstellt.

Einen Vor­wurf muss sich auch Lower­class­ja­ne gefal­len las­sen. Wie sie selbst zugibt, geht sie sehr unvor­be­rei­tet in das Gespräch. Obwohl sie häu­fig und rich­tig wider­spricht, gibt es auch zahl­rei­che Stel­len, an denen die­se drin­gend not­wen­di­ge Kri­tik aus­bleibt. Gera­de bei fal­schen Aus­sa­gen Dei­ner­seits bezüg­lich wis­sen­schaft­li­cher Befun­de geschieht das zu häu­fig. Dass die­ser Umgang mit fal­schen und pro­ble­ma­ti­schen Aus­sa­gen der schlech­tes­te ist, weiß man aller­spä­tes­tens, seit­dem die AfD in Talk­shows sitzt. Dar­aus ergibt sich die Fra­ge, war­um das Gespräch hoch­ge­la­den wur­de. Wenn ich mer­ke, dass ich zu vie­le Stel­len ver­pas­se, ich hier zu viel Raum in die fal­sche inhalt­li­che Rich­tung gebe, war­um ver­schie­be ich das Gan­ze nicht um ein paar Tage und berei­te mich noch mal vor? Mit Sicher­heit wärst Du, Staiger, auch noch ein zwei­tes Mal für ein Gespräch bereit gewesen.

Ins­ge­samt war die Dis­kus­si­on ein bis­he­ri­ger Tief­punkt im noch jun­gen neu­en Jahr. Da Du ansons­ten ein authen­ti­scher und kon­stan­ter Kämp­fer für die rich­ti­gen Din­ge bist, bleibt zu hof­fen, dass Du schnellst­mög­lich den Holz­weg erkennst, auf dem Du Dich befin­dest. Denn natür­lich bist Du trotz die­ser dum­men und unso­li­da­ri­schen Hal­tung kein rech­ter Quer­den­ker. Ich wün­sche Dir aber, dass Du Dei­ne Aus­sa­gen reflek­tie­ren und hin­ter­fra­gen kannst. Ich habe, wie vie­le ande­re auch, mir sehr wich­ti­ge und lie­be Men­schen an die­se Krank­heit ver­lo­ren. So etwas kann teil­wei­se ver­mie­den wer­den, wenn das gebo­te­ne Maß an Ver­nunft und Bewusst­sein ob der eige­nen Fähig­kei­ten bei­be­hal­ten wird. Eine Sache wird aller­dings blei­ben: Das Gespräch ist online und das Inter­net ver­gisst nicht. Ich bin mir sicher, wenn Du es Dir in eini­ger Zeit noch mal anhörst, ist das Gespräch mit Jens Spahn die längs­te Zeit auf Platz eins der für Dich unan­ge­neh­men Dis­kus­sio­nen gewe­sen. Ein Teil Dei­ner Aus­sa­gen in der aktu­el­len Wun­der­sa­men Rap­wo­che las­sen zumin­dest dar­auf schlie­ßen, dass Dir das so lang­sam dämmert.

(Simon Back)
(Gra­fik von Dani­el Fersch)