Es ist kalt, es ist grau, es gibt immer noch Corona. Die ideale Zeit also, um Tag für Tag bei unserem Adventskalender mitzufiebern. Wieder werfen wir einen Blick zurück auf die letzten 24 Jahre: Welche Meilensteine gab es? Welche Momente sorgten dafür, dass deutscher Rap einflussreicher wurde denn je? Weil uns Alben zu einfach sind (und wir sie schon hatten, siehe hier), haben wir uns dieses Jahr drangemacht und den jeweils einen Track gesucht, der die Szene über sein Erscheinungsjahr hinaus entscheidend geprägt hat. Jeden Tag stellen wir Euch somit – angefangen 1997 – einen Song vor, der entweder durch seinen Sound, seinen Inhalt oder seine Form unserem Lieblingsgenre seinen Stempel aufgedrückt hat.
2019: OG Keemo – 216
Ich wache auf und sehe keinen Gott, sondern Schwarze im Sarg.
Und wenn nicht, dann im Fadenkreuz von 'nem weißen Cop.
Nur ein Jahr nach Release ihrer "Skalp"-EP hauen OG Keemo und Funkvater Frank den nächsten Kracher raus: "Geist" – ein Album, das nicht nur wegen seiner ganz eigenen Ästhetik, kantigen Beats sowie brachialem Gun- und Klepto-Talk schon jetzt Kultstatus hat. Sondern auch, weil mit "216" eine der bewegendsten und packendsten Hymnen aller Zeiten ihren Platz auf dem Album gefunden hat – ein Meisterwerk.
Ein Meisterwerk, in dessen 48 wortgewaltigen Zeilen mehr Inhalt, Wut, Trauer und Wahrheit steckt als in den meisten musikalischen Releases der letzten Jahre. OG Keemo erzählt auf "216" die Geschichte des Schwarzen Mannes in einer weißen Welt, der sich im ewigen Kampf zwischen Anpassung und Abgrenzung, Akzeptanz und Ausgrenzung gefangen sieht. Dass dieser Kampf noch immer real ist, ist beschämend, aber für viele unserer Mitmenschen bittere Lebensrealität – seien es schiefe Blicke, ein verächtliches Schnauben oder direkte Anfeindungen. Die Tatsache, dass Rassismus viel zu oft ignoriert, geduldet und sogar akzeptiert wird, gleicht einer Kapitulation der weißen Mehrheitsgesellschaft vor ihren (ach so heiligen) christlichen Werten. Logisch, dass sich Keemo gezwungen sieht, den inneren Malcolm X der Bevölkerung zu befeuern. Denn wozu gewaltfreier Protest führt, mussten Martin Luther King und Nelson Mandela schmerzhaft erfahren: "Schwarze Früchte hängen (immer noch) von Ahornbäumen". Während sich die Welt rasend verändert, bleibt Rassismus die traurige Konstante. Es ist an uns, zu verhindern, dass sich solche und andere Geschichten wiederholen.
"216" ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt auf einem langen Weg Richtung Gleichberechtigung und Toleranz anstelle von Rassismus und Ignoranz. Oder wie Ulysse, der ständig mit der Problematik konfrontiert wird, es ausdrückt: "Dafür, dass Schwarze nicht von Anfang an dumm angeguckt und gefragt werden, ob sie deutsch oder der Sprache mächtig sind. […] Und allgemein dafür, dass Ausländer nicht das Doppelte machen müssen, um das Gleiche zu erreichen wie der Karl-Heinz." – "Und wer das nicht rafft, verschwendet unnötig Platz" – OG Keemo.
(Jonas Jansen)
(Grafik von Daniel Fersch)