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Reportage

Suicidal Thoughts – wenn Rapper depressiv werden

Depres­sio­nen haben das Show-​Geschäft schon seit ewi­gen Zei­ten im Griff. Die HipHop-​Szene bil­det dabei kei­ne Aus­nah­me. Wie mit der The­ma­tik umge­gan­gen wird und wie Hip­Hop sogar dabei hel­fen kann, die Krank­heit zu bekämp­fen, erfahrt Ihr hier.

Trig­ger­war­nung: Die­ser Arti­kel beschäf­tigt sich mit psy­chi­schen Krank­hei­ten, Depres­sio­nen und Sui­zid. Bei Men­schen, die per­sön­lich von die­sen The­men betrof­fen sind, könn­te das Lesen nega­ti­ve Gedan­ken und Gefüh­le aus­lö­sen. Soll­tet Ihr unter Pro­ble­men die­ser Art lei­den, dann infor­miert Euch über Hilfs­an­ge­bo­te und nehmt die­se gege­be­nen­falls in Anspruch.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen und Hin­wei­se zu Anlauf­stel­len könnt Ihr beim Info-​Telefon der Deut­schen Depres­si­ons­hil­fe unter 0800 3344533 oder www​.deut​sche​-depres​si​ons​hil​fe​.de erhalten.

 

Psy­chi­sche Krank­hei­ten haben das Show­ge­schäft schon seit ewi­gen Zei­ten im Griff: Ob emo­tio­na­le Inter­views mit Brit­ney Spears, Klinik-​Aufenthalte von Cathe­ri­ne Zeta-​Jones oder der Selbst­mord von Kurt Cobain – sie schei­nen all­ge­gen­wär­tig zu sein. Die HipHop-​Szene bil­det dabei natür­lich kei­ne Aus­nah­me. Auch hier haben Artists immer wie­der mit teils schwe­ren psy­chi­schen Pro­ble­men zu kämp­fen. Lei­der wer­den die­se meist erst publik, wenn sich etwas Gro­ßes und Dra­ma­ti­sches ereig­net, wie zum Bei­spiel die jüngs­ten ver­stö­ren­den Auf­trit­te des offen­sicht­lich ver­wirr­ten Kanye West. Die­se sind aber nur die Spit­ze des Eis­bergs. So riss sich R 'n' B-​Sänger Hous­ton Sum­mers nach einem ver­ei­tel­ten Sui­zid­ver­such selbst das lin­ke Auge her­aus und Pro Era-​Member Capi­tal STEEZ stürz­te sich mit gera­de mal 19 Jah­ren vom Dach des Head­quar­ters sei­nes Labels. Abseits die­ser äußerst tra­gi­schen Ereig­nis­se wer­den see­li­sche Erkran­kun­gen im Rap lei­der sel­ten ernst­haft the­ma­ti­siert. Psy­cho­sen, bipo­la­re Stö­run­gen oder Schi­zo­phre­nie – die Lis­te der auf­tre­ten­den Krank­hei­ten ist lang. Eine sticht dabei beson­ders her­aus: die Depres­si­on. Sie tritt am häu­figs­ten auf und ist unter Pro­mi­nen­ten weit ver­brei­tet. Und den­noch wird die­ses see­li­sche Lei­den in den sel­tens­ten Fäl­len klar the­ma­ti­siert, weder in Songs noch in Inter­views. Auch wenn Noto­rious B.I.G. schon 1996 von sei­nen "Sui­ci­dal Thoughts" rapp­te, scheint das The­ma in gro­ßen Tei­len der HipHop-​Szene bis heu­te ein Tabu zu sein. Glück­li­cher­wei­se gibt es aber auch Rap­per, die es schaf­fen, öffent­lich über die Krank­heit zu spre­chen. Beson­ders in den letz­ten Jah­ren wur­de das Stig­ma immer wie­der etwas auf­ge­bro­chen. Einer der bekann­tes­ten Vor­rei­ter ist Kid Cudi. Im Jahr 2016 ver­öf­fent­lich­te er einen Post, in dem er ver­kün­de­te, dass er sich in eine psych­ia­tri­sche Kli­nik ein­wei­sen ließ. Die Reak­tio­nen dar­auf reich­ten weit und auch ande­re Rap­per wie Isai­ah Ras­had, Kendrick Lamar, Dan­ny Brown oder Future folg­ten Cudis Bei­spiel und spra­chen öffent­lich über ihre Pro­ble­me. Des Wei­te­ren scheint eben das den jün­ge­ren SoundCloud- und Emo-​Rappern der "Gene­ra­ti­on Y" leich­ter­zu­fal­len. Juice WRLD, Lil Peep und XXXT­ent­a­ci­on sind dabei die wohl bekann­tes­ten und tra­gischs­ten Exempel.

Allein die Anzahl an Namen aus der inter­na­tio­na­len HipHop-​Szene, die im Zusam­men­hang mit Depres­sio­nen fal­len, zeigt, wie weit­ver­brei­tet das ver­meint­li­che Tabu­the­ma doch ist. Wer­fen wir also einen Blick dar­auf, wie mit der The­ma­tik umge­gan­gen wird und wel­cher Zusam­men­hang zwi­schen Künst­ler, Kunst und Depres­sio­nen besteht.

 

Was ist eigent­lich eine Depression?

Als Depres­si­on bezeich­net man eine psy­chi­sche Krank­heit, die sich haupt­säch­lich in Nie­der­ge­schla­gen­heit, inne­rer Lee­re, Inter­es­sens­ver­lust und Antriebs­man­gel zeigt. Wei­te­re Sym­pto­me kön­nen unter ande­rem Kon­zen­tra­ti­ons­stö­run­gen, Minderwertigkeits- und Schuld­ge­füh­le oder Schlaf­stö­run­gen sein. All die­se Erschei­nun­gen tre­ten natür­lich auch bei gesun­den Men­schen auf – vor allem in Fol­ge von per­sön­li­chen Rück­schlä­gen oder Ver­lust­er­fah­run­gen. Aller­dings ver­schwin­den die­se bei Betrof­fe­nen nicht mit der Zeit und schrän­ken die Lebens­qua­li­tät erheb­lich ein. Die Aus­lö­ser sind viel­fäl­tig: Sie rei­chen von trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen bis hin zu phy­si­schen Krank­hei­ten. Wich­tig ist anzu­mer­ken, dass es ver­schie­de­ne For­men der Depres­si­on gibt, die sich bei jedem Men­schen indi­vi­du­ell aus­drü­cken kön­nen. So zum Bei­spiel die bipo­la­re Stö­rung, bei der sich depres­si­ve Pha­sen mit soge­nann­ten mani­schen Pha­sen abwech­seln. In die­sen mani­schen Pha­sen haben Betrof­fe­ne eine über­stei­ger­te Moti­va­ti­on und Selbst­si­cher­heit. Im Krank­heits­ver­lauf wech­seln sich dann bei­de Extre­me ab, meist mit schwe­ren Aus­wir­kun­gen auf das Berufs- und Privatleben.

Depres­sio­nen gel­ten laut der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on als die zweit­häu­figs­te Volks­krank­heit. Durch­schnitt­lich 8,3 % der deut­schen Bevöl­ke­rung erle­ben jedes Jahr eine depres­si­ve Epi­so­de. Ins­be­son­ders jun­ge Men­schen schei­nen betrof­fen zu sein: So haben cir­ca 20 % der Ange­hö­ri­gen der "Gene­ra­ti­on Y" schon ein­mal mit Depres­sio­nen zu kämp­fen gehabt. Laut ver­schie­de­nen Stu­di­en gehen bei bis zu 70 % aller Selbst­mor­de schwe­re depres­si­ve Sym­pto­me vor­aus. Im Jahr 2015 ver­lo­ren in Deutsch­land mehr Men­schen ihr Leben durch Sui­zid als durch Ver­kehrs­un­fäl­le, Dro­gen und HIV zusam­men. Doch trotz die­ser erschüt­tern­den Zah­len schei­nen psy­chi­sche Krank­hei­ten noch immer ein Tabu­the­ma zu sein. Häu­fig haben Erkrank­te Angst, über ihre Lei­den zu spre­chen. Sie fürch­ten sich davor, als schwach, unzu­rech­nungs­fä­hig oder gar ver­rückt abge­stem­pelt zu wer­den. Sehr tref­fend wird das Gefühl einer auf­kom­men­den Depres­si­on im Out­ro des Songs "Es reg­net" von Tua beschrieben:

"Am Anfang merkt man noch nicht viel davon. Man hat eines Tages kei­ne Lust mehr, irgend­et­was zu tun. Nichts inter­es­siert einen, man ödet sich. Aber die­se Unlust ver­schwin­det nicht wie­der, son­dern sie bleibt. Sie wird schlim­mer, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer miss­mu­ti­ger, immer lee­rer im Innern, immer unzu­frie­de­ner mit sich und der Welt. Die gan­ze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt kei­nen Zorn mehr und kei­ne Begeis­te­rung. Man kann sich nicht mehr freu­en und nicht mehr trau­ern, man ver­lernt das Lachen und das Wei­nen. Dann ist es kalt gewor­den in einem und man kann nichts und nie­man­den mehr lieb haben. Dann hört nach und nach sogar die­ses Gefühl auf und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleich­gül­tig und grau."

 

Wel­chen Ein­fluss nimmt die Krank­heit auf Künst­ler und Kunst?

Depres­sio­nen neh­men auf jeden Lebens­be­reich Ein­fluss. Des­halb ist es nicht wei­ter ver­wun­der­lich, dass die­se sich auch in den Wer­ken betrof­fe­ner Künst­ler nie­der­schla­gen. Sieht man sich bei­spiels­wei­se den Wer­de­gang von Mac Mil­ler an, so wird rela­tiv schnell ein dras­ti­scher Wan­del vom immer grin­sen­den Highschool-​Rapper zum inner­lich zer­ris­se­nen Melan­cho­li­ker deut­lich. Zu Beginn sei­ner Kar­rie­re rapp­te er auf dem Mix­tape "K.I.D.S." im Jahr 2010 noch unbe­schwert über "Kool Aid & Fro­zen Piz­za". Auch der Titel des Nach­fol­gers "Best Day Ever" sprach ein Jahr spä­ter für sich, eben­so wie der des Mix­tapes "I Love Life, Thank You", wel­ches eben­falls 2011 erschien. Bis zu sei­nem Debüt-​Album "Blue Slide Park" im sel­ben Jahr stand Mac Mil­ler für einen leich­ten, auf­hei­tern­den Sound, der sowohl zum Ent­span­nen als auch zum Par­ty­ma­chen ein­lädt, jedoch sel­ten nach­denk­lich oder gar trau­rig wirk­te. Das änder­te sich mit dem Mix­tape "Maca­de­lic" aus dem Jahr 2012. Zwar klingt Mac hier här­ter, aller­dings scheint er auch gedank­lich ver­sun­ken. Auf der Sin­gle "Thoughts from a Bal­c­o­ny" beschäf­tigt er sich mit dem Druck, der durch den plötz­li­chen Erfolg auf ihm las­tet. Ein Pro­blem, das ihn bis ans Ende sei­nes Lebens ver­fol­gen soll­te. Er rapp­te: "I could talk my pain, but would it hurt too much – go 'head, judge me" und gab damit zum ers­ten Mal wirk­lich Ein­blick in die nega­ti­ven Berei­che sei­nes Inne­ren. Die­se Ent­wick­lung zog sich auch durch sei­ne fol­gen­den Releases. 2014 rapp­te er auf dem Track "Hap­py Bir­th­day" vom Mix­tape "Faces": "There's a bir­th­day par­ty hap­pe­ning ups­tairs – and it's all for me, who the fuck cares? They don't noti­ce if I never go and show my face – they just loo­king for a reason they can cele­bra­te." Dar­über hin­aus erwähn­te er in sei­nen Tex­ten neben Can­na­bis immer häu­fi­ger har­te Dro­gen, wel­che in sei­nem Pri­vat­le­ben nun eine grö­ße­re Rol­le ein­nah­men. Beson­ders an Opio­iden wie Code­in schien er Gefal­len gefun­den zu haben. Als er im Jahr 2016 eine Bezie­hung mit Aria­na Gran­de ein­ging, schien Mac Mil­ler end­lich glück­lich und zufrie­den auf dem Weg der Bes­se­rung. Das Release aus die­sem Jahr, "The Divi­ne Femi­ni­ne", ist sound­tech­nisch und inhalt­lich um eini­ges fröh­li­cher als sein Vor­gän­ger "Wat­ching Movies With The Sound Off". Aller­dings ver­such­te Mac, sei­ne inne­ren Qua­len nach wie vor mit Dro­gen zu betäu­ben. Weil sie nicht mehr mit den Sucht­pro­ble­men ihres Part­ners umge­hen konn­te, trenn­te sich Aria­na Gran­de im Jahr 2018 von ihm. Dar­auf­hin fiel Mac Mil­ler in ein tie­fes Loch. Auf sei­nem letz­ten Album "Swim­ming" ver­ar­bei­te­te er auf Songs wie "Self Care" oder "Hurt Fee­lings" sei­ne Emo­tio­nen. Im letz­ten Inter­view vor sei­nem Tod sag­te er: "I real­ly wouldn't want just hap­pi­ness. And I don't want just sad­ness eit­her. I don't want to be depres­sed. I want to be able to have good days and bad days." Zwar war sein Tod eine ver­se­hent­li­che Über­do­sis und kein Sui­zid, aller­dings kann über­mä­ßi­ger Dro­gen­kon­sum, den Mac Mil­ler offen­sicht­lich hat­te, eben­falls ein Hin­weis auf eine Depres­si­on sein. Denn häu­fig ver­su­chen Betrof­fe­ne, die nega­ti­ven Emo­tio­nen, wel­che sie nicht bewäl­ti­gen kön­nen, schlicht­weg zu betäu­ben oder zu überspielen.

Mac Mil­ler - Thoughts From A Balcony

 

War­um ist es gera­de für Rap­per so schwer, über Depres­sio­nen zu sprechen?

Auch wenn sich die ein­gangs erwähn­ten Künst­ler zu ihrer Krank­heit äußer­ten, blei­ben Depres­sio­nen ein rotes Tuch in der HipHop-​Szene, in der sich vie­le Inter­pre­ten über Stär­ke und Mas­ku­li­ni­tät defi­nie­ren. So stellt es ein gro­ßes Pro­blem dar, sich ver­letz­lich zu zei­gen  – man wür­de sich zu angreif­bar für Dis­ses und hämi­sche Kom­men­ta­re der Rap­kol­le­gen machen. Des Wei­te­ren ist Hip­Hop ein von Män­nern domi­nier­tes Gen­re und gera­de die schei­nen oft Schwie­rig­kei­ten damit zu haben, über ihre Pro­ble­me zu spre­chen. Frau­en lei­den zwar sta­tis­tisch gese­hen dop­pelt so häu­fig an Depres­sio­nen, aller­dings bege­hen Män­ner drei­mal so oft Sui­zid als Frau­en. Das weist dar­auf hin, dass Män­ner sich sel­te­ner pro­fes­sio­nel­le Hil­fe suchen und damit die Dun­kel­zif­fer von Erkrank­ten um eini­ges höher liegt. Depres­sio­nen pas­sen ein­fach nicht in das in der Sze­ne vor­herr­schen­de Bild des "star­ken Man­nes" und wer­den des­halb oft weg­ge­schwie­gen oder sogar als Angriffs­flä­che wahr­ge­nom­men. Von KC Rebell über Laas Unltd. bis hin zu Fler haben unzäh­li­ge Rap­per eine mut­maß­li­che Krank­heit ihres Battle-​Gegners gegen die­sen benutzt. Allein dass eine schlech­te psy­chi­sche Ver­fas­sung genügt, um dif­fa­miert zu wer­den, zeigt, war­um sich so vie­le Künst­ler davor scheu­en, ihre Pro­ble­me in die Öffent­lich­keit zu tragen.

 

Könn­te Hip­Hop sogar dabei hel­fen, Depres­sio­nen zu bekämpfen?

Den­noch schaf­fen es man­che Rap­per, über die Krank­heit zu spre­chen und set­zen sogar ein Zei­chen gegen sie. So releas­te der US-​Rapper Logic zusam­men mit Kha­lid und Ales­sia Cara den Song "1-​800-​273-​8255", benannt nach der ame­ri­ka­ni­schen Suizid-​Präventionshotline. Die Multi-​Platin-​Single ist aus der Per­spek­ti­ve eines Anru­fers bei eben­die­ser geschrie­ben. Nach­dem Logic bei dem VMAs per­form­te, stieg die Zahl der Anru­fer um 50 %. Auch Joy­ner Lucas behan­del­te das The­ma, indem er auf "I'm Sor­ry" sowohl aus der Per­spek­ti­ve eines Betrof­fe­nen als auch eines Ange­hö­ri­gen rappt. Dabei ver­deut­licht er die Macht­lo­sig­keit, die oft auf bei­den Sei­ten herrscht.

Zwar sind vie­le Songs die­ser Art aus einem fik­ti­ven Stand­punkt ent­stan­den, den­noch kön­nen sie ein Signal für Men­schen mit Depres­sio­nen sein. Sie kön­nen zei­gen, dass man mit sei­ner Krank­heit nicht allei­ne ist und Trost spen­den. Doch gera­de die Beschrei­bung des eige­nen Sui­zids ist umstrit­ten, denn das Kon­su­mie­ren sol­cher Wer­ke kann Men­schen, die ohne­hin in einer pre­kä­ren Situa­ti­on sind, zusätz­lich trig­gern. Es kann so wir­ken, als ob der jewei­li­ge Act die The­ma­tik beschö­nigt oder roman­ti­siert. Aus die­sem Grund geriet auch Ufo361 vor eini­ger Zeit in die Kri­tik: In der letz­ten Video­aus­kopp­lung zu sei­nem Album "Nur für dich" nimmt er sich am Ende des Clips das Leben. In einem State­ment ver­such­te er, den künst­le­ri­schen Aspekt zu erklä­ren und rief sei­ne Fans dazu auf, sich Hil­fe zu suchen, falls sie unter Depres­sio­nen lei­den: "Falls ihr sol­che Gedan­ken habt, sowas machen zu wol­len oder falls ihr über­haupt dar­an denkt, dann holt euch auf jeden Fall pro­fes­sio­nel­le Hil­fe […], weil jedes Leben ist wert­voll, das Leben ist wert­voll."

 

Was sagt die For­schung dazu?

Hip­Hop ist laut "Text­B­lob", einer Texterkennungs-​Software, sogar das Gen­re, das Depres­sio­nen am häu­figs­ten in Lyrics auf­greift. Ver­ständ­lich, wenn man bedenkt, dass kein ande­res Gen­re sei­nen Artists so sehr abver­langt, für sich als Per­son zu ste­hen. Dar­über hin­aus kann Hip­Hop mög­li­cher­wei­se psy­chi­sche Pro­ble­me und damit ein­her­ge­hen­des Fehl­ver­hal­ten sogar redu­zie­ren, beson­ders bei schwer erzieh­ba­ren Jugend­li­chen. Bereits 1996 ent­warf Dr. Edgar Tyson das Kon­zept der "Hip Hop The­ra­py", wel­che klas­si­sche The­ra­pie­an­sät­ze wie Ausdrucks-, Musik- und Gesprächs­the­ra­pie mit der HipHop-​Kultur ver­bin­det. Bei­spiels­wei­se wer­den in den The­ra­pie­sit­zun­gen Rap­tracks gehört und im Anschluss inhalt­lich dis­ku­tiert, sodass Pati­en­ten ihre Pro­ble­me und Kon­flik­te auf eine neue Wei­se reflek­tie­ren kön­nen. Außer­dem sol­len die posi­ti­ven Selbst­bil­der, die Rap­per trans­por­tie­ren, auf die Pati­en­ten über­tra­gen wer­den und somit den Auf­bau eines grö­ße­ren Selbst­wert­ge­fühls unter­stüt­zen. Tyson nimmt an, dass Hip­Hop als immer grö­ßer wer­den­de Jugend­kul­tur den Zugang zu Jugend­li­chen erleich­tert. Im Jahr 2002 ver­öf­fent­lich­te er die Stu­die "Hip Hop The­ra­py: An Explo­ra­to­ry Stu­dy of a Rap Music Inter­ven­ti­on with At-​Risk and Delin­quent Youth", um sei­ne Hypo­the­se zu bewei­sen. In sei­nem Resü­mee schrieb er: "The results of this stu­dy appear to indi­ca­te that Hip Hop The­ra­py might be a via­ble tool to assist prac­ti­tio­ners working with at-​risk and delin­quent youth." Auf Basis sei­ner Arbeit rich­te­te einer von Tysons Schü­lern, der Sozi­al­ar­bei­ter J.C. Hall, ein "Second Chance"-Programm für schwer erzieh­ba­re Jugend­li­che an der Mott Haven-​Highschool in der Bronx ein. In die­sem Rah­men erschien auch der preis­ge­krön­te Doku­men­tar­film "Mott Haven: A Short Docu­men­ta­ry", der sich mit dem Pro­jekt beschäf­tigt. In dem Film ver­ar­bei­ten meh­re­re Jugend­li­che durch Rap­mu­sik den Mord an einem ihrer Klassenkameraden.

Die Neu­ro­wis­sen­schaft­ler Dr. Arkeem Sule und Dr. Becky Inks­ter von der Uni­ver­si­ty of Cam­bridge geben in eini­gen ihrer Publi­ka­tio­nen an, dass die Auf­stiegs­ge­schich­ten in Rap­songs die Hörer moti­vie­ren, sich aus ihrer pre­kä­ren Lage zu befrei­en oder sich zumin­dest Hil­fe zu suchen. Sie for­schen unter dem Namen "Hip Hop Psych" an Mög­lich­kei­ten, Rap­mu­sik in The­ra­pien zu inte­grie­ren und ver­öf­fent­li­chen regel­mä­ßig Arti­kel in der Fach­pres­se. Laut den For­schern ist Hip­Hop als Gen­re per­fekt zu The­ra­pie­zwe­cken geeig­net. Denn schlech­te sozia­le Ver­hält­nis­se sowie eine schwe­re Kind­heit begüns­ti­gen die Ent­wick­lung von Depres­sio­nen, wes­halb sich Betrof­fe­ne häu­fig von den Prot­ago­nis­ten der Rap­welt ver­stan­den füh­len. Inks­ter sagt dazu: "Many key rap­pers and hip-​hop artists come from depri­ved urban are­as which are often hot­beds for pro­blems such as drug abu­se, dome­stic vio­lence and pover­ty, which are in turn lin­ked to increased occur­ren­ces of psych­ia­tric ill­nesses." Außer­dem wird ange­führt, dass sich das Schrei­ben und Vor­tra­gen eige­ner Tex­te posi­tiv auf die Psy­che aus­wirkt, da trau­ma­ti­sche Erleb­nis­se ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen und die Selbst­ent­fal­tung geför­dert wird. Ein posi­ti­ver Effekt wird durch eine Stu­die des Natio­nal Insti­tu­te on Deaf­ness and Other Com­mu­ni­ca­ti­on Dis­or­ders bestä­tigt. Expe­ri­men­te mit ver­schie­de­nen Rap­pern erge­ben, dass wäh­rend einer Per­for­mance die Berei­che im Gehirn beson­ders ange­spro­chen wer­den, die für Emo­tio­nen, Spra­che und Moti­va­ti­on ver­ant­wort­lich sind. Laut den For­schern gerät der Artist in einen "alter­na­ti­ven Geis­tes­zu­stand", wel­cher ihn aus nega­ti­ven Gedan­ken­strö­men befreit. Es exis­tiert sogar ein "Hip Hop The­ra­py Glo­bal Insti­tu­te", wel­ches Hip­Hop als Bestand­teil von The­ra­pien anwen­det und erforscht. Mitt­ler­wei­le sind cir­ca 30 Dok­to­ren und Pro­fes­so­ren dar­an betei­ligt. Somit erhält der Begriff "Rap als The­ra­pie" eine ganz neue Bedeutung.

Hip-​Hop and Spo­ken Word The­ra­py: Ian Levy at TEDxTeachersCollege

 

Wie wird wei­ter­hin in der HipHop-​Szene mit Depres­sio­nen umgegangen?

Tat­säch­lich fin­det in den letz­ten Jah­ren ein Wan­del statt. Laut einer Stu­die des ame­ri­ka­ni­schen Mar­ke­ting­un­ter­neh­mens "Take 5" fin­den men­ta­le Pro­ble­me im Jahr 1958 in 24 von 100 US-​Songs Erwäh­nung, im Jahr 2017 sind es bereits 71 von 100. Dies wird unter ande­rem SoundCloud- und Emo-​Rap zuge­schrie­ben. Immer mehr Prot­ago­nis­ten aus der HipHop-​Szene set­zen sich zudem dafür ein, grö­ße­re Auf­merk­sam­keit auf psy­chi­sche Pro­ble­me zu len­ken. Gan­ze For­ma­te wer­den dem The­ma gewid­met, wie zum Bei­spiel die Fern­seh­show "The The­ra­pist", in der Pro­mi­nen­te von einem Psy­cho­lo­gen inter­viewt wer­den. So haben sich unter ande­rem schon Fred­die Gibbs, Joe Bud­den und Chief Keef auf die tief­grün­di­gen Gesprä­che ein­ge­las­sen und Ein­bli­cke in ihr See­len­le­ben gege­ben. Natür­lich exis­tie­ren in Deutsch­land eben­falls For­ma­te, die Men­tal Health the­ma­ti­sie­ren. Deutschrap-​Urgestein Cur­se spricht in sei­ner Rol­le als Life­coach häu­fig über Depres­sio­nen und gibt Tipps, um die­se bes­ser zu bewäl­ti­gen. Miri­am Davoud­van­di, die selbst schon Erfah­run­gen mit Depres­sio­nen sam­meln muss­te, tauscht sich in ihrem Pod­cast "Dan­ke, Gut" mit ihren Gäs­ten über men­ta­le Gesund­heit aus. Auf­klä­rungs­ar­beit leis­tet auch Helen Fares, die selbst Psy­cho­lo­gie stu­diert hat, mit ihrer Rei­he "Was macht die Psy­che … ?", in der sie in jeder Fol­ge ein ande­res The­ma aus psy­cho­lo­gi­scher Sicht erklärt – unter ande­rem auch Depressionen.

Dass die­se Auf­klä­rungs­ar­beit lang­sam Früch­te trägt, zeigt bei­spiels­wei­se der Umstand, dass Everybody's Dar­ling Dra­ke nach sei­ner Line "You stay xann'd and perk'd up – so when rea­li­ty set in, you don't got­ta face it" gegen den sich zu die­sem Zeit­punkt in The­ra­pie befind­li­chen Kid Cudi einen regel­rech­ten Shit­s­torm ern­te­te. Denn erst wenn mehr Men­schen wis­sen, was eine Depres­si­on über­haupt ist – näm­lich kein Man­gel an Moti­va­ti­on, Mut oder Männ­lich­keit, son­dern eine Krank­heit, an der Betrof­fe­ne selbst kei­ne Schuld tra­gen – ent­steht ein Safe-​Space, in dem der­ar­ti­ge Pro­ble­me bespro­chen und ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen, vor allem aber nicht mehr als Angriffs­flä­che ange­se­hen wer­den. Somit bleibt zu hof­fen, dass sich die­se Ent­wick­lung fort­setzt und das Stig­ma, das psy­chi­sche Krank­hei­ten umgibt, end­lich voll­ends auf­ge­bro­chen wird.

(Nico Maturo)
(Titel­bild von Pest Graffiti)