"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Die Art, wie Vega die Dinge durch seine Wortwahl auf den Punkt bringt, fasziniert mich, seit ich zum ersten Mal einen Song von ihm gehört habe. Nachdem mich seine Alben "Vincent" und "Nero" schon überzeugen konnten, habe ich "Kaos" erwartet wie kein Release jemals zuvor. Im Januar 2015 war es dann endlich so weit.
Der Name der Platte ist Programm. Auf dem titelgebenden Intro wird klar, dass nicht lange gefackelt wird – und in ähnlichem Tempo wird auf den nächsten zwei Tracks weitergemacht. Die Gefühlsachterbahn beginnt für mich dann aber auf dem vierten Song "Sag jetzt nichts". Auf diesem befindet sich eine meiner Lieblingszeilen: "Denn sie hören, was ich sage, doch sie sprechen meine Sprache nicht." Genau so unverstanden fühle ich mich auch oft, doch spätestens hier zeigt mir Vega, dass zumindest wir dieselbe Sprache sprechen. Anschließend holt er mich mit dem gut gelaunten "Hip-Hop & Rap" ab, wirft mich mit "Ich will raus mit dir" wieder in die Melancholie von zuvor zurück, nur um mich dann zusammen mit Azad auf dem Battletrack "P-99" in eine düstere Stimmung zu versetzen. Beim Hören von "Mundtot" – hier sind aggressive Lines mit tiefgründiger Selbstreflexion gepaart – weiß ich nicht mehr, wie ich mich fühlen soll. Als dann der letzte Song "Kosmos" ausklingt, bin ich völlig am Ende. Ich habe in den letzten 40 Minuten wahrscheinlich alles gefühlt, was ein Mensch fühlen kann. Die letzten Klaviertöne spielen, doch es hört nicht auf. Das Instrumental geht fließend in den ersten Song über und ich höre mir das Album ein zweites Mal an. Und ein drittes Mal. Und so weiter.
Auch über vier Jahre später gibt mir "Kaos" noch dasselbe wie am ersten Tag. Kaum ein anderes Album nimmt mich emotional so mit und kein anderes aus dieser Kategorie regt mich dazu an, es mir trotzdem immer und immer wieder im Loop zu geben. Genau aus diesem Grund ist Vegas viertes Soloalbum bis heute meine Lieblingsplatte und landet in meiner Plattenkiste jedes Mal wieder ganz oben.
(Michael Collins)