Um 2015 herum tauchen auf YouTube plötzlich stundenlange Playlists, Mixes und Livestreams mit Titeln wie "Lo-Fi-Beats to study" oder "Lo-Fi-HipHop to relax" auf. Neben den ähnlichen Namen existieren noch weitere Schnittpunkte: Sie alle bieten Instrumentals mit dem Kratzen von Vinyl-Platten, leiernden Samples und staubtrockenen Drums. Das Ganze wird optisch von einem kurzen Loop im Anime-Stil untermalt. Der Klang dieser Playlists erinnert schon fast an Fahrstuhlmusik und kann als "Ambient Music" oder "Easy Listening" bezeichnet werden. In diesen Instrumental-Tracks geht es weniger um einprägsame Melodien, sondern vielmehr um Ästhetik und das vermittelte, entspannte Gefühl. Ihre Anhängerschaft ist mittlerweile unglaublich groß. So hat der YouTube-Kanal "ChilledCow" etwa 3,2 Millionen Abonnenten. Dem Kanal des niederländischen Labels "Chillhop Music", das sich auf ebenjene knisternden Produktionen spezialisiert hat, folgen mittlerweile 2,3 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Das sind in etwa so viele Abonnenten wie auf den YouTube-Präsenzen der deutschen Rap-Labels "Selfmade Records" und "Alles Oder Nix" zusammen.
Doch was ist eigentlich Lo-Fi-HipHop?
Das Subgenre, aus dem sich diese Playlists entwickelt haben, nennt sich Lo-Fi-HipHop. Lo-Fi steht für Low Fidelity, was bedeutet, dass die Produktionen dieser Instrumentals möglichst simpel und häufig auch retro gehalten werden – oder zumindest so klingen sollen. Eben eine "niedrige Wiedergabetreue" aufweisen, wie es bei alten Tonträgern der Fall ist. So wird oft noch traditionell direkt von der Platte und manchmal sogar vom Tape gesampelt. Die verwendeten Songschnipsel stammen häufig aus Klavier- und Jazzstücken. Jedoch lässt man der Kreativität hier freien Lauf. Zum Sampeln nutzt man hauptsächlich Hardware älteren Datums, wie zum Beispiel die Akai MPC 2000 aus den späten 90er Jahren. Doch vor allem der Sampler Roland SP-404, der neben einem speziellen Lo-Fi-Sampling-Modus und einer Vinyl-Emulation zahlreiche weitere Effekte bietet, ist in der Szene extrem beliebt. Dies liegt jedoch nicht nur an den Möglichkeiten, die das Gerät des japanischen Herstellers bietet, sondern vor allem an der Geschichte der Baureihe. Der legendäre Beatmaker Jay Dee alias J Dilla produzierte sein Album "Donuts" fast vollständig auf einem Boss Dr. Sample SP-303. Dieser ist der direkte Vorgänger des Roland SP-404 und war schon damals für seinen einzigartigen Klang bekannt. "Donuts" erschien am 7. Februar 2006, dem 32. Geburtstag des Produzenten aus Detroit. J Dilla gilt mit seinem leichten und entspannten Sound als der Wegbereiter für Lo-Fi-HipHop schlechthin. Darüber hinaus hielt er sein Equipment ebenfalls stets simpel und brachte seine Musik teilweise weder gemixt noch gemastert heraus, um den rohen Sound zu erhalten.
You can do it yourself
Heutzutage ist ebenjener rohe Sound das Markenzeichen von Lo-Fi-HipHop. Jedoch werden in der heutigen Zeit seltener Sampler und Platten als Computer und DAWs – das gängige Akronym für Digital Audio Workstation – wie Ableton Live oder FL Studio benutzt. Auf dem Markt gibt es für diese Programme unzählige Plug-ins, die darauf ausgelegt sind, digitalen Samples einen analogen und nostalgischen Sound zu verleihen. So kann einem Sample in hoher Soundqualität der warme Klang einer Schallplatte gegeben werden. Einige namhafte Audiosoftware-Entwickler haben bereits solche Vinyl-Emulationen auf den Markt gebracht. Die Firmen iZotope und Waves Audio bieten zum Beispiel jeweils Vinyl-Plug-ins an, bei denen sogar das Alter und der Gebrauchszustand der simulierten Platte bestimmt werden kann. Manchmal wird jedoch einfach plump das Rauschen einer Platte als Tonspur eingefügt. Aber auch das Leiern und der Klang eines alten Tonbands können ohne weiteres am Computer nachgestellt werden. Dies geschieht häufig mit Plug-ins wie "Unstable" von DLM oder "Tape" von Softtube. Durch die Veränderung der Sättigung und das Modifizieren einzelner Töne kann beispielsweise das unregelmäßige Klangbild eines in die Jahre gekommenen Tonbandgeräts imitiert werden. Auch die Drums, die unter den Samples liegen, werden speziell bearbeitet. Fast immer wird dazu ein Bitcrusher genutzt, der die Auflösung der Audiodatei heruntersetzt und dabei eine Art Verzerrung erzeugt. Dadurch schafft man einen Sound, der als "crispy" bezeichnet wird. Darüber hinaus wird beim Setzen der Drums nicht sonderlich auf Genauigkeit geachtet. Im Gegensatz zu modernen Produktionen, bei denen häufig digitale Step Sequencer genutzt werden, auf denen die Drum-Samples mit chirurgischer Präzision in den Beat eingefügt werden, zählt auch hier wieder der Nostalgie-Gedanke. Um einen bestimmten Groove zu kreieren, wird häufig auf das klassische "Finger Drumming" zurückgegriffen. Dabei wird das Schlagzeug über die Pads verschiedener Hardware von Hand eingespielt. Sollte keine passende Hardware verfügbar sein, kann man auch bei einem digitalen Step Sequencer durch sogenanntes "Time Shifting" oder eine "Swing"-Funktion ähnliche Effekte erzielen. Dabei wird der Anschlagspunkt des Drumsamples zeitlich verschoben, wodurch man einen Rhythmus schafft, der eher organisch und weniger berechnet klingt. Gerade dadurch, dass Lo-Fi-HipHop auch auf solch einfachen Wegen geschaffen werden kann, herrscht in der Szene eine starke DIY-Mentalität. Quasi jeder, der einen Computer und die nötige Software zu Hause hat, kann mitmachen und selbst ein Artist werden. Diese Beats werden dann über YouTube, Reddit, SoundCloud oder Instagram miteinander geteilt. Sofern sie den Ansprüchen des jeweiligen Betreibers genügen, werden sie in die verschiedenen Playlists aufgenommen. Dies ist jedoch auch der größte Kritikpunkt, dem sich Lo-Fi-HipHop stellen muss: Oft wird den Produzenten nachgesagt, lediglich zu faul zu sein, um ein sauberes und glattes Soundbild zu kreieren. Außerdem benötigt man zum Erstellen eines Lo-Fi-Beats keinerlei Kenntnisse über Musiktheorie, was den Produzenten gegenüber ebenfalls negativ ausgelegt werden kann. Fakt ist jedoch, dass in den meisten Produktionen mehr Arbeit und Detailverliebtheit steckt, als man im ersten Moment vermuten würde.
Und wer hat's erfunden?
Fast alle Produktionen dieses Subgenres sind an die Beats von HipHop-Produzenten aus den 90ern und frühen 2000er Jahren angelehnt. So gelten amerikanische Produzenten wie Madlib, 9th Wonder oder der schon erwähnte J Dilla als klangtechnische Wegweiser. Sie alle sind für einen entspannten und samplebasierten Sound bekannt. Jedoch bestimmen im Lo-Fi-HipHop nicht – wie sonst so oft – nur die amerikanischen Vorbilder die Spielart. Mit Uyama Hiroto, DJ Okawari und vor allem Nujabes gibt es eine ganze Reihe an japanischen Produzenten, deren Werke nun als Blaupause gelten. Durch den Einfluss aus Japan ist auch die offensichtliche Verbindung zu Animes entstanden. Die im japanischen Stil gezeichneten Szenen werden geloopt und in die YouTube-Playlists und -Livestreams eingefügt, um die Musik optisch zu untermalen. Gerade Nujabes wird dieser Einfluss zugeschrieben. Denn er produzierte zusammen mit dem amerikanischen Rapper Fat Jon den Soundtrack der Anime-Serie "Samurai Champloo". Damit beeinflusste er nicht nur den Sound, sondern auch die optische Ästhetik, die Lo-Fi-HipHop zugrunde liegt. Alles in allem lässt sich sagen, dass Nujabes und J Dilla die beiden größten Vorreiter für die Entwicklung dieses Subgenres sind. Darüber hinaus verbindet diese beiden Künstler einiges mehr als nur das. Zum Beispiel wurden sie zwar über 10 000 Kilometer voneinander entfernt geboren, dafür aber am selben Tag, dem 7. Februar 1974. Beide werden von ihren Fans als musikalische Genies mit einem speziellen Talent zum Sampeln verehrt und hatten eine ähnlich reduzierte Herangehensweise, was ihr Equipment betraf. Leider verbindet die zwei Ausnahmeproduzenten auch der frühe Tod. J Dilla erlag am 10. Februar 2006 den Folgen einer Lupus-Erkrankung – nur drei Tage nach dem Erscheinen seines legendären Albums "Donuts". Vier Jahre später, am 26. Februar 2010, verstarb Nujabes bei einem Verkehrsunfall in seiner Heimatstadt Tokio. Sowohl von Nujabes als auch von J Dilla wird posthum Musik veröffentlicht. Doch auch andere Produzenten halten die Fahne für einen leichten, samplebasierten Sound hoch. Beatvirtuosen wie Flying Lotus und Pete Rock, aber auch Weltstars wie Kanye West oder Pharrell Williams geben mindestens einen der beiden als Inspirationsquelle an. Somit haben die zwei weit mehr als nur die soundtechnische Basis zu Lo-Fi-HipHop geschaffen.
Vom YouTube-Phänomen zum stetigen Begleiter
Als die ersten "Lo-Fi-Beats to …"-Playlists auf YouTube erscheinen, erfahren sie sofort großen Anklang. Endlich gibt es den perfekten Soundtrack für Situationen, in denen Musik normalerweise eher ablenkt oder stört. Die wummernden Bässe und aufdringlichen Ohrwurm-Melodien moderner Produktionen fordern zum Beispiel beim Lernen zu viel Aufmerksamkeit. Deshalb passen die langsamen und fast schon monoton wirkenden Loops optimal in Szenarien, in denen Konzentration gefragt ist. Millionen von Usern hören Lo-Fi-HipHop, um die Stille während des Paukens oder der Arbeit zu überbrücken, ohne sich dabei einem penetranten Radiomoderator aussetzen zu müssen. Manche Reddit-User berichten sogar, dass sie die entspannende Wirkung der Musik auch zur Meditationsbegleitung nutzen. Doch auch eine große, bewusste Hörerschaft hat sich um die Playlists herum gebildet. Somit können nun auch einzelne Künstler aus der Masse hervorstechen, um sich eine eigene Fanbase aufzubauen. Dies gestaltet sich zu Beginn – durch die hohe Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Videos – relativ schwer. Eine Twitternutzerin schreibt scherzhaft: "And the Grammy goes to .….. Lo-Fi Hip Hop Anime Chil Beats To Study and Relax To".
Mehr als nur Hintergrundmusik
Mittlerweile hat sich Lo-Fi-HipHop jedoch von den Playlists und Livestreams auf YouTube emanzipiert und insgesamt auch professionalisiert. So erreichen Künstler wie Philantrope, [bsd.u], Flughand und FloFilz mit einigen ihrer Songs mehrere Millionen Streams auf Spotify. Langsam, aber sicher entfernt sich die Szene davon, nur als Hintergrundmusik wahrgenommen zu werden. Einzelne Künstler bekommen somit die Chance, sich abseits von YouTube-Mixes und -Playlists zu beweisen. "Aus der Künstlerperspektive ist es immer erfreulich, wenn die Leute deine Musik aktiv hören, weil ich mir, wenn ich die Musik produziere, nicht denke 'Das könnte jemand gut im Hintergrund hören', sondern ich mache mir schon Gedanken, wo ich eine Hi-Hat rausnehmen oder einen Break einbauen kann. Vielleicht kann man das irgendwie auf das nächste Level bringen, sodass die Hörer sehen, was da alles dahintersteckt", so der Produzent Philantrope im Interview mit PULS. Mittlerweile wurden sogar einige Labels gegründet, die sich ausschließlich auf Lo-Fi-HipHop konzentrieren. Diese bieten der Community um die "Beats to study" herum erstmals professionelle Strukturen. Zum Beispiel das eingangs erwähnte Label "Chillhop Music", bei welchem Philantrope alias Simon Leidner die Arbeit als A&R übernimmt. Das Label releast unter anderem jährlich vier Vinyl-Compilations mit verschiedenen Künstlern passend zur jeweiligen Jahreszeit – die sogenannten "Chillhop Essentials". "Inner Ocean Records" aus Kanada bringt fast jedes seiner Releases nicht nur digital, sondern auch auf Vinyl oder sogar als Audiokassette auf den Markt. Zusätzlich bietet der Musikverlag auf seiner Homepage allerlei Merchandise an, dessen Motive hauptsächlich an Animes und alte japanische Zeichnungen angelehnt sind. Zum Teil bilden diese sogar den Roland SP-404 ab. Was wir hier sehen können, ist, wie sich eine Community, die irgendwo zwischen Reddit und YouTube-Kommentarspalten entstand, zu einem Subgenre mit kommerziellem Erfolg entwickelt. Inwiefern sich das auf die Musik auswirkt, wird man allerdings noch sehen. Bisher kann man jedoch nicht beobachten, dass die Qualität der Songs durch die steigende Zahl der Hörer abnimmt. Nach wie vor wird an der nostalgischen Ästhetik, den jazzigen Samples, den knisternden Drums und teils sogar noch an den Anime-Bezügen festgehalten.
(Nico Maturo)
(Titelbild: Daniel Fersch, Bild 1: YouTube MZEE.com Video: 12Vince: Lass mal lieber einen bauen #10,
Bild 2: YouTube Chilled Cow Playlist: LoFi Hip Hop Radio – Beats to relax/study to)