Der Deutschrapzirkus ist ein umtriebiger Schauplatz. Zwischen all den Promophasen und Albumveröffentlichungen kann man schon einmal den Blick fürs Detail verlieren. Deshalb stellen wir jeden Monat an dieser Stelle die kleinen, feinen Highlights vor, die abseits des Album-Korsetts Beachtung verdienen. In den Kategorien Statement, Video, Song, Instrumental und Line präsentieren unsere Redakteure handverlesene Schmuckstücke. Egal, ob nun ein besonders persönlicher Bezug, eine wichtige Message oder ein rundes musikalisches Gesamtpaket den Anlass bieten. Hier wird ein tiefer Einblick in einzelne Facetten der Rapwelt geboten. Fünf Höhepunkte – klatscht in die Hände für unsere "High Five"!
Statement: EstA
Deutscher Rap spricht eine große Masse an: Er ist Jugendkultur, über weite Teile sogar Popmusik. Und das bringt neben vielen positiven Folgen auch seine Schattenseiten mit sich. Denn der Erfolg lockt selbstverständlich Geschäftsleute an, die sich an der Breitenwirksamkeit des Genres bereichern wollen. Rapper, die dem nachgeben, werden oft mal mehr, mal weniger gerechtfertigt als "Sellout" verschrien. Doch was EstA mit seinem neuen Song – oder eher Werbespot – für die AOK abliefert, brennt sich eindeutig als Negativbeispiel ins Gedächtnis. "Die AOK ist fresh, nicht wie andere altbacken und voll kitschig" – dieser Einstieg kann im Angesicht dessen, was in den nächsten zweieinhalb Minuten gesagt und gezeigt wird, nur ironisch gemeint sein. Von den Background-Tänzerinnen im Krankenpfleger-Outfit bis zu den gesundheitsthematischen Wortspielen, die der Battlerapper aus dem Hut zaubert, wirkt alles derart konstruiert, dass es einem die Fußnägel hochrollt. Das gesamte, unangenehme Video scheint wie der feuchte Traum einer Marketingabteilung voller Ü50-Werbetexter, die sich vorstellen, was "die Jugend" gerade cool findet. So erreicht der Clip genau das Gegenteil seiner Intention: EstA liefert ein Paradebeispiel dafür, wie das Konzept "Rap als Jugendsprachrohr" nach hinten losgehen kann.
Video: Lance Butters – Wake Up Fucked Up
Ja, das Video ist kein Feuerwerk der Ideen und Effekte – eigentlich sehen wir über drei Minuten lang nur Lance Butters selbst und Katzenbabys. Aber es sind eben zuckersüße Katzenbabys! Christian Alsan und sein Videoteam schaffen es, ein Tiervideo als Musikvideo umzusetzen, ohne dass es unpassend oder gar kitschig wirkt. Stattdessen erleben wir einen typisch abgefuckten Lance Butters, welcher sich über den "Everyday Struggle" auskotzt und währenddessen Katzen streichelt. Und wenn dann das Biggie-Sample in der Hook einsetzt, bekommt der Zuschauer nur wunderschöne Tierbilder zu sehen. Kurz und knapp: Das Konzept ist simpel, auf den ersten Blick völlig widersprüchlich, doch am Ende einfach passend. Denn manchmal braucht man einfach solche süßen Szenen, um vom täglichen Abfuck wieder runterzukommen.
Song: OG Keemo – Vorwort
Wer unser Interview mit Crystal F gelesen hat, wird auch über die Stelle stolpern, als er über Tua spricht: Ein Junge von der Straße, der auf "Grau" auch mal echten Gefühlen freien Lauf ließ und damit dem Genre sprichwörtlich einen neuen Farbanstrich gab. Ein ähnlicher Vibe kommt auf, wenn man das Intro von OG Keemos Platte "Skalp" hört. Der Mannheimer rappt nur allzu gern von seiner Vergangenheit voller Einbrüche, Alkoholexzesse und Schlägereien. Umso authentischer und ehrlicher wirkt es da, wenn der Rapper auch mal seinen Emotionen freien Lauf lässt. Ein ruhiges Instrumental leitet sein "Vorwort" ein, indem er nicht nur den Tod seiner Mutter verarbeitet, sondern auch offen über sein Innenleben spricht. Diese Momente seiner Karriere bebildert OG Wan Kenobi zudem mit einer solch außergewöhnlichen technischen Finesse, dass er es mir nicht besonders schwer macht, meinen Song des Monats November zu wählen.
Instrumental: Lemur – Die Herrschaft der Kakerlaken (prod. by Lemur)
Lemur ist bekannt für seine besonderen Beats, die sich stiltechnisch nicht in Kategorien einordnen lassen – so auch das Instrumental zum Titeltrack seiner EP "Die Herrschaft der Kakerlaken". Eingeleitet wird es von einem sanften Piano, welches Raum für ein Voice-Sample, eine drückende Kick und Synthie-Sounds macht, um sich dann während des Parts gekonnt wieder einzuschleichen. Was diesen Beat so interessant macht, sind die teils verfremdeten Sounds: So klingt etwa die Hi-Hat fast wie Schreibmaschinengeräusche. Dadurch, dass immer mehr Elemente dazukommen, entwickelt sich der Beat in der Hookline zu einem richtigen Spektakel, ohne dass dabei ein undefinierbarer Soundteppich entsteht. Durch die äußerst gute Abmischung lässt sich trotz des mächtigen Aufgebots jedes Element heraushören. Die Übergänge zu den Parts und den somit weniger "vollen" Passagen sind mehr als gelungen, man wird stets überrascht und erhält viele unerwartete Hörmomente. Und das macht dieses Lemur-Instrumental zu etwas ganz Besonderem.
Line: Yassin – ABENDLAND
Doch was nützen die schönsten Metaphern …
Wenn's die Dümmsten nicht raffen? Es wird dunkel im Abendland.
Während die Ankündigung eines Yassin-Soloalbums relativ überraschend kam, war abzusehen, dass die erste Single- und Videoauskopplung zu "YPSILON" entsprechend großartig werden dürfte. Und so wartet "ABENDLAND" nicht nur mit einer vielleicht etwas ungewohnten, aber in jedem Fall stimmigen Soundästhetik auf, sondern auch der Rapper zeigt sich inhaltlich von seiner besten Seite. Obwohl gefühlt jede Zeile des Tracks eine Line des Monats darstellen könnte, ist es vor allem eine, die heraussticht. Yassin thematisiert das Gefühl, gegen eine Wand zu reden, wenn man Vertreter rechter Ideologien mit der eigenen Kunst konfrontiert, die sich entschieden gegen Rassimus positioniert. Dabei scheinen zu viele längst zu verbohrt in ihren falschen Weltanschauungen, als dass Solidaritätskonzerte oder anderweitige Projekte gegen Ausgrenzung und Faschismus sie von ihrem Weg abbringen könnten. Doch gerade deshalb ist es umso wichtiger, sich von Menschen, die so falsch denken (wollen), nicht davon abhalten zu lassen, für das Richtige einzustehen. Damit es, selbst "wenn's die Dümmsten nicht raffen", niemals ganz dunkel wird im Abendland.
(Florian Peking, Lukas Päckert, Sven Aumiller, Dzermana Schönhaber, Daniel Fersch)
(Grafik von Puffy Punchlines)