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Hört, hört!

September 2015: LGoony und Gerard

Was Ihr Euch in Sachen Deutschrap in die­sem Monat unbe­dingt ange­hört haben müsst? In unse­rer Rubrik "Hört, hört" stel­len wir die bei­den für uns rele­van­tes­ten Relea­ses aus zwei Wel­ten, Unter­grund und Main­stream, vor. Die­ses Mal: LGo­o­ny und Gerard.

"Okay – was habe ich ver­passt?" Eine Fra­ge, der wohl jeder von uns schon ein­mal begeg­net ist. Egal, ob man sie selbst gestellt hat oder mit ihr kon­fron­tiert wur­de. Manch­mal kommt ein­fach der Zeit­punkt, an dem man sich vor allem eines wünscht: "Bringt mich doch mal auf den neu­es­ten Stand!" Doch wie ant­wor­tet man dar­auf? Was hält man für beson­ders erwäh­nens­wert? Es ist schwer, eine kur­ze, aber voll­stän­dige Ant­wort dar­auf zu fin­den. Wie misst man über­haupt Rele­vanz? An media­lem Hype? Am Über­ra­schungs­fak­tor? Oder doch an dem musi­ka­li­schen Anspruch? In "Hört, hört!" geht es um das alles, redu­ziert auf zwei Ver­öf­fent­li­chun­gen. Ein Release, das vor allem im Unter­grund auf Zuspruch gesto­ßen ist, und eines, das in der brei­ten Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­men wur­de. Zwei Wer­ke, die wir nicht unbe­dingt gut fin­den müs­sen, aber eine gewis­se Rele­vanz oder eine Bedeu­tung jeg­li­cher Art für die hie­sige Rapland­schaft besit­zen. Zwei Wer­ke, die am Ende des Monats vor allem eines aus­sa­gen: "Hört, hört! Genau das habt ihr verpasst!"

 

Cover groß

LGo­o­ny – Gra­pe Tape

"Has­te schon die­sen LGon­ny gehört?" – "Nope, wer's das?" – "Der ist Teil der Glo Up Dine­ro Gang, Money Boy und so" – "Aha. Nee, dan­ke." Durch sol­che oder ähn­li­che Sze­na­ri­en gelang es wohl vie­len bis­her noch, sich dem "Goony­ver­se" zu ent­zie­hen. Auch ich selbst schätz­te den Rap­per durch sei­ne Nähe zu Money Boy und des­sen – sonst doch eher wenig talen­tier­ten – Kom­pa­gnons zunächst nur als ein wei­te­res Gim­mick ein. Das Gim­mick einer Bewe­gung, die sich als eine Mischung aus Bad Tas­te und Come­dy zu inno­va­ti­vem Rap glo­ri­fi­zier­te. Wer des Wit­zes mitt­ler­wei­le über­drüs­sig war, konn­te LGo­o­ny wohl recht leicht überhören.

Wo der Boy jedoch irgend­wo in einer Welt aus Selbst­be­weih­räu­che­rung und sei­ner Vor­stel­lung von US-​HipHop gefan­gen scheint und das Geheim­nis sei­nes "Erfolgs" ein­fach eher auf Gag- statt auf Swag-​Potenzial fußt, bril­liert LGo­o­ny durch tat­säch­li­che Inno­va­ti­on und einen gänz­lich eige­nen Stil. Natür­lich sind die Anlei­hen aus Über­see unüber­seh­bar, doch statt simp­ler Kopie oder Per­si­fla­ge braut man sich aus den gege­be­nen Zuta­ten ein fri­sches, vio­let­tes Süpp­chen im eige­nen Dou­ble­cup. Die sphä­ri­schen Sound­ge­bil­de und die fast schon hyp­no­ti­schen Flows, wel­che auf dem "Gra­pe Tape" zu hören sind, mögen den ein oder ande­ren zunächst abschre­cken, sind letzt­lich jedoch min­des­tens genau­so cat­chy wie gewöh­nungs­be­dürf­tig. Berei­chert wird die ein­gän­gi­ge Klang­äs­the­tik zusätz­lich mit durch­aus fun­dier­ten Inhal­ten. Die Figur LGo­o­nys bringt also ein abge­run­de­tes Kom­plett­pa­ket mit, um auch pro­blem­los neben Fea­ture­gäs­ten wie Cas­per zu bestehen – und sie in der eige­nen Cloudrap-​Trap-​Soundwelt viel­leicht sogar zu übertrumpfen.

Das "Gra­pe Tape" ist nicht nur der Beweis dafür, dass LGo­o­ny sich musisch fern­ab der gewöhn­li­chen Money Boy-Kol­lek­ti­ve bewegt. Es könn­te viel­leicht auch einer der ers­ten Schrit­te einer Bewe­gung sein, die es ver­steht, MBee­zys skur­ri­le Absur­di­tä­ten in tat­säch­li­che Musik umzu­mün­zen. Natür­lich mag auch dies nicht jedem Hörer glei­cher­ma­ßen zusa­gen, ent­ge­hen las­sen soll­te sich das Gan­ze jedoch niemand.

(Dani­el Fersch)

 

Gerard-Cover

Gerard – Neue Welt

Rap­mu­sik, die expe­ri­men­tel­ler und zuwei­len auch pop­pi­ger daher­kommt, hat noch immer ein recht schwie­ri­ges Stan­ding in Deutsch­land. Sie ruft immer wie­der ver­meint­li­che Real­kee­per auf den Plan, die dem Inter­pre­ten den Ver­rat von alten Wer­ten vor­wer­fen. Nicht sel­ten fällt dabei die Unter­stel­lung, sich aus kom­mer­zi­el­lem Inter­es­se gezwun­ge­ner­ma­ßen an den Zeit­geist ange­passt zu haben. Was hier­bei oft­mals unter­schla­gen wird, ist, dass die Ent­wick­lung eines Künst­lers auch durch­aus eine Wei­ter­ent­wick­lung im posi­ti­ven Sin­ne dar­stel­len kann.

Das trifft auch auf Gerard zu, der mit "Neue Welt" vor­ge­ge­be­ne Gen­re­gren­zen nicht nur igno­riert, son­dern sie mit aller Kraft ein­reißt. Der Öster­rei­cher hat kei­ne Angst, sich tief in Pop­ge­fil­de vor­zu­wa­gen, legt er doch sei­nen ganz eige­nen musi­ka­li­schen Ent­wurf vor. Das elek­tro­ni­sche Beat­ge­rüst ist durch­weg melo­disch breit und atmo­sphä­risch gestal­tet. Mal steht das Instru­men­tal mit har­ten Drums, wabern­den Bäs­sen und einem aus­ge­streck­ten Tep­pich aus Syn­the­si­zer­sounds fast für sich allei­ne. Dann wie­der wird die musi­ka­li­sche Unter­ma­lung auf das Mini­mum her­un­ter­ge­schraubt, um der Stim­me Gerards groß­flä­chig Platz zu bie­ten. Die dich­te Stim­mung wird dabei nie auf­ge­bro­chen. So bie­tet "Neue Welt" ein Hör­erleb­nis wie aus einem Guß. Text­lich bewegt sich das Album einen Schritt weg vom dunk­len "Blau­sicht": "Die Pro­ble­me von heu­te sind die Lacher von mor­gen", heißt es da bei­spiels­wei­se auf "Gelb". Den­noch ist die Plat­te noch immer gespickt mit Melan­cho­lie und Nach­denk­lich­keit. Gerards lyri­sches Talent ist dabei unbe­streit­bar: Detail­reich und sprach­lich grif­fig trägt er sei­ne Gefühls­welt nach außen.

The­ma­tisch dürf­te "Neue Welt" trotz allem eine ziem­li­che Geschmacks­sa­che sein. Die Schwer­mut und Phra­sen­haf­tig­keit in Gerards Tex­ten catcht einen – oder eben nicht. Ähn­lich ver­hält es sich mit sei­nem Stimm­ein­satz. Die Mono­to­nie, mit der er zumeist vor­geht, passt zwar zur nach­denk­li­chen Atmo­sphä­re und wird von der Sound­ku­lis­se auch meist opti­mal ein­ge­fan­gen. Ein wenig ein­schlä­fernd und bedeu­tungs­schwan­ger wirk­te sie auf mich aber den­noch, gera­de in Ver­bin­dung mit den grüb­le­ri­schen Lyrics. Trotz­dem muss man aner­ken­nen, dass Gerard mit sei­nem Sound­ent­wurf auf "Neue Welt" etwas Ein­zig­ar­ti­ges geschaf­fen hat, das einem – wenn man sich dar­auf ein­lässt – ein völ­lig neu­ar­ti­ges Hör­erleb­nis bietet.

(Flo­ri­an Peking)