"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Früher war alles besser? Definitiv nicht. Aber in meinem Fall war zumindest alles einfacher. Besonders was meine Begeisterung für deutschen HipHop betraf. Es brauchte nicht viel, um mich damals aus der Reserve zu locken. Genauer gesagt brauchte es nur eins: Bars. Und da traf es sich perfekt, dass Samy Deluxe zur Albumpromo von "SchwarzWeiss" seine "One Take Wonder"-Reihe an den Start brachte.
Noch bevor ein bestimmter Rapper aus Köln Kalk namens Eko Fresh 700, 1 000 oder 2 020 Bars in Kurz- bis Spielfilmlänge runterrappen konnte, ist ihm 2011 Samy Deluxe zuvorgekommen. Der Hamburger rappt auf dem zweiten "One Take Wonder" "Scheinfranzose" 100 Zeilen direkt in die Kamera – ohne Hook, Schnitte und jeglichen restlichen Schnickschnack, auf den ich immer noch ganz gut verzichten kann. Inhaltlich ist "Scheinfranzose (100 Bars)" zwar nicht wirklich tief und hat an manchen Stellen den Zweckreim neu definiert, handwerklich ist der Track aber bis heute ziemlich beeindruckend. Samy Deluxe rappt scheinbar mühelos und komplett locker von Bar zu Bar, ohne dabei ins Schwitzen zu geraten. Für mich war und ist es ein Mysterium, ob er einfach ein paar geschriebene Zeilen runterrappt oder überdurchschnittlich gut freestylet. Das ist nach wie vor faszinierend. Was Rapskills betrifft, ist die Reihe bis heute eine Benchmark. Auch zu den nächsten Alben "Männlich" und "Berühmte letzte Worte" kamen stabile OTWs, die mich nicht selten mehr abgeholt haben als die Alben, die sie bewerben sollten.
Meine bestehende Liebe für "Scheinfranzose (100 Bars)" und alle anderen "One Take Wonder"-Tracks von Samy Deluxe zeigen mir auch nach elf Jahren, dass ich durchaus ein simpler Typ bin. Ich brauche nicht viel: Handwerklich beachtlicher Rap ohne viel Drumherum? Ein paar Zweck- oder Doppelreime in Reimketten? Sign me up. Übrigens: Auch zehn Jahre später kann das noch fabelhaft funktionieren, Stichwort "EXCL TAPE" von Maeckes.
(Jakob Zimmermann)