Der Wu-Tang Clan: eine Gruppe von neun Männern aus den Sozialwohnungsbauten, den sogenannten "Projects", Staten Islands, deren künstlerisches Schaffen die HipHop-Kultur maßgeblich prägte. Bestand der harte Kern des Clans in den 90er Jahren aus RZA, GZA, Ol' Dirty Bastard, Method Man, Ghostface Killah, Raekwon, Masta Killa, Inspectah Deck und U-God, veränderte sich das Umfeld der Gruppe stetig durch Personen, die den Mitgliedern nahestanden, sogenannte "Affiliates". Anderes ist hingegen bis heute – abseits vom Logo der gelben Fledermaus – gleich geblieben: Der Clan ist bekannt für sein Auftreten als Gruppe, fiese Blicke, absurde Geschichten bei Promoterminen oder auf Konzerten und vor allem für harte Lines und roughe Beats. Nachdem die Gruppe auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde, sollte sich auf das internationale Geschäft fokussiert werden. Diese nicht ganz einfache Aufgabe wurde Eva Ries zuteil – einer Frau aus Baden-Württemberg, die es durch viel Disziplin und Durchhaltevermögen in die amerikanische Musikbranche geschafft hatte und fortan als Managerin des Plattenlabels Loud/RCA Records für jene internationalen Geschäfte des Wu-Tang Clans zuständig war. In ihrem Buch "Wu-Tang is forever" berichtet sie eindrucksvoll über Streit und Schlichtungen, Ausraster und Versöhnungen. In unserem Interview gab sie tiefe Einblicke in die Zeit der 90er Jahre, sprach mit uns über die Präsenz vom Wu-Tang Clan in der Gegenwart und wirft einen Blick in die Zukunft.
MZEE.com: Während deiner Arbeit mit dem Wu-Tang Clan hast du vor vielen Herausforderungen gestanden, denen du dich bewusst stellen wolltest. Zuerst wolltest du aber laut deinen eigenen Aussagen die Texte und Botschaften des Clans verstehen, wodurch die Mitglieder zu deinen Mentoren wurden und dir ihre Lebensrealität gezeigt haben. Erinnerst du dich an eine der frühsten Lektionen, die dir beigebracht wurden?
Eva Ries: Es ist ganz witzig, dass du das fragst, denn die früheste Lektion war an dem ersten Tag, als ich die Jungs kennengelernt habe. Im Buch wird diese Geschichte auch beschrieben, das war Anfang 1994 in einem Fotostudio und es sollte das erste gemeinsame Gruppenfoto der Band gemacht werden. Es gab vorher noch keins, obwohl das Album "Enter the Wu-Tang (36 Chambers)" Ende 1993 rauskam. Der Wu-Tang Clan bestand damals aus neun Mitgliedern und es war immer sehr schwer, alle zusammen an einen Ort zu bringen. Ich habe an dem Tag eher als Beobachterin teilgenommen, weil ich von der amerikanischen Pressebetreuerin an die Arbeit herangeführt wurde. Nach dieser Fotosession hat GZA mir gesagt, dass er auch gerne zum BMG-Gebäude fahren will, und wir haben ausgemacht, dass wir gemeinsam ein Taxi nehmen. Er sagte zu mir, dass ich das Taxi anhalten müsse, er sich jetzt nicht an die Straße stellen würde und wenn das Taxi dann angehalte habe, komme er einfach hinzu. Ich habe mich gewundert, was das soll, aber es mitgemacht. Im Taxi erklärte er mir dann, dass für ihn als Schwarzer Mann kein Taxi halten würde, weshalb er mich als Lockvogel hingestellt habe und dann dazu gestiegen sei. Während der Fahrt hat er mir gesagt, dass ich dem Taxifahrer bloß kein Trinkgeld geben soll, weil New Yorker nun mal kein Trinkgeld geben und man sich so als dummer Tourist outen würde. Außerdem hat er mich auf der Straße beobachtet: Ich würde die ganze Zeit nach oben gucken, um die Wolkenkratzer zu bewundern. Das würde mich ebenfalls als fremde Person outen, wodurch ich für bestimmte Verbrechen, in denen man mich übervorteilen will, anfälliger wäre. Er sagte mir, dass echte New Yorker schnellen Schrittes gehen, immer mit dem Blick nach vorne. Aber nicht in die Augen eines anderen blickend, sondern den Blick peripher auf den Boden gerichtet, um noch mitzubekommen, was sich in der Umgebung abspielt. So habe ich direkt mehrere Lektionen an einem Tag gelernt.
MZEE.com: Durch die enge Arbeit mit dem Clan hast du neben täglichen Wutausbrüchen einige absurde Geschichten erlebt wie die Flucht aus einem Londoner Hotel wegen zu hoher Telefonkosten. Was war das größte Learning, das du für dich aus der Arbeit mit dem Wu-Tang Clan gezogen hast?
Eva Ries: Es gibt tatsächlich sehr viele Learnings, die ich durch den Clan gewonnen habe. Die hätte ich wahrscheinlich nie gelernt, wenn ich nicht mit ihnen zusammengekommen wäre oder ewig in Ladenburg, in der baden-württembergischen Provinz, gehockt hätte. Ich lache oft, wenn Leute in Deutschland von so schönen Schlagworten reden wie interkultureller oder sozialer Kompetenz und emotionaler Intelligenz, die sie alle angeblich haben. So was lernt man aber erst, wenn man seine Komfortzone verlässt. Ich glaube, dass das mein größtes Learning ist. Ich würde auch jedem ans Herz legen, sich aus der Komfortzone rauszubewegen und in eine andere Welt einzutauchen oder etwas ganz anderes zu machen. Das muss jetzt nichts Gravierendes sein, wie vom gutbürgerlichen Deutschland ins Ghetto in Staten Island einzutauchen, aber es geht darum, sich mal etwas zu trauen und zu versuchen, an Ängsten zu arbeiten. Ich habe gelernt, Dinge zu machen, ohne sie tausendmal zu hinterfragen oder lang zu zögern, sondern einfach aus dem Affekt heraus zu agieren. Wie bei der Flucht aus dem Hotel: Das war schon fast eine Art Entführung und da war mir klar, dass ich mitgehen muss, denn wenn ich es nicht tue, dann hätte ich die Jungs nie wiedergefunden. Klar hatte ich Angst, meinen Job zu verlieren, denn ohne zu bezahlen aus einem Hotel zu flüchten, ist auch nicht so toll. Aber das war das kleinere Übel, denn hinterher hätten meine Chefs mich alle gefragt, ob ich die Jungs einfach so gehen lassen habe. Ich hatte einen Bruchteil an Sekunden, um zu entscheiden: mitgehen oder die Jungs gehen lassen. Der Worstcase wäre, meinen Chef in New York anzurufen und ihm zu sagen, dass ich sie verloren habe, weil ich darauf bestanden habe, eine Rechnung zu bezahlen. Ich musste schnelle Entscheidungen treffen und auch im Nachhinein habe ich die nicht groß überdacht, weil ich immer das Gefühl hatte, dass sie richtig waren.
MZEE.com: Der Clan scheint die Art, wie du an Dinge herangehst oder über Sachverhalte nachdenkst, nachhaltig geprägt zu haben. Was denkst du, welchen Impact du mit deinen mitgebrachten Eigenschaften auf sie und ihre Herangehensweise hattest?
Eva Ries: Sie würden sich jetzt wahrscheinlich auf die Zunge beißen und sagen, dass sie noch immer so kompromisslos sind, wie sie immer waren, aber natürlich stimmt das nicht. Einen solchen Effekt siehst du nicht nach vier Wochen, aber nach einem bis zwei Jahren. Als wir die erste Tour gemacht haben, haben sie sich schon sehr geöffnet – auch für andere Kulturen. Man muss dazu sagen, dass sie außer mit ein paar Lehrern, Ärzten, Polizisten und Leuten auf dem Amt nichts mit Weißen zu tun hatten. Sie kamen aus einer rein Schwarzen Gesellschaft. Ich war zu den Anfangszeiten eine der wenigen Weißen in ihrem Umfeld. Auch wenn der Clan von Steve Rifkind (Anm. d. Red.: Gründer und Vorsitzender von Loud Records), der ebenfalls weiß ist, gesignt wurde, waren die Leute, mit denen sie arbeiten mussten – wie A&R, Marketing oder Presse –, alle Schwarz. Wenn man HipHop oder Urban Music machte, waren die Leute, mit denen man gearbeitet hat, alle Schwarz. Es gab ein Black oder Urban Department mit einem Black President und ich war als Verantwortliche für International die einzige weiße Person, die mit den Künstlern gearbeitet hat. Der Clan war im Grunde wie in einer Bubble von anderen Schwarzen umgeben, weil sie durch ihr ganzes Lebensumfeld keine Berührungspunkte mit Weißen hatten, wodurch ich eine der wenigen weißen Personen war, die eben immer konstant aufgetaucht sind. Neben mir gab es noch Serena Gallagher, eine freie Pressebetreuerin irischer Herkunft, die aber längst nicht so viel Zeit mit dem Clan verbracht hat. Sie ist auch nicht nach Staten Island gefahren, sondern hat die Band für Termine mit Journalisten an den Times Square in einen Konferenzraum bestellt, weil das einfacher zu kontrollieren war. Ich denke schon, dass ich einen gewissen Einfluss auf sie hatte, weil sie durch mich Berührungspunkte mit anderen Dingen hatten – vor allem, als wir dann später aus den USA raus und in andere Länder gereist sind. Das war ein unheimlicher Lernprozess für die Jungs.
MZEE.com: Trotz des schwierigen Umgangs mit manchen Clan-Mitgliedern hattest du nie das Gefühl, alles hinschmeißen zu wollen. Woraus hast du für dich innerhalb dieser Zusammenarbeit die Kraft gezogen, stets weiterzumachen?
Eva Ries: Ich vermute aus meiner eigenen Sturheit, denn ich bin wirklich ein sturer Bock. Vor allem habe ich es mir zu meiner eigenen Mission gemacht, dass ich aus den Jungs etwas mache. Vielleicht war das mein Sozialarbeiter-Gen oder irgendwas in der Art, aber ich habe mir das Ziel gesteckt und sie darauf eingeschworen, dass sie diesen weltweiten Erfolg haben müssen. Ich glaube sogar, dass ich mehr daran geglaubt habe als sie und daraus meine Kraft gezogen habe. Mir gingen diese absurden Geschichten gar nicht so nah und eventuell habe ich auch die Gabe, gewisse Sachen nicht ganz an mein Innerstes ranzulassen. Ich weiß, dass ich mir wie ein Versager vorgekommen wäre, wenn ich das Handtuch geschmissen hätte – ich bin der Typ, der dann nicht mehr in den Spiegel gucken kann, weil man aufgegeben hat. Dieses Aufgeben war mir zuwider, sodass ich gesagt habe: Wir ziehen das durch.
MZEE.com: Du sprichst in deinem Buch davon, dass du anders als andere Leute in der Musikbranche nicht über das teilweise schwierige Verhalten des Clans geurteilt hast, weil es eine Überlebensstrategie aufgrund der Lebensrealität in den Projects war. Welche Strategie des Clans ist dir schnell aufgefallen?
Eva Ries: Die erste Strategie war immer, dass sie versucht haben, anderen Angst einzujagen. Sie sind immer als Rudel aufgetaucht oder waren zumindest in Zweiergruppen unterwegs wie Ghost zusammen mit Raekwon oder RZA mit GZA. Es gab immer eine Konstellation und nur ganz selten war jemand alleine anzutreffen. Als Gruppe waren immer ungefähr fünf Leute zusammen und zusätzlich waren noch Freunde, Bekannte und Trittbrettfahrer dabei. Wenn sie zu uns ins Büro gekommen sind, standen immer 10 oder 20 Leute da, es rollte gefühlt ganz Staten Island an. Schon allein durch diese Gruppengröße waren viele Leute eingeschüchtert. Und selbst, wenn sie nur zu zweit waren, hatten sie ihre street smartness und wollten ultrahart sein. Oft haben sie diesen unnahbaren Eindruck gemacht und eine Aggressivität nach außen zur Schau gestellt – ganz nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung, weil sich dann keiner traut, irgendetwas zu sagen. Das war ihr Markenzeichen. Im Grunde waren sie eine Streetgang und so bewegen die sich halt.
MZEE.com: Gab es denn eine Situation, wo du im Umgang mit dem Clan Angst hattest?
Eva Ries: Es gab mal eine Massenschlägerei bei einem Konzert in Harlem, die ich, glaube ich, auch nicht im Buch angeführt habe. Dummerweise war ich da mit einem Kameramann von VIVA TV und einem Journalisten und wir haben erst gar nicht bemerkt, wie sich in der Halle die Stimmung immer weiter aggressiv verschlechterte, weil wir im Backstagebereich waren. Der Clan hat den Krawall angefangen, indem er mit dem Konzertpromoter gestritten hat. Dann kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer Schlägerei. Ich weiß noch, dass Ghost den Tisch mit sämtlichen Getränken und Zeug, das da draufstand, auf den Veranstalter gekippt hat. Daraufhin hat ODB volle Cola-Dosen als Wurfgeschosse genommen und sie durch den Raum geschmissen. Da wurde mir ein bisschen mulmig und beim Rausschauen habe ich gesehen, dass sich die gesamte Halle gerade prügelt. Die Menschen haben sich in Trauben bewegt und aufeinander eingeschlagen. Der Kameramann war noch immer dabei, die Vorgruppen zu filmen, und hat gar nicht gesehen, was hinter ihm passiert. Ich habe ihm gesagt, dass wir sofort hier wegmüssen. In diesem Moment hatte ich Angst um unsere Sicherheit und der Clan war mir scheißegal, denn die haben das Ganze ja befeuert. Die haben sich mit dem größten Vergnügen auf dieses Menschenknäuel geworfen und auf Leute eingeschlagen. Da wusste ich, dass ich allein bin und sich keiner mehr um mich kümmert. Ich kann die auch nicht von den Leuten runterziehen. Also habe ich geguckt, dass der Kameramann, der Journalist und ich lebend da rauskommen. Ich bin gerannt und habe gemerkt, dass der erste Notausgang verschlossen war, also weiter zum nächsten Treppenhaus, die Treppe runter und da ging er auf. Draußen vor der Venue war das NYPD mit drei Mannschaftswagen und gut 50 Polizisten. Sie haben alles hermetisch abgeriegelt, aber sind nicht reingekommen, um irgendjemandem zu helfen. Das war für mich ein Schock. Zum Glück stand der Chauffeur noch da, der so Angst gekriegt hat, dass er das Auto verriegelte. Ich habe dann an die Scheibe geklopft und ihm gesagt, dass wir hier schnell wegmüssen, weil ich Angst hatte, dass es zu einer Massenpanik kommt und Menschen sich tottrampeln. Aber ich kann nicht sagen, dass irgendwann mal einer durchgedreht ist, wo man hätte Angst haben müssen.
MZEE.com: Wie du schon gesagt hast: Sie haben einfach nicht mehr an dich gedacht, weil sie ihren Fokus auf die Schlägerei gerichtet haben. Dadurch musstest du dir eine Überlebensstrategie suchen und schauen, wie du da rauskommst, bevor Panik ausbricht.
Eva Ries: Natürlich habe ich mich immer irgendwo ein bisschen gefürchtet. Du musst überlegen: Wir waren in Harlem an der 125. Straße und Lenox Avenue, eine absolut Schwarze Gegend. Wir waren die drei einzigen weißen Personen in der Venue und da schlagen sich gerade 5 000 bis 6 000 Schwarze. Wenn das jetzt auf einmal umschlägt und die auf uns zukommen, haben wir ein Problem. Etwas Ähnliches ist mir in einem Nachtclub in South Central Los Angeles passiert, wo der Clan auch komplett vor Schwarzen aufgetreten ist. Da haben die Jungs sogar zu mir gesagt: "Eva, du gehst nicht in die Crowd, du bleibst immer schön bei uns im Backstagebereich, weil hier nur Schwarze sind und du die einzige Weiße bist. Du musst bei uns bleiben." Sie waren wie Bodyguards und ich habe mich gehütet, mich da irgendwie unter die Leute zu mischen. Manchmal schlägt die Stimmung einfach um und dann bist du der eine, der anders aussieht. Dann hast du ein Problem.
MZEE.com: Es kam selbst mit dem Clan und seinem Umfeld zu Streitigkeiten, bei denen dir vorgeworfen wurde, eine Ausbeuterin und Rassistin zu sein. Das sind dann natürlich Dinge, die man im Streit sagt und die man oft nicht so meint. Aber in einer solchen Gegend, die dir nicht bekannt ist, und zu einer Zeit, die noch mal ganz anders war als die heutige, weißt du nicht, wer dir gegenübersteht und wie die Person drauf ist.
Eva Ries: Witzigerweise haben RZA und ich uns oft über gefährliche Orte und Plätze unterhalten, wo man besser nicht hingeht. Und er sagte mir mal, ich solle bloß nie auf die Idee kommen, nach Jamaika zu gehen. Ich habe daran wirklich nie gedacht, aber aus Interesse gefragt, warum. Er entgegnete mir, dass ich da keinen Spaß haben werde, weil die dort so rassistisch seien. Das ist schon krass, wenn er das sagt. Natürlich sind im Streit auch mal blöde Sachen, hauptsächlich von Popa Wu (Anm. d. Red.: ein sogenannter "Affiliate" des Wu-Tang Clan-Umfelds), gefallen, aber am Ende haben wir darüber gelacht. Ich bin nicht nachtragend. Wenn sich jemand entschuldigt oder darüber gelacht wird, weil man den Dampf abgelassen hat, dann bin ich niemandem mehr sauer.
MZEE.com: Das Begegnen auf Augenhöhe ist gerade bei unterschiedlichen Lebensrealitäten und dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen ein zentraler Aspekt. Fiel dir das in all den Jahren auch mal schwer?
Eva Ries: Die haben laufend irgendeinen Scheiß gemacht und ich habe hinterher darüber gelacht. Das war ja alles außerhalb der Normalität, gerade ODB hat total verrückte Sachen gemacht. Er hat mit vollen Cola-Dosen auf Menschen gezielt – da hätte jemand zu Tode kommen können. Als ich mit den deutschen Journalisten in Brooklyn war, hat er mit einer scharfen Pistole einfach aus dem Fenster in die Luft geschossen. Ich, der große Schisser, wenn es um Waffen geht, habe nicht mal da mit der Wimper gezuckt oder mich darüber aufgeregt, sondern mir nur gedacht: "Okay, das ist einfach ODB." Ich hab' dann zugesehen, dass wir da wegkommen, denn man muss das Ganze natürlich auch im Zusammenhang sehen: Er war voll betrunken, nahm eine Pistole und schoss in die Luft – da kann natürlich etwas passieren. Aber wenn man sich jedes Mal überlegt, was da noch alles hätte passieren können oder was sie vielleicht als nächstes machen, wäre das zu viel gewesen. Es hat sich mir gar nicht mehr die Frage gestellt, wie viele Grenzen teilweise überschritten wurden. Im Buch erzähle ich auch die eine Geschichte, wo Ghost die Flasche Dom Pérignon vom Nobelitaliener entwendet hat. Da wollte ich einmal ein Exempel statuieren, weil der mir so auf den Keks gegangen ist und ich einen persönlichen Hass auf ihn hatte. Normalerweise hatte ich aber gar keine Zeit, härter durchzugreifen oder Lektionen zu verteilen. Du musst überlegen: Ich hatte ja nicht nur eine Person vor mir, sondern acht oder neun. Das ist wie als Klassenlehrer einer ersten Klasse – da kannst du nicht überall gleichzeitig sein.
MZEE.com: Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagtest du, dass du für den Clan je nach Laune unterschiedliche Rollen hattest – wie Mutter, Schiedsrichter, Coach oder Psychologin. Im Buch führst du an, dass du auch als Gatekeeperin zwischen dem Clan und der Musik- und Medienwelt fungiert hast. Wie haben sich diese unterschiedlichen Rollen bemerkbar gemacht und wie waren sie mit deiner Arbeit als zum Label gehörende Managerin vereinbar?
Eva Ries: Ach, das ist gar nicht so groß aufgefallen, denn ich habe diese Rollen je nach Situation fließend gewechselt. Ich musste immer noch meinen Job machen. Aber es gab Momente, in denen ich eher die Trösterin oder die Verständnisvolle sein musste, und dann eben welche, in denen ich wie eine Mutter oder ein Schiedsrichter die Streitparteien auseinanderhalten musste. Die Jungs haben sich untereinander viel und mit großem Gebrüll gestritten und sind sich an die Gurgel gegangen – da musste man aufpassen, dass da nichts passiert. Man kann gar nicht sagen, dass ich an einem Tag den Hut der Mutter und am anderen den des Schiedsrichters getragen habe, denn das hat eigentlich stündlich gewechselt.
MZEE.com: Das stand so bestimmt nicht in deiner Jobbeschreibung, oder?
Eva Ries: (lacht) Nein, eigentlich nicht und sie hätten mich dreimal so gut bezahlen müssen, denke ich mir im Nachhinein.
MZEE.com: Werfen wir einen kurzen Blick in die Gegenwart: Wie präsent ist der Wu-Tang Clan oder die Zeit von damals heute noch für dich?
Eva Ries: Natürlich ist es durch das Buch sehr präsent. Die Leute fragen mich immer wieder danach und Gott sei Dank hat das Buch eine sehr gute Resonanz erhalten! Abseits davon arbeite ich mit RZA. Derzeit haben wir ein konkretes Filmprojekt und es gibt eine Kampagne mit Ballantine's Whisky, in die ich involviert bin. Wir sehen uns oder telefonieren am meisten, aber ich telefoniere auch mit den anderen. Im September beziehungsweise Oktober habe ich die Jungs ja wieder auf der Tour in Amerika mit Nas gesehen. Ich bin nicht weg aus ihrer Welt, aber es gibt kein konkretes Projekt, wodurch ich tagtäglich mit ihnen zu tun habe. Wenn man jetzt aber mal überlegt, was in der Zukunft passiert: Seit ein paar Tagen weiß ich, dass es nächstes Jahr eine weltweite Tournee geben wird. Denn nächstes Jahr ist erstens das 50-jährige Jubiläum von HipHop und zweitens das 30-jährige Jubiläum vom Clan. Dafür wird die "NY State of Mind"-Tour, die ich jetzt schon in Amerika gesehen habe, nach Europa, Südamerika und Australien sowie Neuseeland kommen. Die deutschen Daten kenne ich jetzt noch nicht, ich kenne nur eins Ende Juli in Spanien beim Monegros Desert Festival und es wird eine Show Anfang Juli in London geben, aber die anderen Termine stehen noch nicht fest. Demnächst bin ich dabei, meine eigene Doku zu machen, die wiederum auf dem Buch basiert. Da werde ich mit Sicherheit auch mit den Jungs arbeiten, denn da brauche ich sie ja für die Interviews. Darauf freue ich mich!
MZEE.com: Zum Abschluss des Interviews würde ich gerne von dir wissen, was dein persönlicher Lieblingstrack des Wu-Tang Clans ist.
Eva Ries: Ich habe viele, aber wahrscheinlich ist es immer noch "C.R.E.A.M.", weil das für mich der Durchbruch war. Das war der Song, der den Erfolg und das Lebensgefühl des New Yorks der frühen 90er Jahre verkörpert hat. Als der Song dann wirklich aus jeder Boombox in New York auf der Straße ertönte, während ich zur Arbeit gelaufen bin, fand ich das toll. Für mich war es mein Song. Ich war damals dermaßen stolz, denn am Anfang war alles nebulös und obskur – keiner kannte so richtig den Wu-Tang Clan. Auf einmal sitzen alle im Sommer draußen vor den Townhouses, durch die Boxen läuft dieser Song und jedes Kind hat das irgendwie gesungen. Egal, wo du warst, der Track wurde gespielt und ich habe immer zu meinem Mann gesagt: "Hey, das ist mein Song! Die spielen schon wieder 'C.R.E.A.M.'" Ein anderer Song, der mir supergut gefällt, ist "Triumph", obwohl der sehr lang und eigentlich ein endloser Freestyle ohne anständige Hook ist. Ich habe sehr viele gute Erinnerungen daran. Wenn man sich mal das Video genau anguckt, sieht man einen kleinen Cameo-Auftritt von mir. Das war eigentlich ganz witzig, weil dieser Video Shoot schon wieder so irre war mit so vielen grässlichen Gegebenheiten und Hürden. Dass das überhaupt geklappt hat, ist ein Weltwunder. Das sind Sachen, die du nie vergisst, weil dieser Song die Story zu einem verrückten Video Shoot ist. So hat alles seine Bedeutung für mich.
MZEE.com: Und es startet natürlich auch mit "Wu-Tang is here forever".
Eva Ries: (grinst) Genau! Und ich hätte damals nicht gedacht, dass sie eine solche Langlebigkeit haben würden. Wenn du dir jetzt überlegst, wie lange die Jungs eigentlich schon zugange sind, inzwischen sind sie alle über 50 und im Grunde machen sie immer noch weiter … Das ist sehr selten im HipHop.
MZEE.com: Das stimmt. Im Marketing spricht man immer von der Halbwertszeit und die hat der Wu-Tang Clan nicht. Ich finde es faszinierend, dass so viele Personen unterschiedlichen Alters und zu verschiedenen Zeiten auf den Clan und ihr Schaffen gestoßen sind, sobald sie sich mit HipHop beschäftigen.
Eva Ries: Meine Tochter ist 1998 geboren und ich habe ihr viel Wu-Tang vorgespielt, sie hat die Jungs natürlich auch als Kind kennengelernt. Ich liebe Raekwons erstes Album "Only Built 4 Cuban Linx" und um die Kleine nachts zum Schlafen zu bringen, war der Trick, einfach "Criminology" abzuspielen. Sie lag in ihrem Gitterbettchen und ist zu diesem Geschieße und dem klirrenden Glas ganz friedlich eingeschlafen. Ich bin froh, dass die Nachbarn nicht das Jugendamt gerufen haben. (lacht) Irgendwann habe ich Raekwon erzählt, dass ich "Criminology" als Kinderlied nutze, um meine Tochter zum Schlafen zu bringen und er entgegnete nur: "What? Are you insane?!"
MZEE.com: (lacht) In dem Track gibt es auf jeden Fall ein paar Lines, die unter "explicit content" fallen …
Eva Ries: (grinst) Ja, aber das ist egal, denn wenn sie das nicht gehört hat, hat sie AC/DC gehört. Im Grunde haben wir immer tolle Musik gespielt, jetzt nicht laut, aber eben als Hintergrundmelodie, damit sie schlafen konnte. Raekwon hat sich natürlich auch ein bisschen gefreut, als ich ihm erzählt habe, dass meine acht Monate alte Tochter besonders gut zu "Criminology" einschläft.
(Laila Drewes)
(Fotos von Ivo Klujce)