"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Donnerstagmorgen, viertel vor vier: Kalim heizt im "V8 Biturbo" mit Gringo, Xatar und der Entourage über den Steindamm. Ziel unbekannt, Kofferraum vollbeladen, Stimmung angespannt. Zur selben Zeit sitze ich im deutschen Exportschlager, der Mercedes A-Klasse, auf dem Beifahrersitz einer Mitfahrgelegenheit Richtung München. Kalims "Thronfolger" ertönt aus den Boxen und sofort wird weniger gesprochen – etwas unangenehm. Zumindest, bis ich merke, dass meine Mitfahrer sowieso kein Deutsch und nur wenig Englisch sprechen. Kommuniziert wird kaum. Gefühlt stehe ich alleine vor dieser lyrischen Wucht, auf Beihilfe von hinten brauche ich jedenfalls nicht zu hoffen. Doch schon mit der ersten Hook von "1994" setzt auf der Rückbank ein leichtes Kopfnicken ein.
Statt in der sterilen Umgebung Münchens finde ich mich auf der tristesten Straße des sonst palmenverseuchten Hamburgs wieder. Steindamm – ein Ort grauer als sein Name selbst und Königreich des selbsterkorenen Thronfolgers. Zwischen Anzugträgern und Drogendealern, Highlife und Depression, Panikattacken und dem erneuten Griff zur Flasche. Dieses bildliche Erzählen ist eine der großen Stärken des Albums. Authentizität pur. Gedrückte Stimmung, Hang zur Kriminalität, aber auch das zerbrechliche Bild eines Mannes, der einsam an der Spitze steht und jedem außer sich selbst zu helfen weiß. Das ist Straßenrap und genau das ist Kalims Album: deutsche Boom bap-Champions League, dumpfe 808s, schiefe Pianos untermalt von verzerrten Synthies – schmutzig aber durchgehend hochwertig. Es ist sein unstillbarer Hunger, der einem mit jeder Line entgegenschlägt und ihn immer wieder zu Bestleistungen treibt. Schlussendlich bleibt nur zu hoffen, dass dieser Hunger ihn nicht wieder zu Ausgleichszahlungen an den Staat zwingt.
Zurück im Auto tippt mich zum melancholischen Piano-Beat von "VVV", dem letzten der zwölf Tracks, jemand von hinten an und sagt grinsend: "This shit dope." Spätestens ab diesem Zeitpunkt hat es Kalim geschafft, vom Thronfolger zum König des deutschen Straßenraps aufzusteigen.
(Jonas Jansen)