History-Adventskalender: Türchen #04 – Stieber Twins (1997)
Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
1997: Stieber Twins – Fenster zum Hof
Ich bin lieber ehrlich der Letzte als durch Beschiss der Beste.
Am Valentinstag 1997 kauften zahlreiche Männer wie gewohnt Blumen und Pralinen, um ihre Frauen glücklich zu machen. Auch ich wurde an diesem Tag glücklich gemacht und verliebte mich ebenfalls. Eine Liebe, die auch heute noch Bestand hat. Ich entdeckte meine Leidenschaft für Deutschrap, denn die Stieber Twins veröffentlichten "Fenster zum Hof".
Obenstehendes Zitat ist wegweisend für das gesamte Album. In purer Echtheit präsentieren die "deutschen Show & A.G." Christian und Martin ihre gesamte Liebe zur HipHop-Kultur. Komplett in Eigenregie produzierte, jazzlastige Beats, WildStyle-Einspieler und ein dahingerotzter Flow mit Heidelberger Dialekt führen einen auf eine Reise durch die Grundwerte der Szene, die niemals pathetisch oder künstlich dargestellt werden. In 13 Tracks wird regelmässig jeder der vier Disziplinen Respekt gezollt, ohne dass auch nur ein Track hervorzuheben wäre. Es wird dabei zu Genüge mit szeneninternen Begriffen in den Texten gearbeitet, um direkt klarzumachen, dass es sich hier um einen Langspieler für Realkeeper und Szeneheads handelt – "ohne Pseudonym, weil ich kein Pseudo bin". Auch die Gästeliste spricht für sich: Mit Cora E. sowie Das Bo entsteht die eigentliche Gründung von La Familia inklusive Parts von Scope, Fast Forward, Aphroe, Tatwaffe und Curse auf "Tausend MC's". Mit jeder Faser ihres Körpers legen Luxus Chris und Mr. Mar Wert darauf, die Fahne ihrer Liebe des Lebens so hoch wie möglich zu halten.
Viele Journalisten und Rapper betitelten in der Folge "Fenster zum Hof" als für sie persönlich bestes Deutschrapalbum aller Zeiten – und dies ist absolut nachvollziehbar, wenn man das Gefühl dieser Platte einmal wahrgenommen hat. Wahrscheinlich war der Wunsch nach einem Nachfolger selten so groß wie hier, aber vielleicht haben die Stiebers auch alles richtig gemacht, indem sie dieses Kunstwerk für sich stehen lassen.
(Sebastian Otte)
(Grafik von Daniel Fersch)