"Hier, mittendrin im Land der fehlenden Farben, ist mir alles viel zu grau und deshalb geh' ich jetzt malen …" – Der Ansicht von Samy Deluxe aus seinem Song "Bis die Sonne rauskommt" scheinen sich viele Streetart- und Graffiti-Künstler anzuschließen. Denn ihnen ist es zu verdanken, dass die oft so grauen Wände in Deutschland an Farbe und kreativen Botschaften gewinnen. Sie werden zu anonymen Gesichtern der Stadt, die durch politische oder gesellschaftskritische Statements auf sich aufmerksam machen – oder einfach nur dafür sorgen, dass unser Auge Abwechslung von dieser farblosen Monotonie erlebt. In Form von Stickern, Kacheln, Stenciln, Installationen, Schablonen sowie Moos, veränderten Werbeplakaten, Murals und vielen weiteren kreativen Mitteln werden Bilder so gestaltet, dass sie die Blicke der Passanten auf sich ziehen. Der Kunst sind keine Grenzen gesetzt. Nicht selten werden sozialkritische Themen verarbeitet – mit der Intention, den Betrachter zum Nachdenken anzuregen. Tagesaktuelle und politische Themen werden von den Artists aufgegriffen, um auf Missstände in Deutschland und der Welt aufmerksam machen. In anderen Fällen liefern die Künstler pure Art-Messages in Form cooler Styles und bunter Farben. Aber was feiern sie selbst am meisten? Wir haben für dieses Special zehn Streetart-Künstler gefragt: "Was ist dein absolutes Lieblings-Artwork, das du selbst angefertigt hast oder bei dem du involviert warst? Wo ist es zu finden und was macht es für dich so besonders?"
Tobo: Es war Ende Februar und ich habe über den Winter neue Ideen gesammelt, die darauf warteten, von mir umgesetzt zu werden. Endlich kam er, der erste Sonnenschein – es kann wieder losgehen! Ziel war es, die letzte jungfräuliche Wand auf dem Teufelsberg zu entjungfern. Völlig übermotiviert habe ich für mein erstes Moos-Graffiti einen Nachmittag angesetzt. Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Ich habe mich um vier ganze Tage verkalkuliert. Eine Katze kam täglich vorbei und beobachtete mich interessiert.
Bobbie Serrano: Eine meiner Lieblingsarbeiten ist meine Wand in Nairobi, Kenia, aus dem letzten Jahr. Nicht die größte, schönste und bestimmt auch nicht die umfangreichste Wand, die ich je gemalt habe. Ich verbinde aber viele besondere Erinnerungen damit. Ich durfte mal wieder mit Viva con Agua e.V. auf Reisen sein, da wird man eh immer von einem besonderen Vibe begleitet. Es war ein wunderbarer Tag mit gutem Essen, Sonne, Inspiration und vielen herzlichen Menschen, die ich im Atelier-Viertel Buona Trust kennenlernen durfte. Am Abend war ich mit meinem Kumpel von vergangenen VCA-Reisen, Octopizzo, verabredet und die Bros Megaloh und Ghanaian Stallion waren zeitgleich in Nigeria unterwegs. Das hat sich trotz der Distanz ein wenig wie ein Backflash zu dem vergangenen Uganda-Trip angefühlt. Wie es dann so ist an einem Feiertag und generell in den afrikanischen Ländern, die ich bereist habe, sind Farbe und Material begrenzt und die Sprühdosen in einer uncoolen Qualität. Aber man arbeitet mit dem, was man hat, und improvisiert. Spontan, quick and dirty halt …
Frank Zappel: Das Bild ist auf einem der Hochbahnpfeiler in Köln-Nippes zu sehen. An der Station Neusser Straße/Gürtel, wo die Linie 13 hält. Ich habe es letztes Jahr im Rahmen der vom Verein MittwochsMaler e.V. organisierten "Under da bridge Jam" gemalt. Die Jam war eine großartige Aktion mit vielen Sprayern aus der Region und wird durch die Gestaltung der Pfeiler hoffentlich noch lange in Erinnerung bleiben. Solche Aktionen sind in Köln eher eine Seltenheit und schwer durchzuführen, da für die Stadtverwaltung Graffiti im öffentlichen Raum, legal oder illegal, eher ein Dorn im Auge ist als eine Verschönerung ihrer betongrauen Flächen. Sicher spielt hier auch die Lobbyarbeit der KASA, der Kölner Anti Spray Aktion, eine Rolle.
Semor: Es ist nicht unbedingt mein absolutes Lieblingsbild, aber dennoch eines meiner Bilder, das ich sehr mag. Das Piece ist in Aarhus, Dänemark, auf der "Aarhus Art Convention" entstanden. Die Wand befindet sich im Innenbereich des alten Güterbahnhofs Godsbanen, welcher nun ein Ort für Kunst und Kultur ist. Die Aufgabe lag darin, so wenig wie möglich mit Sprühdosen zu malen, da deren Geruch sehr lästig ist und wir direkt neben einem Restaurant arbeiteten. Ich hatte schon immer vor, eine Wand mit einer Kombination aus altem Holz, Farben und Formen zu gestalten. Mit einem Veranstalter zog ich los und wir sammelten jedes einzelne Stück Holz ein, das wir finden konnten. Unter anderem einen alten Kleiderbügel, der oberhalb des Kreises zu sehen ist. Ich hatte sehr viel Spaß dabei und seit diesem Bild male ich viel mehr in die Richtung. Eine sehr schöne Horizonterweiterung. Eines der schönsten Dinge dabei war es, neben CMP zu malen. Die dänische Oldschool-Legende hat meine Arbeit sehr gefeiert, was einfach die schönste Bestätigung in dieser Zeit war. Wir haben viel über Style und Weiterentwicklung gesprochen – einfach großartig!
kL52: Dieses Mural ist 2016 im Rahmen vom "GOHO Street-Art Weekender" an der Fürther Straße in Nürnberg entstanden. Ihr müsst euch vorstellen, dass es bis dahin in der Großstadt Nürnberg und der umliegenden Region kein weiteres Bild in dieser Dimension gab. Bekannte Gründe – zum Beispiel die Angst vieler Grundstücksbesitzer, dass ihre Häuser bald nichts mehr wert sind, oder fehlende Strukturen und Connections – sind hier wie so oft ausschlaggebend. Irgendwie lief aber im Herbst in Nürnberg alles zusammen. Da war auf einmal Jeff Soto aus Kalifornien im Rahmen einiger öffentlicher Graffiti-Aktionen zu Besuch und zur Eröffnung seiner Ausstellung in Nürnberg. Um ihn herum wurde dann dieses Streetart-Event gestrickt, auch wenn er letztendlich seinen Teil der Wand, das schwarze Smiley in der Mitte, recht fix in zwei Stunden fertig hatte. Den Rest übernahm ein von Julian Vogel, Nürnberges Streetart-Pate, zusammengestelltes Allstar-Team an regionalen Künstlern aus den verschiedensten Bereichen. Von Oldschool-Writer bis Punk-Artist ist, wie ihr sehen könnt, alles dabei. Außer dem Weltraum-Background und Sotos bekanntem Smiley in der Mitte gab es nur grobe Ideen im Vorfeld, wie die Wand gestaltet werden sollte. Letztendlich haben wir alle gefreestylet und in drei Tagen, teilweise in strömendem Regen, dieses Bild hingezimmert. Kurz gesagt: Es ist eine geile Wand geworden, die für unsere lokale Szene einen hohen symbolischen Wert trägt. Hier haben Leute zusammengearbeitet, die sich wahrscheinlich sonst nie über den Weg gelaufen wären. Und vor allem hoffen wir, dass durch diese Aktion in den nächsten Jahren endlich mehr Wände dieser Art in der Metropolregion entstehen können. Grüße gehen raus an alle Mitwirkenden: Jeff Soto, Julian Vogel, Kid Crow, Higner, Cris, Felix Pensel und Haks.One sowie JoeMadeThis, Cubr11, Zolart, Larissa, Noke One, Rubinstein, Leger, Acops und Disko.
Il-Jin "Atem" Choi: Es ist jetzt zwar nicht mein ultimatives Lieblingspiece, aber auf jeden Fall ein gutes. Es ist vor allem schwierig, wenn es um die eigenen Sachen geht, dies für sich zu deklarieren: Lieblingspieces von einem selbst haben wenn dann immer nur die anderen oder man selbst bei anderen. Ich habe ein relativ aktuelles von 2016 ausgewählt. Warum ist es gut? Primär, weil es sich um Buchstaben in Form eines selbst gegebenen Namens auf eine Wand gemalt handelt. Buchstaben sind schon mal exzellent. Ergänzend die Gestalt derselben sowie die technische Ausführung, die ich auch nicht schlecht finde. Ziel ist es normalerweise, dabei ein in sich geschlossenes System zu visualisieren – eine Behauptung aufzustellen: "MASEN". Masen war eines meiner ersten Tags, ungefähr im Jahr 1997. Und seit ein paar Jahren habe ich den Namen aus der Mottenkiste geholt und schön gepimpt beziehungsweise schnell aus der Hüfte geschossen. Dies gilt an und für sich für alle guten Pieces. Egal, von wem, ob legal oder klandestin – aus der Unendlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten herausgegriffen, idiosynkratisch moduliert und kommunikativ appliziert.
Boogie SML: Ich habe den Hang dazu, recht schnell unzufrieden mit meinen Artworks zu sein. Sei es eine Wand oder ein Zug. Wenn man die Sachen ein paar Monate oder Jahre später sieht, gibt es immer etwas auszusetzen. Allerdings gibt es zwei Wände, die ich nach wie vor ziemlich genau so malen würde. Die erste ist ein ziemlich simpler Boogie-Style, den ich 2015 in Lörrach gemacht habe. Der geht bei mir einfach rein. Klare, lesbare Buchstaben, angenehme Farben und trotzdem eine Portion Funk. Dazu die Message "California Dreaming", da ich zu der Zeit gerade von einer Reise aus Cali zurückkam und etwas Fernweh hatte. Ich steh' einfach auf diese simplen Sachen. Sieht übrigens in der Tat manchmal einfacher aus, als es ist. Die zweite Wand, die ich ausgesucht habe, ist ein etwas aufwendigeres Mural, das ich auch 2015 mit meinem Buddy Hombre SUK in Mannheim fabriziert habe. Es war unser erstes wirklich großes Mural – wir hatten aber nur zwei Tage Zeit dafür. Also entschlossen wir uns, etwas zu machen, was uns beiden einfach Spaß macht und worauf wir Bock hatten. Eine "Highest Carb"-Wall mit lauter ungesundem Süßkram: Donuts, Cupcakes, Kuchen, Bonbons et cetera. Und in der Mitte ein Hombre-Character, der zufrieden in einem dicken Donut sitzt. Für die erste Kollabo von Team Homboog gar nicht so schlecht, wie ich meine, und eigentlich der Grundstein für eine viel engere Zusammenarbeit zwischen uns beiden. Denn genau an dieser Wand haben wir erkannt, dass wir wirklich gut zusammenarbeiten können und uns hier und da einfach ergänzen. Spaß muss es machen!
Hombre SUK: Grundsätzlich ist es natürlich meistens so, dass einem aktuellere Arbeiten eher taugen als die alten Kamellen, aber wenn ich ein Stück picken müsste, dann wäre das dennoch 'ne Wand von 2015. Zum einen, weil ich sie nach wie vor mag, man sich daran aufgrund der Kleinteiligkeit auch nicht so schnell sattsieht und sie einfach unumstößlich was Positives ausstrahlt. Viel mehr aber, weil sie das verkörpert, was ich so an Graffiti und manchen Malern feiere. Zeitdruck im Nacken, außerhalb der Komfortzone – und dennoch erinnere ich mich an wenige Sessions, die so viel Spaß gemacht haben. So ganz nebenbei war das inoffiziell auch der Startschuss der Zusammenarbeit mit Partner Boogie. Die Wand entstand im Rahmen des "Stadt.Wand.Kunst"-Projekts in meiner Heimatstadt Mannheim. Steht auf einer ehemaligen Kaserne, in der aktuell Flüchtlinge untergebracht sind. Alles weitere Punkte, die ich klar auf die Plusseite packen würde.
(Anm. der Red.: Ein Video von der Entstehung des "Highest Carb"-Murals findet ihr hier.)
Cody: In Oldenburg gibt es jährlich das Stadtfest. Dort gibt es viele Bühnen mit verschiedenen Musikrichtungen. Mitunter gehört die "One Love HipHop"-Bühne dazu, die seit neun Jahren dabei sein darf. Und seit dem Sommer 2012 ist mein Bühnenbild als Wiedererkennungszeichen für die HipHop-Bühne fest etabliert.
DXTR: Dieses Mural trägt den Namen "Aesopica" oder "Aesops Fables". Es ist im Jahr 2016 in den USA in Louisville, Kentucky, entstanden. Ich mag es, versteckte Botschaften und Bedeutungen in die Symbole einzubauen, die ich male. In diesem Fall basieren die Elemente des Murals auf Geschichten des griechischen Fabulisten Aesop. Genauer betrachtet erzählt jedes Icon oder Panel eine Geschichte Aesops. Zum Beispiel die Geschichte von dem Fuchs und dem Storch, in der es darum geht, seine Mitmenschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Zusammen ergibt sich eine eher abstrakte Komposition aus kryptischen Symbolen. Leider ist die Wand zu lang, um sie auf einem Foto ganz zu zeigen, aber von der Bedeutung her ist dies einer meiner Favoriten.
(Anne Donohoe & Florence Bader)
(Fotos von Felix Pensel (kL52), Mikis Fontagnier (Hombre SUK), Atem (Il-Jin "Atem" Choi), Cody (ThisIsAnch), Semor (Semor), Bobbie Serrano (Bobbie Serrano), Tobo (Tobo), Frank Zappel (Frank Zappel), Grafik von Puffy Punchlines)