Wieso nur herrscht plötzlich einhellig die Meinung, die Türken seien für das Chaos allein verantwortlich? Die mögen ja den IS an der Grenze gewähren lassen haben und möglicherweise gab es darüber hinaus gehende Kooperation. Aber warum verlangt keiner von den Saudis oder Qataris da einzugreifen? Die meiste Unterstützung kam schließlich von dort. Und die Amerikaner sollen sich auch mal ein bisschen mehr ins Zeug legen, anstatt nur dumm rumzulabern. Die Umstände die von den USA in der Region geschaffen wurden, haben es den IS-Milizen erheblich erleichtert so abzugehen. Das kann niemand bestreiten. Aber ja, die Türken sind eben unsere Lieblingssündenböcke.
Die Türkei wollte ein Spieler im Nahen Osten sein, kein Spielball. Nachdem das Land unter Recep Tayyip Erdogan das Interesse an der EU und deren enervierendem Beharren auf Rechtsstaatlichkeit verloren hatte, wollte sie den Nahen Osten unter türkischer Führung neu ordnen. Von einer Wirtschaftsunion mit allgemeiner Reisefreiheit war die Rede. Stattdessen droht nun der Nahe Osten die Türkei neu zu ordnen. Der Kampf um die kurdische Stadt Kobane setzt sich auf den Straßen türkischer Städte fort. Diese Art des Gewaltimports bekommt freilich nicht nur die Türkei zu spüren. Auch Deutschlands Sicherheit wird jetzt nicht mehr erst am Hindukusch verteidigt, sondern gleich in Celle.
Folgen:
Die Türkei spürt die Folgen des Blutvergießens im Nahen Osten jedoch unmittelbarer als andere Nato-Staaten. Die Unruhen mit mehr als zwei Dutzend Toten waren womöglich nur ein Vorbote. Sollte Kobane ganz in die Hände der multiethnischen Terroristen des „Islamischen Staates“ fallen, können nur ein Massaker, eine Massenvertreibung oder beides die Folge sein. Denn die sunnitischen Radikalen wären Besatzer in einer Stadt, deren Bevölkerung ihnen unüberbrückbar feindlich gesonnen wäre.
Um Kobane dauerhaft zu kontrollieren, müsste der „Islamische Staat“ die angestammte Bevölkerung entweder töten oder vertreiben – was den Männern des Abu Bakr al Bagdadi sicher nicht schwerfiele. Gehen aber erst Bilder von Massentötungen und Flüchtlingstrecks in Kobane um die Welt, wird es selbst für die gemäßigten kurdischen Führer in der Türkei schwer, die Wut der Kurden einzuhegen und sie zur Mäßigung aufzurufen.
Ankara hat die Dschihadisten falsch eingeschätzt
Was also könnte die Türkei nun tun? Dass die Regierung ihre Soldaten nicht leichtsinnig in einen Krieg schicken will, lässt sich ihr nicht vorwerfen. Ein solcher Schritt stieße nicht allein bei den Gegnern der Regierungspartei AKP auf großen Widerstand, sondern aus anderen Gründen auch bei ihren religiös-konservativen Stammwählern. Die tun sich schwer mit dem Gedanken, dass in Syrien Muslime gegen Muslime kämpfen könnten. Für oppositionell gesinnte Türken wiederum gilt: Ankara hat die Dschihadisten in Syrien, als sie sich noch nicht unter dem Banner des „Islamischen Staates“ versammelt hatten, lange unterstützt und die Dynamik des Krieges in Syrien völlig falsch eingeschätzt.
IS-Miliz soll 40 Prozent von Kobane kontrollieren
Warum sollten türkische Eltern nun mitansehen, wie ihre Söhne für die außenpolitischen Fehleinschätzungen ihrer Regierung mit dem eigenen Leben einstehen müssen? Wenn es Ministerpräsident Davutoglu ernst ist mit dem Versprechen, sein Land wolle alles tun, damit Kobane nicht fällt, kann die Türkei aber auch ohne Kriegseintritt etwas tun, um den kurdischen Verteidigern zu helfen: Sie kann kurdischen Kämpfern aus den anderen Kurdenenklaven in Rojava oder aus den Kandil-Bergen in Südkurdistan gestatten über türkisches Territorium nach Kobane vorzudringen und sich den dortigen Kämpfern anzuschließen. Sie müsste dafür vor ihr Hoheitsgebiet querenden kurdischen Bewaffneten nur genauso die Augen verschließen wie zuvor vor den Islamisten, die in die Türkei kamen, um sich auf Kosten des türkischen Steuerzahlers in Krankenhäusern pflegen zu lassen, bevor sie wieder in den Dschihad zogen.
Die Türkei muss den Kurden erlauben, sich zu verteidigen
Doch die Türkei will den Kurden nicht einmal einen Bruchteil jener Hilfe zukommen lassen, die sie zumindest bis vor einiger Zeit radikalen Islamisten bot, solange diese nur gegen den syrischen Präsidenten Assad kämpften. Das Mantra türkischer Außenpolitik bleibt, dass in Syrien alles besser werde, sobald Assad gestürzt sei. Ob die Beispiele Libyens nach Gaddafi oder des Iraks nach Saddam Hussein das Vorbild dieser Denkschule sind, ist nicht bekannt. Fest steht, dass die Türkei den syrischen Kurden ein Bekenntnis zur sogenannten moderaten Opposition in Syrien abringen will. Doch auch in den Planspielen dieser arabischen Opposition für ein Syrien nach Assad spielen die Kurden keine Rolle. Sie sollen wieder majorisiert werden. Kein Wunder, dass die Kurden sich zurückhalten.
Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu versprach, dass Kobane nicht fällt
Ahmet Davutoglu, der Präzeptor der nun ziemlich alt aussehenden neo-osmanischen Politik, hat vor einiger Zeit Verständnis für die Kämpfer des Islamischen Staates bekundet und behauptet, dass es sich um Männer handele, die weniger „terroristisch“ als vielmehr „terrorisiert“ seien. Sie seien als junge Sunniten im Irak ausgegrenzt worden, daher die Radikalisierung. Folgt man Davutoglus Logik, sind die Kämpfer der PKK erst recht keine Terroristen, sondern nur terrorisierte junge Kurden, die in der Türkei ausgegrenzt werden wie schon ihre Eltern und Großeltern. Nun müssen sie erleben, dass die Türkei, die sich doch vermeintlich in Friedensgesprächen befindet mit den Kurden, den Verteidigern Kobanes selbst jene Hilfe verwehrt, die sie den Islamisten angedeihen ließ.
Die Türkei muss den Kurden wenigstens erlauben, sich zu verteidigen. Kobane ist das Nadelöhr des Friedensprozesses zwischen Türken und Kurden. Doch derzeit geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass kurdische Kämpfer und Waffen nach Kobane gelangen. Sollte Kobane fallen, wird nicht nur Kobane fallen.