Wenn es draußen langsam wieder kälter wird und sich das Jahr dem Ende neigt, blickt man selbst ja gerne mal zurück und lässt die vergangenen Tage Revue passieren. Wir möchten mit unserem diesjährigen Adventskalender einen Blick zurückwerfen – von heute bis hin zu den Anfängen von HipHop in Deutschland. Sprich: knapp ein Vierteljahrhundert deutscher Rap. Eine Szene, die Mitte der 90er unter anderem "direkt aus Rödelheim" kam, aus dem "Fenster zum Hof" kletterte, sich "vom Bordstein zur Skyline" aufschwang und "zum Glück in die Zukunft" reiste, um sich letztlich zwischen ein paar "Palmen aus Plastik" niederzulassen. Kein Element der hiesigen HipHop-Kultur dürfte in all den Jahren einen so gewaltigen Wandel, so viele Höhen und Tiefen, so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt haben wie Rap. Genau diese Entwicklung innerhalb der letzten 24 Jahre möchten wir nun für Euch skizzieren, indem wir jedes Jahr anhand eines Albums darstellen, welches – unserer Meinung nach – nicht nur das entsprechende Veröffentlichungsjahr, sondern auch die Szene allgemein nachhaltig prägte.
1995: Advanced Chemistry – Advanced Chemistry
Ich weiß noch genau, wie das alles begann:
'The Message' von Melle Mel war für mich wie ein Telegramm.
Dass es MZEE.com heute überhaupt gibt, liegt wohl großteils an der Gründung von MZEE Records Anfang der 90er. Diese ist wiederum ganz eng mit einem Namen verknüpft: Advanced Chemistry. Da zum damaligen Zeitpunkt kein Major die Musik der Heidelberger veröffentlichen wollte, wurde das Independent-Label zu diesem Zweck ins Leben gerufen. Doch nicht nur mit unserer Plattform ist die Heidelberger Crew dadurch auf ewig verbunden, sondern mit der gesamten deutschen HipHop-Kultur. Ihr selbstbetiteltes Debütalbum ist dafür das unumstößliche Zeugnis.
Schon die Klänge des Openers machen deutlich: "Advanced Chemistry" ist ein HipHop-Manifest voll knallender Breakbeats und Soundelementen aus Funk, Soul und Afrojazz. Hinzu kommen Scratches und Cuts von DJ Mike MD, die den gleichen Raum bekommen wie die Texte der MCs und Shoutouts an B-Boys und Graffiti-Crews – mit wirklich jeder Faser präsentiert sich das Werk als eine Übersetzung der Subkultur aus dem Amerikanischen ins Deutsche. Allerdings kopieren AC den Stil aus den USA nicht einfach, sondern transferieren ihn ansprechend in den hiesigen Kontext. Mit sprachlicher Vielfalt und abwechslungsreichen Flowpassagen tragen Linguist, Gee-One und Torch eindrücklich ihre Texte vor. Doch gerade Toni L brilliert durch sein Talent, Reimketten nicht nur mit Wörtern, sondern auf einzelne Silben innerhalb mehrerer Zeilen zu bilden. Neben der Technik lebt "Advanced Chemistry" aber besonders von den dargebotenen Inhalten. Tracks wie "Alte Schule" oder "Kapitel 1" vermitteln der Öffentlichkeit, wie HipHop in den Augen der Heidelberger zu sein hat. Vor allem der Unity-Gedanke, als Teil des Movements etwas zu bewegen und Rivalitäten als Competition in einer der vier Disziplinen zu klären, steht hier im Vordergrund. Dass damit allerdings auch eine klare Abgrenzung von der Pop-Industrie einhergeht, wird auf Titeln wie "An das Publikum" deutlich. Das Einnehmen einer klaren Haltung ist eben der rote Faden, der sich durch die Platte zieht. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass man sich auch gesellschaftlich positioniert – etwa mit dem bereits 1992 veröffentlichten Track "Fremd im eigenen Land", der auf alarmierende Weise die damals wieder aufkeimende Ausländerfeindlichkeit anprangert.
Wenn man die Entstehung von HipHop und Rap in Deutschland verstehen will, kommt man um eine Auseinandersetzung mit "Advanced Chemistry" nicht herum. Das Album verkörpert den damaligen State of Mind einer Szene, die sich von den Missständen einer Gesellschaft abgrenzen wollte, in der sie ohnehin (noch) kein Gehör fand. Gleichzeitig präsentiert es den Ursprung einer Kultur, die in den Folgejahren immer mehr Bedeutung erlangen sollte.
(Sascha Koch)
(Grafik von Daniel Fersch)