"Was?! Du kennst das nicht? Sekunde, ich such' dir das mal raus." Und schon öffnet sich die Plattenkiste. Wer kennt diesen Moment nicht? Man redet über Musik und auf einmal fällt ein Name – egal ob von einem Song, einem Künstler oder einem Album – mit dem man nicht so recht etwas anzufangen weiß. Und plötzlich hagelt es Lobpreisungen, Hasstiraden oder Anekdoten. Gerade dann, wenn der Gesprächspartner ins Schwärmen verfällt und offen zeigt, dass ihm das Thema wichtig ist, bittet man nicht allzu selten um eine Kostprobe. Die Musik setzt ein und es beginnt, was der Person so sehr am Herzen zu liegen scheint. In diesem Fall – was uns so sehr am Herzen liegt: Ein Auszug aus der Musik, mit der wir etwas verbinden, die wir feiern, die uns berührt. Ein Griff in unsere Plattenkiste eben.
Als 2001 Azads Debütalbum "Leben" erschien, befand ich mich gerade in der Frühphase der Pubertät – eine Zeit, die wohl bei jedem jungen Menschen neben Gefühlshöhen auch von schwierigen Phasen geprägt ist. Um mit Zweitgenannten zurechtzukommen, kam mir der düstere Rap aus Frankfurt am Main gerade recht.
Nachdem ich zum ersten Mal das Video zu "Gegen den Strom" im Fernsehen gesehen hatte, war ich schlichtweg geschockt. Dermaßen kompromisslose Musik hatte ich bis dato noch nicht gehört. Hier schien es nicht darum zu gehen, etwas Schönes oder leicht Verdauliches zu präsentieren, sondern um das Kanalisieren negativer Energie. Ich bemerkte, dass auch ich wütend war. Zwar nicht auf Wack MCs, aber auf meine Umwelt und mich selbst. Neben knochenharten Bangern wie dem bereits genannten "Gegen den Strom", "Rapresentieren" an der Seite von Curse oder dem Posse-Cut "Unaufhaltbar" waren auf dem bahnbrechenden Album auch die höchst introspektiven Songs "Leben" und "Freiheit" vertreten. Hier findet man kaum eine Zeile, die nicht voller Inbrunst gerappt ist. So wird ein Lebensschmerz offenbart, den man auch dann nachempfinden kann, wenn man selbst weder auf der Straße aufgewachsen ist, noch als im Ausland geborenes Flüchtlingskind nach Deutschland kam. Was meine tiefe Verbundenheit zu dem Werk damals jedoch krönte, war "Hip Hop" – eine Ode an unsere Kultur, die die Liebe zur Sache in eindringlicher Intimität beschreibt und in ihrer Emotionalität bis heute kaum erreicht wurde.
Der brachiale und melancholische Sound von "Leben" wurde in der Folgezeit zur Blaupause für die Frankfurter Rapszene sowie zum Grundstein für den aufkeimenden Straßenrap des gesamten Landes. Für mich jedoch wird es immer das Album sein, das mir dabei half, tief in mir verankerte, unterdrückte Gefühle zu entdecken und zu verarbeiten. Dass es sich bei dem komplett von Azad selbst produzierten Werk um einen lupenreinen Klassiker handelt, sei hier lediglich noch als Randnotiz erwähnt.
(Steffen Bauer)