Supreme Clientele
VÖ: 08.02.2000
★★★★★
Zwischen 1996 und 2000 ist eine Menge passiert beim Ironman und auch im Wu-Tang-Clan: Die einflussreiche Gruppierung manövrierte sich innerhalb kürzester Zeit ins Abseits, indem der zweite Schwung an Soloalben von Raekwon und Co. durchweg enttäuschte. Die kommerzielle Aufmerksamkeit galt Shiny Suit Raps von Bad Boy, Jay-Z und Roc-A-Fella, DMX und Ja Rule. Der düstere Sound wich einem elektronischen, mit welchem die Wu-Member offensichtlich nur wenig anfangen konnten.
Ghostface Killah hatte nach seinem Solodebüt mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen: Sein Diabetes-Leiden verschärfte sich, zudem fürchtete sich der Teilzeit-Trinker und Angel-Dust-Raucher permanent vor einer potentiellen – wie kann es anders sein – AIDS-Infektion. Der Medizin der westlichen Welt misstraute er, weshalb er im Herbst 1997 nach Benin in Westafrika pilgerte und dort vier Monate in einem abgelegenen Dorf verweilte. Obskure Bush-Doktor-Behandlungen sind wohl nur die Spitze des Eisbergs gewesen: In Benin erlebte GFK, der außer seine Staten-Island-Hood noch nichts von der Welt kannte, nicht nur eine Art Wiedergeburt, sondern diverse surreale Momente.
„Wary of Western medicine, Ghostface flew to Benin to be treated by a bush doctor in a remote village several hours outside of Cotonou, the nation’s most populous city. Running water was non-existent. The inhabitants lived in mud huts and slept on the floor. When the RZA showed up to meet Ghostface, he saw his bandmate materialize in a dashiki, full beard, and unkempt hair puffed out.“
Zudem musste Ghostface 1998 inmitten der Aufnahme- und Produktionsarbeiten zur zweiten Soloplatte wegen illegalen Waffenbesitzes vier Monate auf Rikers Island schmoren. In der Zelle entstanden intensive Lyrics und formten den Charakter weiter.
„Check out the grays on the side of my waves
I grew those on Rikers Island
Stressed out, balled up in the cage“
All diese Ereignisse und neuen Erfahrungen führten schlussendlich zu dem einflussreichen Album Nummer 2: „Supreme Clientele“. Eine absolut wahnwitzige LP, die man nicht in Worte fassen kann, sondern einfach erleben muss, auch wenn man die Hälfte der Lyrics inhaltlich überhaupt nicht versteht und die Beats teilweise so ungewöhnlich sind, dass man schon beinahe von Avantgarde-Rap sprechen kann.
RZA, der sich aus den anderen Soloalben zu der Zeit weitestgehend herausgehalten hat und sich in sein komisches „Bobby Digital“ Projekte flüchtete, hat seine Fingerspuren auf der gesamten LP hinterlassen und sorgt für geniale Momente, wenngleich die anderen Produzenten JuJu (von den Beatnuts), RZA-Zögling Mathematics, The Blaquesmiths, Carlos Bess, Haas G, Six July von Bad Boy und Inspectah Deck himself für ebenso gelungene Instrumentals sorgen – die von RZA eben verfeinert wurden. GFK und das Wu-Mastermind verfolgten eine klare Vision mit übersteuerten, Soul-lastigen, verrückten Beats und Flips.
Ghostface entwickelte seinen Schreibstil dahingehend weiter, vornehmlich in Insidern, hochgradig seltsamen Vergleichen und Slang-Fetzen zu sprechen, die nur er selbst versteht. Er vergleicht seine Kunst dabei mit Gemälden: Wenn ein Maler einen fetten Klacks Farbe auf eine Leinwand haut, sehen 99,99% der Weltbevölkerung keinen Sinn dahinter – der Künstler aber schon, und darauf kommt es letztendlich an.
Der Opener „Nutmeg“, dessen Lyrics in Benin entstanden sind, ist einer der besten Eröffnungssongs aller Zeiten und bringt das Album in all seinem Wirrwarr perfekt auf den Punkt. Dieser Mann rappt in Rätseln und ich habe Ewigkeiten gebraucht, das meiste davon zu entschlüsseln (dank Genius geht das mittlerweile ganz gut). Legendär:
„But Ton' Stizzy really high, the vivid laser eye guy / Jump in the Harley ride, Clarks, I freak a lemon pie“. Der Beat, einer der dopesten der Rapgeschichte, wurde übrigens von seinem Frisör (!) produziert – die einzigen Credits, die diese unbekannte Gottheit jemals für eine Produktion erhielt.
„One“ ist einer der bekanntesten Ghostface-Tracks überhaupt und beschreibt in kreativer und detailverliebter Art und Weise seine Hood. Der Track kommt mit bizarren Essensvergleichen daher:
„We at the weed gate waiting for Jake, we want eight ravioli bags“ oder
„Rhymes is made of garlic“ Lachkick. Die Verses sind FEUER, genauso wie das nach vorne trabende Instrumental, das einen Hauch Pimp-Shit versprüht.
Kurz zum Thema Pimp-Shit: GFK sportete in diesen Jahren fast schon lächerliche Pelzmäntel, Hüte und auch diese Adler-Bracelets. Seine ganze Erscheinung war einfach völlig krank und nahm dem Cam’ron’schen Dipset Style einiges vorweg. In einem dieser Outfits sprach Ghostface auch einmal über seine Erkenntnisse aus Benin:
„Fuck all this Tommy Hilfiger, Polo…all this shit…they don’t give a f0ck about none of that over there. […] They might be f0cked up, money-wise, but trust me, them muthafuckas is happy, man. Them ni66as in harmony ‘cause they got each other.” WTF!
„Saturday Nite“ ist ein Story-Track, der reale Ereignisse aufgreift: Der Wu-Tang-Clan wurde Ende der 90er vom FBI wegen des Verdachts auf illegalen Waffenverkauf observiert. Sie schmuggelten sogar einen V-Mann-Fake-Manager in den Clan hinein, der aber aufflog. Auf dem Song beschreibt der Wallabee Champ, wie er an einem Samstagabend von entsprechenden Autoritäten belästigt wird. Hochgradig unterhaltsam.
„Ghost Deini“ ist ein Representer, der in der Hook 2Pac, Biggie und Marvin Gaye huldigt. Hier macht er klar, dass er zurück ist und den Clan quasi im Alleingang relevant hält.
„How the fuck was y'all niggas thinkin'?
You think I fell off the ledge?
The legendary Ghost Deini might be dead?
Never, impossible, pull out black burners like tonsils“
„Apollo Kids“, die bekannte zweite Single, lässt das Tag Team mit Raekwon wieder aufleben und liefert treffsichere, stark homophobe und Slang-heavy Bars.
„Chicken and broccoli, Wally's look stink!“
Auf „Grain“ flippt RZA zwei Samples mit Scratches, alte Chamber-Feelings kommen wieder hoch. Ghostface rappt mal wieder in Rätseln: Papst Johannes Paul der II. hat das dickste Bling Bling, Queen Elizabeth streichelt sein Bein und er hinterlässt von seinem Whopper einen Ketchup-Fleck auf ihrem Kleid. Oder so. Ghostface’s Flow ist unfassbar. „Buck 50“ ist der erste Posse-Cut auf dem Album, geht soundtechnisch in eine ähnliche Richtung und wartet mit starken Verses von Method Man und Redman auf (Cappadonna fällt hörbar ab). GFK hat hier einige krasse Lines, z.B. die weiter oben genannte
„Check out the grays“.
„Mighty Healthy“ ist die Lead Single des Albums und kommt mit einem verrückten, harten Beat daher, auf dem die Lyrics einmal wieder stellvertretend für all das konfuse Rumgehabe sind. So macht er Nonnen zu Five-Percentern und hetzt auch gegen Schwule. Viele Vergleiche zu zeitgenössischen Persönlichkeiten aus Sport, Fernsehen und Co. Ein sehr einflussreicher Track, von dem u.a. Kanye West stark inspiriert wurde.
„Stay True“ hat einen von Inspectah Deck produzierten Überbleibsel-Beat, den Ghost aber in unnachahmlicher Art an sich reißt. Es ist jetzt kein großes Highlight, eher eine Art Skit über die harten Straßen. „We Made It“ hätte ein Ghostface-Hit sein können, die Feature-Parts von Hell Razah, Superb und Chip Banks ziehen das Ding aber etwas herunter. Dennoch passt der Song perfekt in das Album hinein und der GFK Verse ist großartig, alleine schon der Einstieg…
„Yo, spotted at The Mirage, Ghostface swarmed by groupies
Mingle among stars, I come in cat, invades Mars
Highlight of the century, first bet placed upon entry
Fainted when the book mentioned me“
„Stroke of Death“ ist eine bekannte und einflussreiche Nummer, die bis heute oft genannt wird Der Beat ist geisteskrank: Die ersten Sekunden des Samples werden hörbar gescratcht, eine Herausforderung für jeden MC. Laut Raekwon hat sich Ghostface immer mit Absicht solche Beats gepickt, um sich selbst zu challengen. Hier zeigt sich, dass es GFK nie auf einen kommerziellen Hit abgesehen hat, sondern die Kunst im Vordergrund stand und er nicht zum massenkompatiblen Def Jam passte – aber bei den späteren Alben gibt’s mehr dazu.
„Malcolm“, in dem sich GFK fiktiv in die Rolle des Malcolm X hineinversetzt, ist für mich das Highlight auf der Platte. Staubtrockene Snares, minimal verarbeitete Samples mit vollem Fokus auf die Lyrics und den Flow. Er greift auch die Auseinandersetzung mit Mase auf, dem mal elegant von I-Cham der Kiefer gebrochen wurde. Mase war zu der Zeit einer der heißesten Acts überhaupt im Rap-Game, das gilt es zu beachten.
„Child’s Play“ ist ein immens unterhaltsamer Song über Schulhof-Romanzen und bringt mich immer noch ungläubig zum Lachen. Er verwendet so verniedlichende Kinder-Wörter wie „Ding-A-Ling“ statt C0ck und erzählt abstrus-witzige Geschichten aus dem vermeintlichen Alltag eines Heranwachsenden.
„Paper trays, city wide test, made half a days / Shooting puppy water, might hump the pillow, dick a inch taller“ oder
„Got jealous when she kissed Rob / I broke her Chick-O-Sticks“ HAHAHA, Gottverdammt.
„Cherchez La Ghost“ ist eine Art Radio-Single, die damals ein voller Erfolg war. Der Track lebt natürlich vom Gesang der mir unbekannten Dame, aber GFKs Flow ist krass, obwohl die Parts jetzt nicht herausragend sind. Das Video ist legendär, in welchem Tony einen knallgrünen Pelzmantel und einen Wrestling-Titel trägt, während er lässig durch einen Flur stolziert. Top!
„Wu Banga 101“ ist zum Abschluss noch einmal ein klassischer Wu-Tang-Clan-Representer mit GZA, Raekwon, Cappadonna und Masta Killa. GZA hat einen sehr starken Part und Ghostface ist mal wieder verrückt beim Einstieg:
"Bottles goin' off in the church, we broke the wine / Slapped the pastor, didn't know Pop had asthma“. Eine sehr schöne Kollabo.
Zu den Skits: Sie sind ganz witzig, aber auf Dauer skippt man sie natürlich wie bei eigentlich fast jedem Album. Dennoch sind sie dem „Film“, den GFK und RZA hier abspielen, sehr zuträglich. Erwähnenswert ist der "Clyde Smith" Skit, auf dem ein runtergepitchter Raekwon auf
50 Cent's "How to Rob" antwortet.
Das war jetzt mal der Versuch, eines meiner Lieblingsalben gebührend in Worte zu fassen, wobei das natürlich sehr schwer ist. Supreme Clientele ist eines der markantesten und besten Rap-Platten aller Zeiten, das mit den Soul-Samples direkt den Kanye-Sound inspiriert hat, der ab 2001 mit Blueprint das Game prägen sollte. Das Album hat so viele Artists und Heads generell beeinflusst, das kann man alles nur erahnen. Dennoch wird es nur selten genannt, wenn es um die besten Rap-Alben aller Zeiten geht. Ghostface performt mit einem aberwitzigen Rap-Stil voller kryptischer Begrifflichkeiten und Vergleichen. Der Flow ist on top, der Vortrag energisch, aggressiv, aber immer mit einem Augenzwinkern versehen.
Wenn man mit unterhaltsamen, verrückten Raps etwas anfangen kann und dazu auf soulige, warme, aber trotzdem harte und trockene Beats steht, ist Supreme Clientele wohl bis heute eines der besten Alben aller Zeiten, für mich auch Genre-übergreifend. Feinste Unterhaltung.