Sido - Ich
VÖ: 01.12.2006
Label: Aggro Berlin
Es gibt nicht viele Alben auf die ich so sehr gewartet und gespannt war wie auf das zweite Album von Sido. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, dass das Paket von Aggro Berlin erst einen Tag nach Release bei mir ankam und ich am Veröffentlichungstag wie so ein Groupie die ganze Zeit auf die Post gewartet habe, doch es kam einfach nix. Samstagvormittags war es dann soweit, ein in Aggro-Weihnachtspapier eingepacktes Paket lag auf der Treppe, gefüllt mit der Premium Edition von "Ich", der "Weihnachtssong"-Single und ich glaube noch ein paar kleineren Goodies (Poster + Sticker).
Let's go, CD in den Rechner, Subwoofer auf volle Pulle. "Intro", Siggi wird geboren und war damals schon ein kleiner Pisser. Ok, "Goldjunge". Stefan Raab, woooaaah! Alter, wie startet dieser Beat!! Diese Hook, verdammt!!! Gänsehaut!!!! Wenn das Album so weiter geht, dann ist das hier das beste Album aller Zeiten!!!!! "Strassenjunge" kenn ich schon, ah, Alpa Gun ist noch dabei, cooler Typ. Peilermann & Flow, witzig, aber jetzt weiter mit Mucke. "Schlechtes Vorbild", haha, Sido scheißt drauf was die Leute von ihm halten und gibt dann sogar noch einen Appell an unsere Eltern. Jetzt ein Track mit Massiv. Neee, brauch ich nicht. Ok, cool ist der schon irgendwie. Paul NZA und Marek Pompetzki machen aber auch echt geile Beats. "Bergab", geile Stories, sowas gabs von Sido bisher gar nicht. "Ein Teil von mir", alter, jetzt wirds aber ruhig. Ah, dass ist der Track für seinen Sohn, pure Gänsehaut. Sido kann also auch richtig persönliche Songs. "Ich kiff nicht mehr", whuuut, Sido kifft nicht mehr, will der jetzt zum Vorbild werden? "1000 Fragen", ok, wieder was nachdenkliches. "Ich hasse dich", paff, direkt wieder auf die Fresse. "Mein Testament", erst nur mit Piano im Hintergrund, Gänsehaut, Beat baut sich auf, Sido vertont sein Testament und vermacht seiner Familie und den Aggro-Kollegen sein Vermögen. Meisterwerk! "F****n", zack, gehts wieder rund. Dieser Tony D nimmt echt kein Blatt vor den Mund und brüllt in Lil Jon-Manier alles raus was geht, oooh, und mit Kitty Kat macht sogar ne Frau mit, die klingt schon echt geil, sieht bestimmt auch geil aus. "Rodeo" mit Peter Fox, klingt komisch, aber ballert schon irgendwie. Haha, jetzt disst er auch noch Sarah Kuttner und singt. "A.i.d.S. 2007", was schon der letzte Track? Aber cool, doch noch ein Part von Bobby. Jetzt noch die zweite CD, ist ja die Premium. Neee, nochmal von vorne. Klassiker, 5/5, bestes Deutschrap-Album aller Zeiten.
Das war die Sicht vom 19-jährigen Junior Chimp, doch ein Battle of the Ear hat natürlich zwei Sichtweisen und der über 30-jähriger Mister Chimp sieht das Ganze dann doch etwas kritischer. Battle of the Ear, Teil 2:
Ein Deutschrap-Klassiker ist "Ich" für mich auch fast 15 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch. ABER, der Unterschied zwischen Rap-Klassikern aus den USA und Deutschland ist ein enormer. Alben wie u.a. "The Chronic", "Illmatic" und "Doggystyle" sind Meisterwerke, musikalische Geniestreiche und zeitlos. Deutschrap-Klassiker füllen diese Kriterien in den seltensten Fällen (was die weiteren Threads hier ja teilweise auch verdeutlichen) und wirken meist aus der Zeit gefallen, die Höchstwertung wird auch nur von den absoluten Hardcore-Fans vergeben und trotzdem zählt Sidos zweites Album zu den wichtigsten Alben der deutschen Rap-Historie und war Sidos Brücke in den Pop-Mainstream. "Ich" war aber auch spätestens der Punkt, an dem sich alte Fans der Royal TS- und A.i.d.S.-Alben zurückgezogen haben. Das Sido nicht auf ewig den grimmigen Mann hinter der Maske spielen wird war aber bereits früher absehbar. Immerhin hat er bereits in seinem ersten JUICE-Interview zum "Maske"-Album erzählt, dass er in einer Boyband singen würde, wenn er das Talent gehabt hätte. Soweit ist es zumindest 2006 noch nicht gekommen, "Ich" sollte mehr von der Person hinter der Totenkopfmaske erzählen, ohne diese komplett abzulegen.
Ein Wandel hat sich bereits mit der ersten Single bemerkbar gemacht. Zwar wirkt "Strassenjunge" (in der Singleversion ohne Alpa Gun) immer noch provokant, Sido versucht aber offensichtlich sein Gangster-Image abzulegen. Die Produktionen, hauptsächlich von Paul NZA & Marek Pompetzki, sind ebenfalls massentauglicher geworden. Paradebeispiel dafür die dritte Singleauskopplung "Schlechtes Vorbild". Poppiger Beat, Rockelemente, zum Kopfnicken animierend. Sido stellt sich als bösen Buben dar und sieht ein, dass er mitnichten ein gutes Vorbild für Kinder und Jugendliche ist, hinterfragt aber auch deren Eltern, die wahrscheinlich auch nicht immer die bravsten Lämmer waren. Kann man machen, muss man aber nicht.
Der Album-Opener "Goldjunge" zählt weiterhin zu meinen Lieblingstracks von Sido. Alleine wie sich das Instrumental von Paul NZA & Killian aufbaut und Sido mit der Hook einsteigt ist schon krass. "Ein Teil von mir" finde ich auch heute noch eine schöne Geste an seinen Sohn und das Sido damals noch die Kurve gekriegt und seinen Sohn gefunden und unterstützt hat, nachdem er zwei Jahre zuvor nicht einmal wusste wo dieser lebt, ist ebenfalls eine gute Sache. Insgesamt wirkt der Song aus heutiger Sicht aber schon etwas dramatisch aufgezogen. "Bergab" hingegen zählt zu den besten Tracks die Sido in seiner Karriere geschrieben hat. Part eins handelt von einem erfolgreichen Ticker, der später erschossen wurde, in Part zwei thematisiert er eine 14-jährige die an einen Junkie gerät, ebenfalls abhängig wird, geschwängert wird und nach einem tritt in den Bauch überlebt schlussendlich das Kind, die Mutter stirbt bei der Geburt. Im dritten Part geht es um Sido selbst, der an seinem Erfolg klar machen möchte, dass man auch aus dem Viertel ausbrechen kann. Der Remix auf der Premium Edition ist ebenfalls empfehlenswert. Einer der besten Tracks aus heutiger Sicht ist meiner Meinung nach "Ihr habt uns so gemacht", auf dem Massiv wie die Faust aufs Auge passt. Auch "Nie wieder" mit G-Hot und "Ich hasse dich", die damals bei mir komplett untergegangen sind, gehen definitiv klar. "Mein Testament" hat dagegen seinen Zauber verloren, was wohl auch daran liegt, dass er mit den meisten dort erwähnten Erben nichts mehr zu tun hat.
Gar nicht mehr klar geht "F****n". Solche Thematiken wirken auf deutsch immer komisch, hier wird das aber echt noch getoppt, Tony D kompletter Absturz. Und nein, Kitty Kat ist nicht geil. Warum Sido uns erzählt das er nicht mehr kifft auch äußerst seltsam, "Rodeo" ist ein kläglicher Versuch der Popwelt etwas näher zu kommen (wundert mich, dass der nicht als Single inkl. Video kam, vielleicht war das Peter Fox dann doch etwas zu riskant), der gesungene Diss-Track gegen Sarah Kuttner, die zu dieser Zeit gegen deutschen Hip Hop und Sido geschossen hat, ist höchstpeinlich und "1000 Fragen" ist ein Track der zwar ein Thema verfolgt, aber komplett inhaltslos daherkommt.
Hätte ich "Ich" heute zum ersten Mal gehört gäbe es natürlich weder die 5/5 von damals, noch die 4/5 die ich hier jetzt vergebe. Da ich aber was Musik angeht ein nostalgischer Mensch bin, kann ich vielem hier noch einiges abgewinnen und drücke wahrscheinlich unbewusst das ein oder andere Auge zu. Genau aus dem Grund auch das Battle of the Ear, um die hohe Wertung etwas zu erklären. Punkt! Und danke fürs lesen...
Anspieltipps: "Goldjunge", "Strassenjunge [Feat. Alpa Gun]", "Ihr habt uns so gemacht [Feat. Massiv]", "Bergab"