Sonneborn: Ja. Müsste.
WELT: Die Partei „Die Partei“, der sie angehören warb 2019 mit dem Wahlkampf-Slogan „Für Europa reicht‘s“. Gilt das heute immer noch, dass die Maßstäbe hier andere sind? Heute morgen im Air-Belgium-Flug von Berlin nach Brüssel saß in Reihe 2, Gangplatz, Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit aufgeklapptem Laptop. Sie kandidiert bei den Europawahlen im Juni für die FDP.
Sonneborn: Ich wundere mich, dass Frau Strack-Rheinmetall sich nicht von einem Kampfflugzeug abwerfen lässt. Wenigstens reist sie in der Business Class wie die Grünen. Ich habe das auch einmal getan, um zu sehen, wie das ist. Dabei wurde ich so oft mit Champagner in Plastikbechern behelligt, dass ich nicht zum Schreiben kam. Die FDP-Rüstungslobbyistin wird hier offene Türen einrennen, die EU ist schon seit Jahren auf einem Kurs der Militarisierung – obwohl der Vertrag von Lissabon das ausdrücklich untersagt. Atombombe und Austerität, also Milliarden in die Aufrüstung und Sparzwang bei Sozialem, Bildung, Infrastruktur – das ist übrigens für Gesellschaftsforscher ein todsicheres Rezept für soziale Unruhen.
WELT: Zersplitterung ist der große Trend in der Parteienlandschaft. Das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Werteunion haben sich neu gegründet, die traditionellen Parteien schrumpfen. War „Die Partei“, 2004 von Ihnen gegründet, ihrer Zeit voraus?
Sonneborn: Vermutlich. Waren wir oftmals. Zur vergangenen EU-Wahl standen wir mit illustren Namen auf dem Stimmzettel: Bombe, Krieg, Bormann, Eichmann, Keitel, Heß… Wir haben Krieg und Rechtsruck vorweggenommen. Und das AfD-Erfolgsrezept – mit Inhaltsleere, Populismus, Dagegensein Protestwähler abzufischen – stammt ja ebenfalls von uns. Ich bin allerdings irritiert darüber, dass die AfD damit locker über 20 Prozent kommt und wir in den Umfragen deutschlandweit bei 1,5 Prozent stehen. Zumal wir 1,6 Prozent brauchen für zwei Sitze. Wir wollen eine Million Stimmen, dann landen wir wahrscheinlich bei rund 2,5 Prozent. Die Linke liegt laut den letzten Umfragen ohne Wagenknecht auch nur noch bei 4,5 Prozent, die FDP bei 3 Prozent.
WELT: Zumindest der Wiedereinzug des Abgeordneten Martin Sonneborn ist aber gesichert?
Sonneborn: Sicher ist der nicht. Wenn ich drei Tage vor der Wahl einen schlechten Witz mache, verliere ich die Twittergemeinde.
WELT: Wie beurteilen Sie die Debatte um ein Verbot der AfD?
Sonneborn: Ich habe kürzlich im Parlament eine Rede dazu gehalten und gesagt: Natürlich bin ich für ein Verbot der dämlichen AfD. Aber aus Gründen der Demokratiepflege sollten wir anschließend auch die Grünen verbieten, die CDU, CSU, FDP und auch die letztmalig an Wahlen teilnehmende SPD. Ich habe in der Rede übrigens auch die Remigration von Ursula von der Leyen gefordert.
WELT: Das deutet darauf hin, dass Sie einen Ausschluss der AfD eher kritisch sehen.
Sonneborn: Ich bin kein Jurist, aber nach meinem Rechtsstaatsverständnis ist es nicht zulässig, eine populistische Partei zu verbieten, deren Wählerschaft sich zwar zu einem Teil aus national eingestellten Deppen, zu einem anderen aber aus Protestwählern zusammensetzt. Wir hätten da übrigens noch eine andere Partei im Angebot, die eigens als intelligente Protestpartei gegründet worden ist …
WELT: Kein Wahlkampf bitte, zurück zur AfD-Debatte!
Sonneborn: Ich glaube, dass diese Debatte von beiden Seiten unseriös geführt wird – und dass sie beiden Seiten nützt. Wir haben eine unfähige Regierungskoalition mit eklatantem Fachkräftemangel in den Spitzenpositionen, die gegen die Interessen von sechzig Prozent der Bürger Politik macht. Davon soll die Verbotsdiskussion offenbar ablenken. Die AfD wiederum profitiert von der Debatte, weil sie ihr Zustimmung verschafft. Wir nennen es den „Trump-Effekt“. Es wäre doch einmal an der Zeit, dass die Demokraten in der Bundesregierung sich mit den Ursachen des Zuspruchs, den die AfD erfährt, auseinandersetzten, anstatt über Möglichkeiten zur Parteiauflösung nachzudenken. Dadurch verschwinden ja die Wähler nicht, und die Probleme bleiben ungelöst.
WELT: In Reaktion auf die AfD schließen sich die Reihen in der deutschen Politik: Demokraten gegen Demokratiefeinde, so lautet die Parole.
Sonneborn: Ich halte das für Quatsch. In der EU interessiert die Abgrenzung nach rechts niemanden. Erst recht nicht die Kommissionspräsidentin, sie hat sich ihre Mehrheiten von Anfang an bei Rechtsradikalinskis aus Ungarn und Polen beschafft. Gerade hat sie Bilder verbreiten lassen, auf denen sie die italienische Neofaschistin Giorgia Meloni umarmt – und gegen die Fratelli d‘ Italia wirken die meisten AfDler wie Chorknaben.
Die Asyl- und Migrationspolitik, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten betrieben wird, ist furchtbarer als alle feuchten Träume der AfD. Sie sorgt dafür, dass Asylbewerber nicht in die EU gelangen, sondern in der tunesischen Wüste enden.
WELT: Wie demokratisch ist die EU, die sich so gerne gegen Antidemokraten abgrenzt?
Sonneborn: Die von Haus aus eher semidemokratische EU mit einem Parlament ohne Initiativrecht und ihren undurchsichtigen Trilogverfahren sollte sich bei der Aufteilung der Welt in Demokratien und Autokratien etwas zurückhalten. In Wahrheit haben wir doch überall Hybridsysteme.
WELT: Zahlreiche Gesetzgebungsprojekte der EU, die dann auf nationaler Ebene umgesetzt werden müssen, betreffen die öffentliche Meinungsbildung – zuletzt der „Digital Services Act“, der am 17. Februar in Kraft trat und Internetplattformen zwingt, gegen „Hass“ und „Desinformation“ vorzugehen.
Sonneborn: Die Überwachungsmöglichkeiten, die wir gerade schaffen, sind nicht von Pappe: „Chatkontrolle“, „Digital Services Act“, „AI Act“. Es wird alles gescannt, auch wenn wir uns verschlüsselt mit Messenger-Diensten verständigen. Jede Datenspur wird aufgezeichnet, ist speicherbar, durchsuchbar und verknüpfbar geworden, und alles kann sowohl verkauft als auch zur Überwachung genutzt werden.
WELT: Die öffentliche Anteilnahme an diesen Gesetzesprojekten ist gering.