wolltest du es nicht für laien verpacken?
ich hatte mal jemanden kennengelernt, bei dem u.a. auch elektroschocktherapie für seine depression durchgeführt wurde. ihm hatte sie nicht geholfen. er kam jahrelang danach immer wieder in psychiatrische kliniken. inzwischen ist er ebenfalls seit jahren gesund - geholfen hat ihm in seinem fall aber ne religion (buddhismus hier
), die hat ihm quasi gelassenheit eingeimpft, dadurch, dass er sich darauf eingelassen hat, also ein eindeutig psychologischer effekt und kein biochemischer - du wirst sagen ein einzelfall, ich sag es ist die regel dass therapien nicht wirken, weil die basis der störung falsch definiert ist, weil es einfach schwierig ist hier allgemeingültige kritierien zu schaffen.
Ich spreche von statistisch gesicherten, validierten und geprüften Daten. Ja, Du von einem Einzelfall. Nur so: Einen garantierten Therapieerfolg gibt es nichtmal bei sowas simplen wie ner Mandelentzündung. Wie soll es das dann bei wesentlich komplexeren Entitäten, wie psychischen Störungen, geben? Auf den Zusammenhang zwischen Biophysikalischen Effekten und Psyche gehe ich gleich nochmal ganz ausführleich ein, nur soviel vorweg: Du hast mich nicht verstanden. Weshalb die Nonresponderraten im Bereich der Psychiatrie besonders hoch sind, darauf gehe ich im Verlauf des Postings nochmal ausführlich ein.
dass es rein biochemische abläufe sind, die psychische krankheiten bedingen, ist auch einfach nicht nachgewiesen. da streiten sich die fachleute seit vielen jahren darüber ohne auf einen wirklichen konsens zu kommen. klar spielen auch chemische prozesse ne rolle, aber wer sagt einem, dass nicht äußere einflüsse diese in gang bringen?
Jede Kognition, jede Emotion, jede Wahrnehmung, jedwede Form unbewußter Einflußgrößen auf diese sind die Summe biophysikalischer Ereignisse im Gehirn. Unser Gehirn enthält etwa 6x10^12 Neuronen, jedes neuron bildet dabei bis zu 2 Millionen synaptische Kontakte (jeder Kontakt zu einem jeweils anderen Neuron), jeder Synaptische Kontakt übermittelt Informationen Frequenzkodiert von etwa 7 bis 300 Hz (jede Frequenz eine andere Information). Jede Information übt dabei entweder aktivierenden, oder inhibierenden Einfluß auf das jeweilige Empfangsneuron aus. Dazu sind Neurone in Subpopulationen zusammengefasst, die über Koaktivierungen widerrum frequenzkodiert Informationen darstellen, ein Neuron kann dabei verschiedenen Kernsäulen, auch gleichzeitig, angehören. Alle genannten Zahlen (und eine noch viel größere Menge ungenannter Faktoren) verhalten sich exponentiell zueinander, wenn man die Summe biophysikalischer Ereignisse von "Hirnfunktion" abbilden will. Wir kommen also auf eine astronomisch große Zahl an Ereignissen, die unsere Wahrnehmung, unser Empfinden, unser Denken und unsere Körperfunktionen kodieren. "Psyche" ist kein großes, waberndes Unbekanntes, das da irgendwo in ätherischen Dimensionen versteckt vor sich hin wabert, sondern die Summation dieser permanent ablaufenden biochemischen Prozesse, die eine elektrophysikalische Entladung zur Folge haben. Keine Maschine dieser Welt verfügbt über ein ausreichend Auflösungsvermögen die Aktivität unseres Gehirns im Ruhezustand bis zur zellulären Aktivität hinab aufzulösen, kein Computer ist dazu in der Lage die Rechenoperationen unseres Gehirns nachzuvollziehen oder in Echtzeit auszuführen. Dies insgesamt aber ist Psyche. Ist die Psyche gestört, dann sind einzelne, unbekannte Größen innerhalb dieses biophysikalischen Ereignisraums gestört. Jede psychische Regung ist ein Produkt biophysikalischer Ereignisse. Ergo ist auch jede psychische Störung Produkt biophysikalischer Ereignisse.
Die Psychologie tut nichts als die Tatsache, dass nichtmal einfache psychische Vorgänge, wie das Sehen und Verstehen eines Bildes, auf zellulärer Ebene aufgelöst und nachvollzogen werden können, dazu zu nutzen, auf ein minimum simplifizierte Modelle zum Verständnis stellvertretend für die wirklich ablaufenden Prozesse zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht, dass keine biochemischen Reaktionen zwischen Neuronen diesen Prozess ausführen, es entzieht sich nur unseren technischen Darstellungsmöglichkeiten und findet einerseits in molekularkleinen Dimensionen, andererseits mit astronomisch großen Rechenoperationen statt. Was Du als "Psyche" bezeichnest, ist für mich die Summation neurophysiologischer Prozesse, die in Regelkreisläufe organisiert sind, die sich gegenseitig beeinflussen und zusätzlich durch Hormone, Zytokine, Gene und Expressionsmuster beeinflusst werden.
Die Neurobiologie gibt mir darin übrigens Recht.
Damit ist nicht gesagt, dass wir den neurophysiologischen Korrelaten unserer Großhirnrinde ausgeliefert sind. Jede Emotion, jede Kognition, jede Wahrnehmung interferiert mit anderen Regelkreisläufen anderer Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen. Um, im Sinne der Psychologie, das anhand eines vereinfachten Modells darzustellen, bleiben wir erstmal bei der Depression:
Anhaltender Disstress führt zu Cortisonüberladung -> Besetzung von niederaffinen (werden erst bei hohen Dosen Cortison besetzt)Typ-II Cortisonrezeptoren im Gehirn -> verminderter Expression von Serotoninrezeptoren -> Geringerer Sensitivität auf Serotoninausschüttungen -> depressiver Symptomatik (kognitiv wie emotional) -> nachhaltigem, verstärkten negativen Empfinden und Denken -> Disstress -> anhaltend hoher Cortisonausschüttung ->...
Dies nur mal ganz vereinfacht ein neurophysiologisches Korrelat von Biochemie und Empfinden. Die Wahrheit ist unendlich komplexer (oder eben 6x10^12^(2x10^6)^(300x299x288....x1)... kompexer
).
nehmen wir mal bspw. psychosen her. hier ging man von biologischen bzw. sogar genetischen ursachen aus, da auch vererbung eine rolle spielte. darauf, dass ein dopaminüberschuss ursächlich sein könnte kam man, da durch zufall herauskam, dass domapinreduzierende medikamente bei akuten psychosen wirken können, können wohlgemerkt. heute ist klar, dass ganz verschiedene faktoren verantwortlich sein können, auch rein psychosoziale ursachen.
auch rein biochemische können in manchen fällen als eindeutig bestimmt werden. aber es gibt kein kriterium für bspw. alle paranoiden psychosen oder alle depressionen, weil schon innerhalb derselben diagnosen die abstufungen so unterschiedlich sind.
Der verbindende Zusammenhang aller Paranoid-Halluzinatorischen Schizophrenien (so heisst die Diagnose korrekt), ist, dass es Krankheiten des psychotischen Formenkreises sind mit im Schwerpunkt Paranoid-ängstlichen Wahnvorstellungen. In diesem definierten Rahmen teilen alle Patienten bestimmte Symptome (die individuell sich unterschiedlich darstellen können, aber aufs gleiche Prinzip rückführbar sind) und die Diagnose stellt eine konkrete Therapieindikation sowie die Notwendigkeit eines Klinikaufenthalts dar.
Die Diagnose "Depression" hingegen gibt es nicht, sondern nur die Klasse "Depressive Episoden" ICD 10 f 32, die dann in "leichte (32.0)/mittelgradige Episode (32.1)", "schwere Episode ohne (32.2)/mit (32.3) psychotischen Symptomen"... (bis 32.9), sowie f 33 (auch wieder bis .9) für die rezidivierenden (wiederkehrenden) depressiven Episoden, sowie f 34.1 + 34.2 (zyklothymia, dysthymia), für Manisch-depressive Syndrome die f31.1-9 und für alles was dann nicht klassifiziert ist, gibt es in f38 und f39 nicht näher bezeichnete affektive Störungen. Allen gemein ist, dass sie zu den affektiven Störungen gehören.
Die Forderung nach mehr Differenzierungen ist also nicht notwendig, da Differenzierung bereits in den Diagnosemanuals ausreichend gegeben ist.
Ich glaube, Du missverstehst den Sinn eines Diagnosemanuals wie das ICD 10, oder das DSM IV aber ein wenig. Es geht in diesen Manuals nicht darum den Krankheiten oder den Erkrankten gerecht zu werden. Die Manuals haben die Aufgabe signifikante, existierende Störungen differenziert nach Symptomausprägung und Ätiologie zum Zwecke international identischer Kriterien, standartisierter Diagnoseverfahren und Therapien zu ordnen, sprich: eine Arbeitsgrundlage und eine Verwaltungsmöglichkeit im Klinikalltag zu liefern die einfach und auf einem Blick einen klar definierten Sachverhalt verschlüsselt. Stell Dir vor man würde in Amerika bei einer "Depression" etwas ganz anderes meinen, als hier in Deutschland, oder könnte überhaupt nichts unter einem Begriff definieren, sondern müsste für jeden Fall jedes Mal eine komplette Symptomliste schreiben (wer dürfte da dann die Begriffe definieren???).
Ganz praktisch und konkret: Wenn ich jemanden behandeln will, muss ich erstmal wissen was er hat. Die meisten Krankheiten haben speziell für sie entwickelte Therapien heutzutage. Ich kann bei "schlechter Stimmung" nicht einfach ein SSRI geben oder eine Interpersonelle Psychotherapie anbieten, vielleicht hat der Patient die schlechte Stimmung ja aufgrund einer B-Symptomatik einer Schizophrenie? Wie aber krieg ich das raus, wenn nirgends weltweit gültig definiert ist, was was ist? Diagnosemanuals sind genau das: das Werkzeug um festzustellen "Welches Problem hat der Patient eigentlich, und wie behandel ich es am besten?". Ich kann natürlich auch jedes Symptom einzelnd behandeln und den Patienten mit 25 Medikamenten nach Hause schicken. Wär aber nicht so knorke.
Dabei ist es auch nicht wesentlich, dass die Kriterien jeden einzelnen Patienten exakt in ihren Definitionsrahmen einfangen. Das ist gar nicht möglich und auch nicht gewollt. Es geht darum die statistisch signifikanten, also mehrheitlich auftretenden, Symptomkonstellationen zu einer Klasse zusammenzufügen. Man kann nicht für jeden Patienten eine neue Diagnose erfinden, dann haben wir für psychiatrische Erkrankungen nämlich nicht mehr F01-F99 sondern F01-F99999999999999999999999999999. Das ist deshalb nicht günstig, weil keiner dann mehr einen Überblick haben wird und niemand mehr weiß worüber man eigentlich redet wenn man F342535342626426245624425.7 als Diagnose gibt.
Für die konkrete, differenzierte und allen Fällen möglichst gerecht werdende Darstellung von Erkrankungen ist die Fachliteratur da.
ein erfolg von 65 prozent ist gerade mal etwas mehr als die hälfte, möglicherweise spielen auch faktoren wie das sich auf therapie einlassen können eine rolle, ob eine behandlung anschlägt.
Ein Erfolg von 65% ist bei Monotherapien mit entweder Medikamenten oder Psychotherapie aber eben das, was man erhält. Wie ich schrieb werden in klinisch relevanten Fällen deshalb Kombinationstherapien angewandt. Damit hat man eine Erfolgsquote von 85%. Bei Psychosen sieht es leider wesentlich schlechter aus, 1/3 wird geheilt, 1/3 bekommt erneute psychotische Episoden, 1/3 chronifiziert und schwankt nur noch zwischen B-Symptomatik und akutem Schub für den Rest des Lebens. Die akuten Schübe lassen sich übrigens auch in letzterer Gruppe durch Dopaminrezeptorantagonisten behandeln.
Die hohe Nonresponderrate hat viele Ursachen, Compliance (also die Bereitschaft und Mitarbeit des Patienten in der Therapie) ist sicher eine wichtige, aber ebenso das Fehlen von kausalen Therapien (einzelne Rezeptoren sind sicher nicht die einzigen Verursacher von psychischen Erkrankungen, siehe Ausführungen zur Neurobiologie. Biographien und häufig auch das soziale Umfeld und die Lebensrealität des Patienten sind nicht oder nur schwer veränderbar), sowie die Tatsache, dass viele Menschen erst in Therapie kommen, wenn ihre Krankheiten sich schon lange chronifiziert und aggrativiert haben. Im Bereich der Kinder-Jugendpsychiatrie z.B. sind die Erfolgsquoten häufig deutlich besser.
bei johanniskraut geh ich mal stark vonnem placeboeffekt aus, ebenso wie bei der geschichte mit dem buddhismus. das ist nicht negativ gemeint, da ich diesen als einen sehr postiven effekt sehe.
Und warum gehst Du davon aus? Glaubst Du, dass Fliegenpilzgift giftig ist weil...auch Placeboeffekt? In Pflanzen ist mehr als Wasser und Liebe drin, da sind Stoffe drin, die mit körpereigenen Proteinstrukturen interagieren können. Ist die Konzentration dieser Stoffe hoch genug gibt es Wirkung und Nebenwirkung. Der Effekt von Johanneskraut bei Depressionen und Schlafstörungen ist nachgewiesen. Ebenso die Cytochrominduktion. Nachgewiesene Effekte in der Medizin sind immer signifikant größer als der Placeboeffekt. Das wird mit Placebokontrollstudien auch belegt.
und schau dir mal die diagnosekriterien für borderline an. das wird gerne mal dieses zehn-punkte-programm nach dsm hergenommen, um ne diagnose zu klassifizieren. das ist weit verbreitet. wenn eine gewisse anzahl der punkte erfüllt ist und ein fachmann dem vertraut und entsprechend die diagnose borderline stellt, hast du den dreck. gerade bei borderine nämlich verheerend, da es nach wie vor als eine der sogenannten störungen gilt, die als äußerst schwer therapierbar eingestuft werden, es gibt auch fachleute, die es als überhaupt nicht therapierbar ansehen. teilweise weigerten sich psychiatrieen sogar aus dem grund borderliner aufzunehmen, weil ihnen die verantwortung wg. der suizidgefahr zu groß war oder die aussicht auf therapieerfolg als nicht gegeben angesehen wird.
Nein, nein und nein!
Zuerst sind es 9 Diagnosekriterien nach DSM (ist auch für Deutschland gültig und wird im kommenden ICD 11 auch vom WHO übernommen).
Borderline ist eine Ausschlussdiagnose. Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung. Persönlichkeitsstörung heisst, dass alle Aspekte des Patienten betroffen sind, die Wahrnehmung, die Affekte, die Beziehungsgestaltung, die Kognitionen... Ausschlussdiagnose heisst, dass diese Diagnose erst gestellt wird, nachdem man andere zu den Symptomen passende Diagnose nicht verfizieren konnte. Persönlichkeitsstörungen werden generell erst diagnostiziert, wenn man im klinischen Rahmen über Wochen den Patienten beobachtet hat. Es kann natürlich bereits am ersten Tag der Verdacht geäußert werden, wenn z.B. die Biographie des Patienten deutliche Hinweise liefert. Auch dann wird dieser Verdacht aber erstmal gründlich geprüft. Ich habe keinen Psychiater bislang kennengelernt, der eine solche Diagnose leichtfertig stellt.
Persönlichkeitsstörungen sind per se schlecht therapierbar. Es gibt da noch wesentlich schlimmere Störungen als Borderline, z.B. Dissoziative Persönlichkeitsstörungen (in den Medien gern als "Multiple-Persönlichkeit" bezeichnet), oder aus der Forensik z.B. die Soziopathische Persönlichkeitsstörung (bislang handfester Grund für lebenslange Sicherheitsverwahrungen...mal schauen was nach dem Urteil des europäischen Gerichtshofs jetzt mit denen passiert), von sexuellen Störungen wie Pädophilie oder sexuellem Sadismus, bei denen es nichtmal Ansätze für Therapien gibt, fangen wir gar nicht erst an.
Diese Diagnosen sind unbequem. Diese Diagnosen gibt es dennoch. Ziel der Therapie ist es bei Persönlichkeitsstörungen nicht den Patienten zu heilen, da das tatsächlich nicht möglich ist. Es geht darum die Alltagsfähigkeit und den Leidensdruck der Patienten mit Borderlinestörung zu verbessern. Dazu bedarf es spezialisierter Therapieverfahren und viel klinischer Erfahrung im Umgang mit diesen Patienten.
Das erste Gebot der Medizin, und das seit Hippokrates, ist "primum nil nocere"=zuallererst nicht schaden! Ein Arzt der die Behandlung von Borderlinern ablehnt, tut dies nicht weil er ein faules, mieses Arschloch ist, sondern weil er sich nicht zutraut die Behandlung erfolgreich durchzuführen. Fehler in der Behandlung von Borderline resultieren dabei in so unschönen Dingen wie Suizid, Prostituion, schwerstwiegende Selbstverletzungen oder Retraumatisierungen. Es ist daher die Sorgfaltspflicht eines Arztes die Behandlung von Krankheiten, die ausserhalb der Kompetenzen des Arztes liegen, abzulehnen und an spezialisierte Fachleute zu verweisen, die in den speziell für Borderline entwickelten Therapien auch ausgebildet sind (wie Dialektisch-Behaviorale Therapie). Ich transplantiere auch keine Nieren, das soll bitte ein Gefäßchirurg machen, dann überlebt der Patient auch die OP.
Das häufige Auftreten von Borderline ist übrigens nicht der Schludrigkeit von diagnostizierenden Ärzten geschuldet, sondern eher ein Hinweis auf die weite Verbreitung der Risikofaktoren, von Kindesmissbrauch (die Dunkelziffer wird auf bis zu 200.000/a geschätzt) zu massiver häuslicher Gewalt.
natürlich gibts auch fälle, in welchen eindeutige ursachen festgestellt werden können, bspw. eine allergie oder ein eindeutig diagnostizierbarer, körperlicher defekt. das ist aber alles andere als die regel. es gibt nicht von ungefähr gerade in der psychiatrie so massive fehldiagnosen. ich kenne einige leute, die nicht nur eine diagnose am hals haben, sondern quasi von jedem psychiater ne andere - grundverschiedene diagnosen wohlgemerkt. gerade in der psychiatrie/psychologie funktioniert das mit dem verpacken in normen und mit dem standardisieren nicht wirklich, sondern eher in ausnahmefällen.
Die Normen und Klassifikationen sind Schuld an den Fehldiagnosen? Das ist ein wenig kurz gedacht.
Ich sag Dir mal, was ich auf den internistischen Stationen so an Diagnostik zur Verfügung habe:
Die Anamnese und körperliche Untersuchung, die immer die wichtigsten Anhaltspunkte liefert. Dann kommt die Laborchemie, egal was es so im Blut gibt, das Labor kann es nachweisen. Jeder Wert kann mir was über den Zustand des Patienten verraten. Bildgebund: Röntgenbild, CT, MRT, Szintigraphie, Sonographie, Echokardiographie, PET, um mal die Wichtigsten zu nennen. Invasive Verfahren: Punktionen, Endoskopien, Gastroskopien, Bronchoskopien, Herzkatheter + EPU, intravasale Blutdruckmessungen (venös oder arteriell). Elektrophysiologische Untersuchungen: EKG, EEG, Nervenleitgeschwindigkeit, Langzeit-EKG, Telemetrie. Photometrische Verfahren: Sauerstoff-Sättigung, Körpertemperatur. Weitere Laboruntersuchungen: Microbiologie, Urinsediment und Urinstatus, Virusserologie, Serumelektrophorese, Tumormarker, Blutgasanalysen, Blutausstriche, Konchenmarksausstriche... Pathologie: Histologie, Immunhistochemie, Zytologie, Genetik.
Und nun überleg mal, was der Psychiater für seine Diagnostik hat:
Er kann sich mit dem Patienten unterhalten. Und das wars. Es gibt ganz wenige, hochspezielle Fälle bei denen ein Psychiater über eine Bildgebung etwas diagnostizieren kann, so haben Patienten mit dissoziativer Persönlichkeitsstörung im fMRT eine alternierende Stressantwort, als Zeichen für die massiven, frühkindlichen Traumata, die dieser Störung vorausgehen. Macht man aber natürlich nicht, da die Krankheit extrem selten ist, die Untersuchung sau teuer und der Informationsgewinn gegenüber der konventiellen Diagnosestellung (dem Gespräch mit dem Patienten und das Beobachten des Patienten) unwesentlich ist. Bei Schizophrenien sind die Seitenventrikel vergrößert. Das ist aber ein diskretes Merkmal und erlaubt ausserdem so an die 30 anderen Diagnosen, auch nicht hilfreich.
Tja...also muss der Psychiater sich auf das verlassen, was der Patient erzählt, und was der Psychiater am Patienten beobachten kann. Und im Gespräch gehts um Dinge wie die Emotionen und Kognitionen des Patienten. Kleine Übung: Beschreibe und unterscheide
allgemeingültig zwischen: Scham, Zweifel, Angst, Furcht, Unsicherheit, Hass, Wut, Trauer, Einsamkeit, Schwermut, Freude, Glück, Liebe, Demut, Verloren sein, Kontrollverlust, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung... Kann ja mal jeder versuchen, der das hier liest und einfach in nem Post schreiben. Ich garantiere weit auseinanderklaffende Umschreibungen und Definitionsrahmen.
Nur so am Rande: die meisten Patienten sind nichtmal dazu in der Lage mir zu sagen ob ihr Schmerz 1) dumpf-drückend, 2) ziehend, 3) stechend oder 4) brennend ist. Aber der Psychiater soll in einem Gespräch mit zumeist rethorisch durchschnittlich bewanderten Menschen, dem er zum ersten Mal in seinem Leben sieht, feststellen ob eine Post-Traumatische Belastungsstörung, eine Angststörung oder eine Depression vorliegt.
Die Diagnosemanuals geben einen statistisch normierten Rahmen für die Defintion von Erkrankungen an. Fehldiagnosen entstehen auf ganz anderer Ebene, nämlich im diagnostischen Prozess.
gute fachleute sehen auch selbst ein, dass sie an ihre grenzen stoßen.
Und gute Laien urteilen nicht über Dinge, von denen sie keine Kenntnis haben. Das wollte uns Sokrates schon lehren, als er sagte "Ich weiß, das ich nichts weiß..."
zitat christian wulff:
er kommt am ende zu dem schluss, dass die akzeptanz eben dieser unverständlichkeit neue möglichkeiten eröffnen, indem man sie einfach als nicht in ne norm passend akzeptiert und von der warte aus therapeutisch weiterarbeitet. hier gings allerdings um schizophrenie, die diagnosen sind allerdings teilweise auch austauschbar.
wulff ist soweit ich weiß eher ein vertreter psychosozialer ursachen, bin mir da aber ehrlich gesagt nicht ganz sicher.
ich wiederhol mich ungern, aber gerade zur klassifizierung psychischer krankheiten sollten bzw. müssen betroffene mit einbezogen werden, weil diese mit normen, statistiken, dsm-regelwerken nicht vollständig erklärt werden können - die psyche ist einfach ein zu komplexes instrument.
Die Psyche ist ein Instrument wofür?
Nochmal: die Manuals sind nicht dazu gedacht ein Individuum oder einen individuellen Krankheitsprozess vollumfänglich zu erfassen und abzubilden. Die Manuals sollen die statistisch signifikanten Symptomkonstellationen in Definitionsrahmen zusammenfassen, die eine einfache Kommunikation, ein international einheitliches Verständnis und eine einfache Verwaltung im Gesundheitswesen erlauben. Eine Rezidivierende Major-Depression ist dabei immer eine rezidivierende Major-Depression, egal wie die individuelle Ausprägung beim jeweiligen Patienten aussieht.
als nicht betroffener wird es jeder fachmann schwer haben sich dort einzufinden, auch wenn er umfassende schulmedizinische kenntnisse hat. eine zusammenarbeit auf gleicher augenhöhe mit betroffenen ist daher unabdingbar, wenn man weiterkommen will, das ist quasi eine gegenseitige horizonterweiterung und lösungsorientierter.
Es ist äußerst naiv anzunehmen, dass man in einem sensiblen Bereich wie der Psychiatrie auf die Patienten zugeht und dann versucht sie in sein Lehrbuch oder Diagnosemanual zu quetschen, und solang draufschlägt bis sie passen. In der Psychiatrie werden Störungen eines Patienten individuell aus seiner Biographie verstanden und der Patient ganzheitlich in den Therapieprozess integriert, durchaus unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse. Das Patienten sich dennoch über den Psychiatrieaufenthalt häufig beklagen kann ich gut nachvollziehen und glaube ich gern. Nur soviel: eine Psychiatrie ist kein Ponyhof. Eine Psychiatrie ist auch kein 5-Sterne Hotel. Und eine psychiatrische Behandlung ist keine Massage zu ätherischen Wohlfühlklängen von Walgesang zu Meeresrauschen. Den Patienten geht es scheiße und viele werden entweder alles in ihrem Leben verlieren, oder ihrem Leben bereitwillig ein Ende setzen, wenn sie nicht behandelt werden. Und zur Behandlung gehört, dass sie erstmal so richtig durch die ganze Scheiße müssen, die sich in ihrem Inneren aufgestaut hat, "den eigenen Dämonen stellen", und sich am Laufenden Band mit Gedanken und Gefühlen konfrontiert sehen, durchaus von Pfelgern und Psychiatern forciert, vor denen sie am liebsten Weglaufen und sich vergraben würden, wo man vor sich selbst geschützt werden muss und das durchaus gegen eigenen Willen inklusive 6 Gurte, die einen ans Bett fesseln. Das man dann nicht sagt "ja, war ne schöne Zeit, nächstes Jahr fahr ich wieder hin!" halte ich nur für Gesund im Sinne der Selbsterhaltung.
Die Psychiatrie ist aber auch ein Ort in dem man angenommen wird, trotz aller noch so schwieriger Absonderlichkeiten die man mitbringt, wo man nicht schief angeschaut wird, weil man einen BMI von 11,3 hat, oder 45,5, wo man gefragt wird, was denn los ist, wenn man mal einen Tag lang gar nichts sagt weil man am liebsten am Strick baumeln würde, wo man lernt über das zu lachen, was einen eigentlich an einem selber stört und wo man einfach auch mal das Gefühl leben kann, was man grade empfindet, und sich für nichts und niemanden verstellen braucht.
Versteh mich nicht falsch, Du hast Dir ein gutes Wissen über vieles angeeignet, gar keine Frage. Deine einseitige Position als Patientenanwältin, die Du hier präsentierst, zeigt aber das Du wenig Erfahrung in dem Bereich hast und Dir so einige Urteile erlaubst zu Themen, zu denen schlicht keine validen Infos hast. Das kann sehr schnell sehr arrogant und anmaßend wirken.
edit:
guck hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/SKID
zitat:
ja klar...
[/QUOTE]
Diese Diagnosescores sind über Jahre hinweg in vielen großen, multizentrischen Studien, inklusive Follow-Ups und Retests, zum Teil Doppelt-verblindet und von verschiedenen, unabhängigen Expertenkomitees geprüft und bewertet, bevor auch nur erwogen wird sie ins DSM zu übernehmen. Wie jeder Score haben diese Tests Sensitivität und Spezifität und schränken damit von sich aus die Verwertbarkeit ihrer Angaben ein (80% Sensitivität bedeutet=80% der Menschen, die in diesem Score den Cut-Off überschreiten, also laut Test die Diagnose haben, haben auch wirklich die Diagnose, Spezifität gibt den Wert derjenigen an, die bei negativem Testergebnis auch wirklich NICHT krank sind...je nach Fragestellung ist einer der beiden Werte wichtiger, bei HIV z.B. ist die Spezifität wichtiger als die Sensitivität), zudem sind solche Scores immer nur Ergänzungen zum klinischen Befund und nie alleiniges Diagnosekriterium. Sie werden entweder zur Sicherung einer Diagnose herangezogen (sprich: Die Diagnose ist schon gestellt und man will prüfen ob sie es denn wirklich ist), oder bei Unklarheit zur Vereinfachung der Entscheidungsfindung benutzt (sprich: Sollen wir in Richtung Borderline überhaupt weiter überlegen, oder schauen wir doch lieber nochmal ganz woanders?).
Ich weiß nicht wieviele 70-minütige Fragebögen Du schon über Dich hast ergehen lassen, aber bei diesen Scores ist es von immenser Wichtigkeit, dass sie so kurz wie möglich sind, damit die Patienten den gesamten, nicht immer unbedingt angenehmen, Fragenkatalog überhaupt mitmachen. Man darf solche Scores z.B. nicht über verschiedene Sitzungen verteilen, weil das die Ergebnisqualität deutlich herabsetzt. Hat also schon seinen Sinn, dass man Kurzformen für 30 Minuten anbietet (die entsprechend wieder eigene Angaben zu Sensitivität und Spezifität haben).
PEACE!!!