Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Islam – das sind nur Ideologien, Dogmata, Glaubenssysteme. Es sind Kulte. Wahre Religion hat keinen Namen; sie kann keinen Namen haben. Buddha hat sie gelebt, Jesus hat sie gelebt. Doch vergesst nicht: Jesus war kein Christ und Buddha war kein Buddhist. Er hat das Wort nie gehört. Wirklich religiöse Menschen sind immer einfach nur religiös gewesen, nie dogmatisch. Es gibt dreihundert Religionen auf der Welt. Das ist völlig absurd! Wenn die Wahrheit eine ist, wie kann es dann dreihundert Religionen geben? Es gibt nur eine Wissenschaft – was sollen dreihundert Religionen? Wenn es eine Wissenschaft gibt, die sich mit der objektiven Wahrheit beschäftigt, dann kann es auch nur eine Religion geben, die sich mit der subjektiven Wahrheit beschäftigt. Doch diese Religion kann keinen Namen, kann keine Ideologie haben.
Nur diese Religion lehre ich. Wenn euch jemand um eine kurze Zusammenfassung meiner Lehre bittet, könnt ihr das unmöglich tun. Denn ich lehre keine Prinzipien, keine Ideologie, kein Dogma, keine Doktrin. Ich lehre euch religionslose Religion, gebe euch eine Kostprobe davon. Ich zeige euch, wie man empfänglich wird für das Göttliche. Ich sage nichts über das Göttliche, sondern sage euch nur: „Hier ist das Fenster. Öffnet es und ihr könnt den Sternenhimmel sehen.“ Der Sternenhimmel selbst ist jedoch undefinierbar. Werft nur einen Blick durch das offene Fenster, und ihr wisst, was ich meine. Sehen heißt Wissen – und mit dem Sehen kommt auch das Sein. Ansonsten gibt es nichts zu glauben.
Mein ganzer Ansatz ist existentiell und überhaupt nicht intellektuell. Und wahre Religion ist existentiell. Sie ist immer nur wenigen Menschen widerfahren. Dann verschwindet sie von der Erde, weil die Intellektuellen sofort danach greifen und wunderschöne Ideologien daraus machen – fein säuberlich, ordentlich, logisch. Mit ebendiesen Bemühungen wird ihre Schönheit zerstört. Sie schaffen Philosophien und die Religion verschwindet. Der Pandit, der Gelehrte, der Theologe – sie sind die Feinde der Religion.
Merkt euch also: Ihr werdet hier nicht in eine Religion eingeweiht. Ihr werdet nur in Religiosität eingeweiht. Sie ist endlos, riesig, grenzenlos. Sie ist wie der ganze Himmel.
Selbst der Himmel ist keine Grenze. Breitet also ohne Furcht die Flügel aus. Diese ganze Existenz gehört uns. Sie ist unser Tempel, sie ist unsere heilige Schrift. Alles, was geringer als das ist, wurde von Menschenhand geschaffen, künstlich hergestellt. Wo es hergestellt wurde spielt keine Rolle. Hütet euch einfach vor künstlichen Religionen, damit ihr das Wahre kennen lernt, das von keinem Menschen gemacht ist. Und es ist für uns da: in den Bäumen, in den Bergen, in den Flüssen, in den Sternen, in euch, in den Menschen um euch herum. Es ist überall zu finden.
Wissenschaft ist die Suche nach der Wahrheit in der objektiven Welt und Religion ist die Suche nach der Wahrheit in der subjektiven Welt. Im Grunde sind sie wie die beiden Flügel eines Vogels, zwei Seiten einer Suche. Letztendlich ist es nicht nötig, zwei Bezeichnungen dafür zu haben. Ich schlage „Wissenschaft“ vor – ein perfekter Name, da es um „Wissen“ geht. Auch die Wissenschaft hat zwei Seiten, so wie jede Münze zwei Seiten hat. Das Wissen um die Dimension der Materie kann man objektive Wissenschaft nennen, und das Wissen um dein Innenleben, um dein inneres Wesen, dein Bewusstsein kann man subjektive Wissenschaft nennen. Das Wort „Religion“ ist unnötig. Wissenschaft ist ein gutes Wort und die Suche ist eigentlich dieselbe, nur die Richtungen sind verschieden. Und es ist gut, wenn wir eine höhere Wissenschaft hervorbringen können, die eine Synthese, eine Synchronizität zwischen äußerer und innerer Wissenschaft darstellt. Dann brauchen wir nicht mehr so viele Religionen, auch braucht niemand mehr Atheist zu werden. Wenn die Theisten fort sind, braucht man auch keine Atheisten mehr. Sie sind nur Reaktionen. Da es Leute gibt, die an Gott glauben, gibt es auch welche, die nicht an Gott glauben. Wenn die Gläubigen fort sind, was sollen dann die Ungläubigen?
Man braucht an nichts zu glauben – das ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Das ist die wissenschaftliche Betrachtungsweise der Realität: Glaube nicht, sondern forsche. Sobald du glaubst, hört jede Forschung auf. Bleibe geistig offen. Sei weder gläubig noch ungläubig. Bleibe nur wach, untersuche alles und zweifle es immer an, bis du an einen Punkt kommst, wo jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Das ist die Wahrheit. Man kann sie nicht anzweifeln. Sie hat mit Glauben nichts zu tun. Sie ist etwas völlig anderes. Du bist dir so sicher, du bist davon so überwältigt, dass es unmöglich ist, dran zu zweifeln.
Das ist Wissen. Und dieses Wissen verwandelt einen Menschen in einen Buddha, in einen Erleuchteten. Das ist das Ziel jedes menschlichen Wachstums.
Bereits zweitausendfünfhundert Jahre vor Buddha hat sich Adinatha um einen Quantensprung in der Religion verdient gemacht: Er predigte eine Religion ohne Gott. Es war eine ungeheure Revolution, denn nirgendwo auf der Welt hatte man sich jemals vorstellen können, dass Religion ohne Gott existieren kann.
Gott ist der wesentliche Bestandteil, der Mittelpunkt vieler Religionen, des Christentums, des Judentums und des Islams. Doch wer Gott zum Mittelpunkt macht, rückt den Menschen an die Peripherie. Die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Welt macht den Menschen nur noch zur Marionette.
Deshalb ist im Hebräischen, der Sprache der Juden, das Wort für Mensch „Adam“. Adam bedeutet Lehm. Im Arabischen heißt der Mensch „Admi“. Das Wort hat dieselbe Wurzel wie Adam und bedeutet ebenfalls Lehm. Im Englischen, der wichtigsten Sprache der Christen, kommt das Wort „human“ von der lateinischen Wurzel „humus“, was ebenfalls Lehm oder Erde bedeutet. Wenn Gott der Schöpfer ist, muss er natürlich etwas haben, woraus er die Schöpfung macht. Er muss den
Menschen erschaffen wie eine Statue. Also erschafft er ihn aus Lehm und haucht ihm dann Leben ein. Aber wenn es so ist, verliert der Mensch völlig seine eigene Würde.
Und dass Gott den Menschen und alles andere erschaffen haben soll, ist eine sehr sonderbare Idee. Was hat Gott denn die ganze Ewigkeit lang getan, bevor er den Menschen und das Universum erschuf? Laut der christlichen Vorstellung hat er den Menschen erst 4004 Jahre vor Christus erschaffen. Was hat er denn dann von Ewigkeit zu Ewigkeit sonst noch getan? Es scheint eine Laune gewesen zu sein. Offenbar hatte er keinen Grund dazu, denn wenn er einen Grund gehabt hätte, die Existenz zu erschaffen, gäbe es Kräfte, die über Gott stehen, die ihm einen Grund liefern, mit der Schöpfung zu beginnen. Oder ist es möglich, dass er plötzlich den Wunsch verspürt hat? Auch das scheint philosophisch nicht gerade folgerichtig zu sein, da er eine Ewigkeit lang wunschlos war. Und wunschlos ist man ja so glücklich! Man kann sich also unmöglich vorstellen, dass Gott in seinem Zustand ewiger Glückseligkeit plötzlich den Wunsch verspürt haben soll, die Welt zu erschaffen. Ein Wunsch ist ein Wunsch – egal, ob man ein Haus bauen oder Ministerpräsident werden oder die Welt erschaffen will. Man kann sich Gott einfach nicht als ein Wesen vorstellen, das Wünsche hat. Also bleibt nur noch eine Möglichkeit: dass er launisch und exzentrisch ist. Dann braucht man keinen Grund und keinen Wunsch. Es war einfach eine Laune.
Wenn aber diese ganze Existenz nur aus einer Laune heraus erschaffen worden ist, verliert sie jeglichen Sinn, jegliche Bedeutung. Und wer weiß? Schon morgen könnte Gott in einer anderen Stimmung sein und das ganze Universum wieder zerstören und auflösen. Und wir sind einfach nur die Marionetten in der Hand eines diktatorischen Gottes, der alle Macht hat, aber geistig nicht ganz gesund ist, sondern seine Launen hat.
Adinatha muss ein Mann gewesen sein, der sehr meditativ und nachdenklich war. Dabei ist ihm wahrscheinlich klar geworden, dass es mit einem Gott keinen Sinn auf der Welt geben kann. Wenn wir der Welt einen Sinn geben wollen, muss Gott beseitigt werden. Er muss ein sehr mutiger Mann gewesen sein. Noch heute beten die Menschen in Kirchen, in Tempeln, in Synagogen zu Gott, obwohl dieser Mann, Adinatha, schon 5000 Jahre vor uns eine klare, wissenschaftliche Schlussfolgerung gezogen hat, dass es nichts gibt, das höher ist als der Mensch, und dass jede Evolution im Menschen und in seinem Bewusstsein stattfinden wird. Adinatha ist der erste der vierundzwanzig Meister des Jainismus. Und er bewirkte den ersten Quantensprung: Gott war erledigt. Es ist nicht Buddha zu verdanken, da Buddha erst fünfundzwanzig Jahrhunderte nach Adinatha kam. Allerdings verdanken wir Buddha etwas anderes: Adinatha erledigte Gott, schaffte es aber nicht, Meditation an seine Stelle zu setzen. Im Gegenteil: Er erfand die Askese, predigte Enthaltsamkeit und Selbstquälerei: Fasten, Nacktheit, eine Mahlzeit pro Tag, das Verbot, nach Einbruch der Dunkelheit zu essen und zu trinken, und wenn man essen darf, dann nur bestimmte Speisen. Er war zu einer wunderbaren philosophischen Schlussfolgerung gekommen, aber offenbar war diese Schlussfolgerung rein philosophisch und basierte nicht auf Meditation.
Wenn man Gott absetzt, kann man weder Rituale noch Gottesdienste noch Gebete abhalten; es muss etwas an deren Stelle treten. Adinatha setzte Enthaltsamkeit an Gottes Stelle, da der Mensch zum Mittelpunkt seiner Religion wurde. Unter Reinheit verstand er, dass der Mensch der Welt entsagen und seinen eigenen Körper aufgeben muss. Dadurch wurde die ganze Sache verdreht: Er hatte eine bedeutsame philosophische Schlussfolgerung gezogen, doch sie blieb ein rein philosophisches Konzept.
Adinatha beseitigte Gott, doch er hinterließ ein Vakuum. Buddha füllte das Vakuum mit Meditation. Adinatha begründete eine gottlose Religion. Buddha begründete eine meditative Religion. Meditation ist der Beitrag Buddhas. Es geht darum, den Körper nicht zu quälen. Es geht darum, stiller zu werden. Es ist eine Reise nach innen, bei der man das Zentrum seines Bewusstseins erreicht. Und das Zentrum des eigenen Bewusstseins ist das Zentrum der ganzen Existenz.