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City of God (OT: Cidade de Deus) (2002)
Ihr kennt das bestimmt: Einmal für drei Wochen mit dem Training pausiert und schon ist der Wiedereinstieg mühseliger, als montagmorgens vor der Arbeit Schnee wegzuschippen. Also Kapuze drüber, Bill Conti auf die Kopfhörer und rein in die Masse. Den Neujahresauftakt 2024 macht "City of God" von Fernando Meirelles und Kátia Lund aus dem Jahr 2002. Ganz erfrischend festzustellen, dass wir nach den Sieben Samurai hier mal wieder keine Hollywoodproduktion vorliegen haben, sondern ein Import aus Brasilien.
In knapp über zwei Stunden gewährt uns Meirelles einen Einblick in die Lebensumstände junger Menschen in der Cidade de Deus, einem Armutsviertel von Rio de Janeiro. Im Zentrum der Handlung stehen Buscapé und Li'l Zé. Beide in der City of God geboren und schon als Kinder mit der vorherrschenden Gewalt in Berührung gekommen, gehen sie doch sehr verschiedene Wege. Buscapé mit dem Ziel Fotograf zu werden, hält sich so weit es ihm möglich ist, aus dem kriminellen Leben raus. Versucht sich mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten. Li‘l Zé dagegen begrüßt die Gewalt, definiert sich über diese, möchte der unumstrittene Boss der City of God werden. Der Film spielt dabei circa im Zeitraum der 1960er bis 80er Jahre und zeigt uns im ersten Drittel ein Stück der Kindheit der beiden, so wie ihrem näheren Umfeld. Wir lernen auch bereits einige der verschiedenen Charaktere kennen, von denen es über die Gesamtlänge des Films einige werden sollen. Die Handlung macht daraufhin einen Zeitsprung, zeigt uns, wie sich Li‘l Zé weiter an die Spitze der Macht in der City of God arbeitet und Buscapé im Kontrast seiner Leidenschaft der Fotografie nachgeht und erste Kontakte zu einer Redaktion knüpft, die seine Bilder veröffentlicht. Die Gewaltspirale dreht sich indes immer schneller, und alles läuft auf einen dramatischen wie unausweichlichen Höhepunkt der Eskalation hinaus.
Wenn ich an City of God denke, an das, was den Film für mich allen voran ausmacht, dann denke ich an Authentizität. Das ist für mich die Grundzutat, die dem gesamten Film als Basis dient. Dies fängt an beim Cast. Ein Cast, überwiegend bestehend aus Laiendarstellern. Jugendliche, die vor dem Film einen sechsmonatigen Theaterkurs durchlaufen haben. Jugendliche, die selbst aus den Favelas stammen. Eine Regieentscheidung, zu der man Meirelles nur beglückwünschen kann. Aber nicht nur der Cast sorgt für eine starke Immersion. Auch ein weiterer Hauptcharakter spielt hier eine gewichtige Rolle, es ist die City of God höchstselbst. Haben die Dreharbeiten doch tatsächlich in der Cidade de Deus stattgefunden. Diese beiden Faktoren entwickeln dank der geschickten Regie auch eine wunderbare Synergie. Als wir zum Beispiel die Geschichte eines Apartments erzählt bekommen, wie es über die Jahre von einem unschuldigen Wohnraum zu einer Basis des organisierten Verbrechens verkommt. Das alles natürlich, aus der Sicht des Apartments. Auch darüber hinaus hat die Regie immer wieder erfrischende Ideen, vor allem das Editing ist an einigen Stellen ziemlich stark. Hier denke ich vor allem an die Szene des ersten Zeitsprungs. Buscapé in der Sackgasse. Auf der einen Seite die Cops, auf der anderen eine schwer bewaffnete Gang. Es geht weder vor noch zurück. Die Kamera dreht sich um Buscapé, der breitbeinig und angespannt zwischen den Fronten steht und mit dem Drehen werden wir in der Zeit rückwärts katapultiert und Buscapé steht in derselben Pose da, nur geschrumpft und als Kind beim Fußballspielen. Cooler Effekt und auch erzählerisch effektiv. Dazu hat der Film ein irres Tempo. Die Laufzeit von 128 Minuten rast an einem vorbei, Zeit zum Luftholen bleibt hier kaum. Dieses Gefühl wird durch den treibenden Score noch weiter befeuert. Besonders positiv aufgefallen sind mir unter dem insgesamt fantastischen Cast die ganz jungen unter den Darstellern. Dabei handelt es sich um die sogenannten Runts. Kinder, die in der City of God aufwachsen und sich als Gruppe bereits kriminell austoben. Dabei ziehen sie den Ärger Li‘l Zés auf sich und zwei dieser Runts müssen sich in einer höchst dramatischen Szene dafür gerade machen. Sie müssen sich entscheiden, ob Ihnen in den Fuß oder in die Hand geschossen werden soll. Die Angst und Verzweiflung der Kids ist so greifbar, das ist beinahe gruselig. Ganz, ganz stark. City of God ist nicht einfach nur ein Gangsterstreifen, sondern gewährt uns einen kleinen Einblick in die absolut beschissenen und dramatischen und hoffnungslosen Lebensumstände dieser jungen Menschen, die nie eine Chance hatten, behütet aufzuwachsen und einen Bildungsweg einzuschlagen. Somit ist es eine wichtige und aufrüttelnde Dokumentation realer Verhältnisse.
Ein packender Film, großartig inszeniert mit einem fantastischen Cast. So eindringlich und authentisch, dass er mich noch einige Zeit gedanklich begleitet hat. Und das nicht nur, weil die Kritik nicht fertig geworden ist. Ein beeindruckendes Gangster-Epos, aber auch so viel mehr. Und das sich meiner Meinung nach auch vor Schwergewichten wie GoodFellas nicht verstecken muss.
09/10