Kaess: Ich habe ja gerade schon das Zitat von Sigmar Gabriel wiedergegeben, in dem er sagt, sollte die AfD in den Bundestag einziehen, werden zum ersten Mal seit mehr als 70 Jahren Nazis im Bundestag sprechen. Würden Sie das auch so drastisch formulieren?
Wolffsohn: Das ist eine der vielen Vereinfachungen, die im Wahlkampf gebraucht werden und die Politikersprache ganz allgemein leider so unglaubwürdig gemacht haben. Es stimmt teilweise, dass es in der AfD alte und neue Nazis gibt. Aber warum ist der Einzug der AfD historisch, und das kann man eben nicht mehr mit der Nazi-Vokabel begründen. Denn erstmals in der deutschen Geschichte gibt es tatsächlich neue Gründe, die weite Teile der Bevölkerung von traditionell eher links bis rechts beunruhigen, und das sind zwei Punkte. Zum einen die Eurokrise, die ja zum Teil auch drastischer als früher deutlich gemacht hat, dass ein Teil der EU-Mitgliedsstaaten, vor allem der südeuropäischen erwartet, dass ihre Ausgabenpolitik, sage ich mal zurückhaltend, von den Nordländern finanziert wird. Das führte dann neben anderen Faktoren zu der Glaubwürdigkeitskrise des Euro.
Und zum Zweiten: Ja, wir hatten auch früher schon Flüchtlingswellen. Ich erinnere an die frühen 90er-Jahre. Das waren Flüchtlinge aus dem Balkan. Aber erstmals gibt es einen nicht zu leugnenden Zusammenhang zwischen der Flüchtlingswelle und dem Anstieg des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt nicht, dass alle Flüchtlinge Terroristen wären, aber dass es unbestreitbar einen Zusammenhang gibt zwischen den Flüchtlingen aus ganz neuen Regionen, erstens Syrien/Irak und Nordafrika, und das sind die Regionen, aus denen bislang die Terroristen kommen. Das kann man eben nicht bestreiten und das sind keine Nazi-Probleme, und eine Vokabel wie Nazi zeigt im Grunde genommen die Hilflosigkeit der nicht nur Politik, sondern Gesellschaft, mit diesem neuen Phänomen einer extremen Rechten fertig zu werden.