Obwohl Quentin Tarantino einer seiner glühendsten Verehrer war und sich Brian de Palma von einer Dame im Publikum einer Vorführung anschnauzen lassen musste, weil er zu laut lachte, blieb “Mann beißt Hund” lange Zeit ein obskurer Geheimtipp, der in Deutschland vor allem durch eine Leihvideokassette und die Aufzeichnung einer arte-Ausstrahlung, die per Kopie und Mundpropaganda ihren Weg zum interessierten Zuschauer fand, weitere Verbreitung erlebte. Erst zwanzig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung erschien eine offizielle DVD, die viele minderwertige Bootlegs obsolet machte.
Der in grobkörnigem Schwarzweiß gedrehte Film bedurfte keiner aufwendigen Restaurierung; das Vorhandensein des Originaltons, wo man vorher oft nur der deutschsprachigen Synchronisation lauschen durfte, erlaubte nun endlich ein umfassendes Dokumentarsetting, welches für das Gelingen einer jeden Mockumentary unerlässlich ist.
Geschrieben und realisiert von den drei damaligen Filmstudenten Rémy Belvaux (der sich 2006 das Leben nahm), André Bonzel und Benoît Poelvoorde, die in “Mann beißt Hund” unter ihren bürgerlichen Namen auftreten und auch die Entstehungsprobleme des Films zu einem Thema im Film machen, verwirft “Mann beißt Hund” sofort die im Kino omnipräsente Prämisse einer Heldenfigur, die durch außergewöhnliche Umstände zum Handeln gezwungen wird. Ähnlich wie in John McNaughtons “Henry – Portrait of a Serial Killer” erleben wir einen Jedermann von Nebenan. Kommt er in McNaughtons rohem Serienkillerstück noch aus dem Proletariat, entstammt die von Benoît Poelvoorde (zuletzt im Kino mit “Das brandneue Testament”) herausragend gespielte Figur aus der Mittelschicht, und vereint alles in sich, was man dieser speziellen Gesellschaftsschicht, die sich so oft für das Maß aller Dinge hält, ankreiden kann: Ben ist ein höflicher, oberflächlich freundlicher Mensch mit guten Manieren, der jederzeit seinen grauenhaften Kunstgeschmack ausstellt und sich durch eine Ansammlung von unverdautem Halbwissen als intellektuelle Speerspitze der Menschheit begreift. Ein Stammtischschwadroneur, der seine misogynen, xeno- und homophoben Ansichten mit einer aufgesetzten Selbstsicherheit darbietet, die er letztendlich durch den Film bezieht, der über ihn gedreht wird. Die Nonchalance, mit der er Menschen tötet und ihre Leichen beseitigt, erscheint schon fast als seine einzige genuin angenehme und interessante Eigenschaft, da seine kläglichen Kunstversuche (z.B. Gedichte und Hausmusik) ihn als bornierten Banausen ausweisen. Ben ist ein Gegenentwurf zu den entwaffneten und zwangsbefriedeten Spießern in Roman Polanskis “Der Gott des Gemetzels”, welche die Fassade der Zivilisation durch ein geradezu wahnhaftes Leugnen von körperlicher Gewalt aufrecht erhalten wollen.
Aus dem Spannungsfeld dieser Grundidee bezieht “C’est arrivé près de chez vous” (Originaltitel) den Großteil seines schwarzen Humors, der sich in keiner Sekunde seines Zynismus schämt, freudig aneckt und Grenzen überschreitet, die der “gute Geschmack” irgendwann einmal ins ungeschriebene Gesetzbuch eingemeißelt haben muss. Zuerst bietet “Mann beißt Hund” nämlich die Möglichkeit, ausgiebig über einen kleinen Mann und seine absurden Morde zu lachen. Im Verlauf der Handlung schält sich eine Mediensatire heraus, die zwar erst in der Mitte des Films drastisch und deutlich wird, aber schon in den einleitenden Sequenzen den Distanzverlust der Filmcrew zu ihrem “Studienobjekt” aufzeigt. Die von ihnen selbst postulierte Objektivität wird Nachrichtenteams und Dokumentarfilmern immer wieder um die Ohren gehauen, etwa in Peter Watkins “Punishment Park” oder den Filmen Ulrich Seidls. In “Mann beißt Hund” aber führt schon die Ausgangssituation ins Absurde: Es besteht nicht einmal die Möglichkeit, einen Film dieser Art zu machen, ohne sich positionieren oder einmischen zu müssen. Die Mär von der Objektivität wird auf die Spitze getrieben und zeigt jeden Film, besonders den Dokumentarfilm, als gelenktes und stark beeinflusstes Abbild einer Sicht der Welt. Umso mehr, wenn Ben sich vom Hauptdarsteller zum Geldgeber und Produzenten mausert, der plötzlich das Heft in der Hand hält und die Filmcrew nach seiner Pfeife tanzen lässt.
Gleichzeitig sagt “Mann beißt Hund”, wie unter anderem auch “Das Millionenspiel” von Tom Toelle, die gedankenlosen Widerlichkeiten des Reality-TVs voraus, welche zur Jahrtausendwende erstmals in voller Blüte standen und bis heute im Privatfernsehen ungestört wuchern. Neben den menschenverachtenden Erniedrigungen, die dort geboten werden, ist die Vergewaltigung und der anschließende Doppelmord im Zentrum von “Mann beißt Hund” leichte Unterhaltung für die ganze Familie. (Trotz des Spiels mit der Fiktion führte diese Szene bei Vorführungen zu den aggressivsten Rückmeldungen der Zuschauer. Ein weiterer Beweis für die starke, manipulative Kraft der Bilder.)
Die drei Regisseure überlassen nichts dem Zufall. Wo man Improvisation und freies Spiel vermuten möchte, herrscht in Wirklichkeit eine Drehbuch- und Dialogtreue, die der Verve des Films widersprechen müsste. Auch das ein Hinweis auf die hervorragende Schauspielleistung von Poelvoorde und seinen Mitstreitern.
“Mann beißt Hund” bleibt auch knapp ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung ein makelloses Werk, das Medien- und Gesellschaftskritik mit Unterhaltung und transgressiven Genre-Sprengseln vermengt. Es gibt keine Ausrede, diesen Film zu verpassen. Es sei denn, man findet eure Leiche, neben der des Postboten.