Europäische Union - Der Thread

Sonneborn: Das ist ein Fehler. Patrick Breyer, der Piraten-Abgeordnete, kümmert sich mit seinen paar Leuten rund um die Uhr um diese Themen und versucht Öffentlichkeit herzustellen für den „AI Act“. Der soll scheinbar die künstliche Intelligenz regulieren, tatsächlich aber permanente und flächendeckende biometrische Massenüberwachung in der Öffentlichkeit per Echtzeit-Gesichtserkennung ermöglichen.

Das Gruselige ist, dass die Europäische Union diese Gesetzespläne selber kaum kommuniziert. Sie gibt zwar sehr viel Geld für Öffentlichkeitsarbeit aus, um Dinge zu bewerben, die für kaum jemanden relevant sind – aber Gesetze, die wirklich alle Bürgerinnen und Bürger betreffen, laufen fast komplett unter dem Radar.

WELT: In den letzten Jahren hat George Orwells Roman „1984“ eine Renaissance erlebt, das Szenario eines übergriffigen Kontrollstaats. Droht sich ausgerechnet die EU jetzt in diese Richtung zu entwickeln?

Sonneborn: Eigentlich war Orwells „1984“ ja als dystopischer Zukunftsentwurf gemeint, nicht als Gebrauchsanweisung. Das scheinen aber manche in der EU missverstanden zu haben: Informationsbeschneidung auf der einen Seite, Überwachung auf der anderen. „Desinformation“ ist dabei ein ganz wichtiges Stichwort. Das hat Ursula von der Leyen ja gerade in Davos auf die Tagesordnung gesetzt: Die größte Bedrohung seien gar nicht Kriege oder der Klimawandel, sondern Desinformation. Dabei ist schon der Begriff problematisch, der eigentlich dem Gedankenkosmos der Geheimdienste entstammt. Im Moment steuern wir auf eine Situation zu, in der alles, was nicht der Regierungssicht entspricht, als „Desinformation“ kategorisiert und unter Strafe gestellt werden kann. Den Bürgern sollte sich langsam die Frage stellen, wer hier eigentlich was gegen wen zu „schützen“ versucht.

WELT: Warum gibt es im Parlament keinen Widerstand gegen diese Tendenzen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Sonneborn: Den gibt es, aber nur von den kleinen Parteien. Sie stehen der Querfront der großen Parteien gegenüber, die alle gewillt sind, sich die eigene Unterstützung antidemokratischster Maßnahmen noch schönzureden - jede natürlich aus ihren jeweils eigenen Gründen.

WELT: Auch viele Linke unterstützen heute eine weitreichende Einschränkung der Meinungsfreiheit – solange es offiziell um den Kampf gegen „Hass uns Hetze“ geht.

Sonneborn: Man kann diese Haltung, zumindest als alter Linker, eigentlich nicht als links bezeichnen. Aber der Begriff „links“ muss eh neu definiert werden. In Deutschland treiben SPD und Grüne die Einschränkungen sehr stark voran. In Irland ist vor kurzem ein Hate-Speech-Gesetz vom Unterhaus verabschiedet worden, in dem schon der bloße Besitz von „hassredetauglichem“ Material auf iPhone oder Computer strafbar ist. Außerdem wurde die Beweislast umgekehrt, der Staat geht von Ihrer Schuld aus, bis Sie Ihre Unschuld beweisen. Die Polizei kann auf bloßen Verdacht hin Hausdurchsuchungen vornehmen und die Herausgabe Ihrer Passwörter fordern. Ein lustiges Bildchen von Olaf Scholz auf dem Handy, ein Film von Außenministerin Baerbock, die von „gefanzerten Pahrzeugen“ oder einem „Bacon of hope“ schwärmt, und der Verdacht, dass man es ins Netz stellen möchte, reichen dann womöglich schon, um hinter Gittern zu landen.

WELT: Das EU-Gesetz zur „Chat-Kontrolle“ wird damit begründet, dem Kampf gegen Kinderpornografie zu dienen.

Sonneborn: Die Fachleute wissen, dass Kinderpornografie in geschlossenen Gruppen oder Foren ausgetauscht wird, die durch „Chat-Kontrolle“ gar nicht zu erreichen sind. Das ist eine Form von Kriminalität, die im Verdeckten stattfindet. Und die Überwachung dieser Szene ist schon recht hoch. Die Notwendigkeit flächendeckender Datensammlungen, die alle Bürger betreffen, ist oft ein Scheinargument. Im Fall des islamistischen Terrors zum Beispiel waren in fast hundert Prozent aller Fälle in Deutschland die Täter vorher schon verdächtig und polizeibekannt. Wir haben offenbar längst genug Daten, um die Gefährder zu identifizieren – aber dann nicht die Ressourcen, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Vielleicht sollte man eher daran schrauben, anstatt die Ermittler mit noch mehr Material zu überladen.

WELT: Im Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Desinformation spielen sogenannte „Faktenchecker“ eine immer wichtigere Rolle. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie in der Zeit der Corona-Pandemie mit einem dieser Portale in Konflikt gerieten. Während in Deutschland noch so getan wurde, als könne nur die Impfpflicht eine Katastrophe verhindern, teilten Sie auf Twitter eine Nachricht darüber, dass die Omikron-Welle in Frankreich schon vorbei war.

Sonneborn: Daraufhin hat mich der „Volksverpetzer“ öffentlich angegriffen, ich würde Fake News verbreiten. Dabei basierten die Presseberichte auf Daten der französischen Gesundheitsbehörde und ich hatte die Quelle angehängt. Natürlich hat sich all das später bewahrheitet, Corona war vorbei, auch ohne Impfpflicht. Unsere Praktikantin hat damals recherchiert, dass der „Volksverpetzer“ im Umfeld grüner Bundestagsmandate arbeitet. Das stört ja kaum jemanden heutzutage, Regierungsparteien finanzieren aus Steuergeldern „Fact-Checker“. Wenn aber vermeintlich objektive Instanzen im Meinungswettbewerb eigentlich parteiisch agieren, überschreitet das die Grenze zu bewusster Täuschung und Manipulation.

WELT: Die verrückteste Geschichte des Buchs handelt von einem ungarischen Abgeordneten, den die Polizei nackt und mit einem Rucksack voller Kokain an einer Regenrinne hängend erwischte.

Sonneborn: Mein Kollege József Szájer hatte an einem Gangbang mit über dreißig Männern in einem kleinen Hinterzimmer über einer Bar teilgenommen. Belgien hatte einen strikten Corona-Lockdown zu der Zeit, Orgien waren verboten. Leider lag schräg gegenüber eine Polizeiwache. Als die Polizei einschritt und ihn bei der Flucht an der Regenrinne aufgriff, wollte er sich mit seinem Diplomatenpass aus der Affäre ziehen. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um den Vizepräsidenten der christlichen EVP handelte, der in Ungarn unter Viktor Orbán die neue Verfassung entworfen hatte – für Familie, Kirche und Vaterland, gegen LGBTQ-Werte. Ein Vordenker der konservativsten, nationalistischsten Ungarn. Ich habe später im Netz viel Kritik dafür bekommen, dass ich zu dieser Veranstaltung nicht eingeladen war.

WELT: Der französische Historiker Emmanuel Todd hat gerade einen Bestseller über den „Untergang des Westens“ geschrieben. Ihr Buch liest sich auch ein bisschen wie ein kulturpessimistisches Manifest.
Sonneborn: Das habe ich nicht gewollt! Ich schwöre aber, dass unser Bestseller doppelt so witzig ist wie der von Todd.

WELT: Treten Sie auch deshalb im Juni noch einmal zur Wahl an, weil Sie wie alle Politiker am Mandat kleben?

Sonneborn: Smiley! Die erste Kandidatur war ein Unfall, der Einzug ins Parlament kam absolut überraschend. Beim zweiten Mal war es Trotz, wir wollten uns nicht von SPD und CDU mit einer äußerst plumpen, grundgesetzwidrigen Wahlrechtsänderungen vor die Tür setzen lassen. Auch diesmal befinden wir uns wieder in einer prozessualen Auseinandersetzung und das Bundesverfassungsgericht hat den Bundespräsidenten gerade gebeten, das neue Gesetz zur Sperrklausel nicht auszufertigen.

WELT: Um in den kommenden vier Jahren was zu tun?

Sonneborn: Was wir in Brüssel tun können, ist: Transparenz herstellen. Wahrscheinlich ist das eine Missachtung des traditionellen Berufsbilds Mandatsträger. Aber da es nur wenige kritische Medien in Brüssel gibt und kaum Zugang zu Informationen über die dystopischen Entwicklungen, auf die wir uns zubewegen, würde ich hier gern weiter schlechte Witze machen. Auch wenn das die großen Parteien sehr stört.

WELT: Die Partei hat Sibylle Berg, eine Schriftstellerin und Journalistin, auf dem zweiten Listenplatz aufgestellt.

Sonneborn: Sie ist klug, kritisch und kennt die EU sehr gut aus ihren eigenen Büchern. Sie ist in der Lage, Kritik zu üben in Interviews, Theaterstücken, in Kolumnen und im Netz. Ich werde ihr meine Stimme geben. Wenn Sibylle Berg mit einzieht, glaube ich, dass wir hier noch viel mehr öffentlich machen können.

WELT: Haben Sie Angst, dass die Wagenknecht-Partei Sie Stimmen kostet?

Sonneborn: Im Prinzip machen wir etwas Vergleichbares, das stimmt schon. Nur: wir machen es unterhaltsamer. Und mit etwas größerer Außenwirkung, hoffe ich.
 
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