Nehmen wir also an, Israel sei ein historischer Irrtum, ohne den die islamische Welt von Algerien bis Pakistan ein glücklicherer Ort wäre. Nehmen wir an, Israel könnte per Simsalabim aus der Weltgeschichte entfernt werden und beginnen wir 1848, als Israel im Unabhängigkeitskrieg geboren wurde. Hätte eine Fehlgeburt das Palästinenserproblem im Keim erstickt? Ägypten, Jordanien, Syrien, Irak und Libanon sind nicht auf Haifa und Tel Aviv marschiert, um Palästina zu befreien, sondern um es sich einzuverleiben. Hätten sie gesiegt, wäre kein Palästinenserstaat entstanden; es gäbe bis heute Massen von Flüchtlingen (siehe die Massenflucht der Kuwaiter nach dem Einmarsch des Iraks 1990). Und angenommen, der palästinensische Nationalismus wäre zur gleichen Zeit erwacht wie es tatsächlich in den 70er Jahren geschehen ist – dann würden heute Selbstmordattentäter in Ägypten oder Syrien zuschlagen.
Nehmen wir an, Israel wäre 1967 verschwunden, anstatt Westbank und Gazastreifen zu besetzen. Jordanien und Ägypten, die diese Territorien beherrschten, hätten sie bestimmt nicht an Jassir Arafat übergeben, und schon gar nicht Haifa und Tel Aviv noch dazu. Die beiden verfeindeten Potentaten einte nur ihr Hass auf Arafat, den sie zu Recht der Verschwörung gegen ihre Regime verdächtigten. Kurzum, der „Urgrund“ palästinensischer Staatenlosigkeit hätte Bestand auch ohne Israel. Nehmen wir nun an, ein mächtiger Zauberstab könne Israel heute verschwinden lassen. Nur jene, die das Palästinenserproblem für den Kern des Nahostkonflikts halten, würden eine glückliche Zukunft für diese gestörte Region vorhersagen. Es gibt nicht „den“ Konflikt. Es gibt mindestens fünf andere, welche die Pathologien dieser Region bestimmen.
1. Staaten gegen Staaten: Israels Verschwinden würde die innerarabische Freundschaft kaum stärken. Der Rückzug der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterließ junge arabische Staaten, welche die Landkarte neu zeichnen wollten. Von Anfang an beanspruchte Syrien Libanon. Nur Israels Militär hielt Syrien 1970 von einer Invasion Jordaniens ab. In den 50er und 60er Jahren gab sich Nassers Ägypten als Vormacht des Pan-Arabismus und intervenierte im Jemen. Sein Nachfolger Anwar al Sadat lieferte sich andauernde Kämpfe mit Libyen. Syrien marschierte 1976 im Libanon ein und annektierte das Land 15 Jahre später de facto. Irak griff zwei muslimische Länder an: Iran 1980, Kuwait 1990. Diese Konflikte haben nichts mit Israel zu tun, aber sein Verschwinden würde gewiss nur Militärpotenziale für innerarabische Rivalitäten freisetzen.
2. Gläubige gegen Gläubige: Der Konflikt zwischen Juden und Muslimen ist nicht der einzige Religionskrieg. 14 Jahre sektiererisches Blutvergießen in Libanon, Saddams Feldzug gegen die Schiiten nach dem ersten Golfkrieg, Syriens Massaker an 20 000 Sunni-Fundamentalisten 1982, Terror gegen Ägyptens Christen in den 90er Jahren. Hinzu kommt innerkonfessionelle Unterdrückung wie im wahhabitischen Saudi-Arabien.
3. Ideologien gegen Ideologien: Zionismus ist nicht der einzige -ismus in der Region; sie ist randvoll mit rivalisierenden Ideologien. Die Baath-Parteien in Syrien und Irak haben zwar die gleichen faschistischen Wurzeln, sind sich aber spinnefeind. Nasser setzte Panarabismus und Sozialismus gegen den arabischen Nationalstaat. Baathisten wie Nasseristen wühlten gegen die Monarchien wie in Jordanien. Die frommen Chomeinisten Irans und die Wahhabiten Saudi-Arabiens sind Todfeinde.
4. Reaktionäre Utopie gegen Moderne: Die gemeinsame Feindschaft zu Israel ist das Einzige, was arabische Modernisierer und Traditionalisten davon abhält, ihre Gesellschaften zu zerfleischen. Fundamentalisten streiten gegen Säkulare und kämpfen für die Fusion von Moschee und Staat unter der grünen Fahne des Propheten. Ein kaum verhüllter Klassenkampf bringt eine kleine Mittelschicht und Millionen arbeitsloser junger Männer gegen die Machtstrukturen auf. Israel schafft diese Spannungen nicht – es dämmt sie ein.
5. Regime gegen Bürger: Israels Existenz kann nicht die allgegenwärtige Herrschaft des Polizeistaates in Nahost erklären. Mit Ausnahme Jordaniens, Marokkos und der Golfemirate, die eine aufgeklärte Monarchie praktizieren, sind alle arabischen Staaten (sowie Iran und Pakistan) Abarten des Despotismus. Im Bürgerkrieg in Algerien starben 100 000, kein Ende ist in Sicht. Saddams Opfer werden auf 300 000 geschätzt. Nach Chomeinis Machtübernahme litt Iran nicht nur unter dem Krieg gegen Irak, sondern auch unter einem latenten Bürgerkrieg. Rücksichtslose Unterdrückung ist fast überall der Preis der Stabilität.