Der Horrorfilm und seine Unterarten spielten in der grande nation des Films, Frankreich, bis zur Jahrtausendwende so gut wie keine Rolle. Es gab hier und da ein Werk, das es zu Weltruhm brachte (etwa “Les yeux sans visage” von Georges Franju aus dem Jahr 1960) und ebenfalls eine Reihe von eigenwilligen Beiträgen zum Genre von Jean Rollin, die auf einen treuen Kreis eingeschworener Fans zählen konnten. Ein breiteres Massenphänomen wie die Horrorfilme US-amerikanischer Prägung oder deren entfernte italienische Verwandte wurden sie jahrzehntelang nicht. Dies änderte sich erst mit der Welle der “New French Extremity”, die ab den 2000ern nicht nur Blutbäder, sondern gleich ganze Blutozeane mit Inseln haarsträubender Grausamkeiten von der Leinwand stürzen ließ: “Irréversible”, “Haute Tension”, “À l’intérieur”, “Martyrs”…
Bereits gut zehn Jahre zuvor hatte Alain Robak eine Idee entwickelt, die im damaligen französischen Filmbetrieb eigentlich zum Scheitern verurteilt war. Irgendwo zwischen dem Body-Horror David Cronenbergs, der Splatterkomödie und den atmosphärischen Bildgedichten Jean Rollins (die er mit einem galligen Schuss Gesellschaftskritik anreicherte) angesiedelt, versuchte “Baby Blood” zu seinem Recht zu kommen. Dank Robaks geringer Budgetwünsche fanden sich schließlich Produzenten, die in einer gezähmten, wohlanständigen Filmlandschaft den Geburtsvorgang einer Monstrosität wie “Baby Blood” einleiteten.
Die Ablehnung ging so weit, dass man den Film nach seiner Fertigstellung nicht am Avoriaz Fantasy Film Festival teilnehmen lassen wollte, dessen kurzfristig eingeführte “Kein Blut, keine Gewalt”-Maxime auch Wes Cravens Beitrag “Shocker” vom Wettbewerb ausschloss. Als damals schon anerkannten Regisseur (u.a. “Last House on the Left”, “The Hills Have Eyes”, “A Nightmare on Elm Street”), traute man sich jedoch nicht, Craven zu düpieren, und bot ihm einen Platz in der Festivaljury an. Dieser zeigte sich von Robaks zweitem Spielfilm begeistert und überzeugte die anderen Jurymitglieder davon, “Baby Blood” den Spezialpreis der Jury zukommen zu lassen. Auch ein Werbescreening unter vielen anderen französischen Produktionen beim Sarasota French Film Festival in Florida sorgte für die Verbreitung des Films: Miramax wählte “Baby Blood” zur amerikanischen Distribution aus – diesen, und nur diesen Genrebeitrag, unter allen anderen Konkurrenten!
30 Jahre später erscheint “Baby Blood” (2016 frisch vom Index der BpjM gestrichen) in neuer 4K-Abtastung und in einer besonderen Edition zum Jubiläum und zementiert so seinen Ruf als Kultfilm. Natürlich wird er nicht mehr das große Publikum erreichen, das ihm zusteht; die aufwendige Restauration lässt ihn aber in dem Licht erstrahlen, das ihm gebührt.
Dreh- und Angelpunkt bildet Hauptfigur Yanka (dargestellt von Emmanuelle Escourrou in ihrer ersten Hauptrolle), deren durch Abhängigkeiten bestimmtes Leben, dank des Parasiten, ein paar neue Optionen gewinnt und zu einer Art von Freiheit führt, die ihr vorher, als Spiel- und Punchingball der Männer, nicht vergönnt war. Eine ganz hinreißende Darbietung, bisweilen ur-komisch (im Schlagabtausch mit dem vom Regisseur gesprochenen Wesen/Baby), aber auch die einer Anfängerin nicht unbedingt zugetraute Souveränität eines körperlichen Spiels, das über das fade Laszivsein im gewöhnlichen Hollywoodschinken weit hinausgeht: Aufgebrochene Körper, zerteilte Körper, Innenansichten und deren Flüssigkeiten. Ja, “Baby Blood” ist auch ein Splatterfilm. Nicht einer von den ganz derben, aber gut getrickst und angemessen frontal.
Auf rein formaler Ebene nutzen Regisseur Alain Robak und sein Kameramann Bernard Déchet das niedrige Budget auf allerbeste Weise, um in den kontrastreichen Aufnahmen das gelbliche Licht der Natriumlampen und die knallige Sensation des Blutes zusammenführen. Neben den nächtlichen Szenen, der Hauptattraktion, vergisst man nicht, auch das Tageslicht besonders in Szene zu setzen, sich vom üblichen Einheitslook abzugrenzen. Es sind wenige Lichtquellen, die genutzt werden, oft sogar nur eine einzige, was Déchet aber für das besondere Aussehen des Films urbar macht. Währenddessen bedient sich Robak eines Kniffs des Italienischen Kinos der 1960er und 1970er, den Zusammenhang zwischen Bildern und Ton zu stärken, indem er auf den O-Ton verzichtet und sein Klanggerüst (Dialoge, Musik, Sounds) vom Grund auf in der Nachbearbeitung, im Studio, errichtet. (Dies geschah in Italien vor allem wegen der verschiedensprachigen Herkunft der verpflichteten Schauspieler. Meister wie Federico Fellini gebrauchten dies aber ebenso virtuos, um z.B. Rhythmus und Inhalte freier ändern und nachbessern zu können, um den Spielraum der Postproduktion erheblich auszuweiten.)
Wie alle besseren Genrefilme bedient sich “Baby Blood” nicht nur vorgegebener Schablonen, sondern füllt diese mit neuen Ansichten oder weist sogar über sie hinaus. Robaks Film etabliert die sehr einfache Geschichte um ein Wesen aus der Ursuppe, das endlich geboren werden möchte, um in ferner Zukunft die Vorherrschaft des Menschen zu brechen; verhandelt im Subtext aber seltenere Gedanken zu Schwanger- und Mutterschaft, die er durch zahlreiche Vignetten männlicher Rückständigkeit (um nicht zu sagen Rücksichtslosigkeit) und Vorherrschaft anreichert. Kleinteilige Episoden im Kontext des größeren Rahmens, die auf seine Kurzfilmvergangenheit verweisen (einer davon trägt den sehr hübschen Titel “Sado und Maso fahren Boot”) und letzlich das Bild einer männlich dominierten Gesellschaft ergeben, die ein besseres Leben für alle verhindert. Vom Stoppelhoppser mit Spielzeugpistole über den gemeinen LKW-Fahrer und Fußballfan bis hin zum Zirkusdirektor: Evolutionsbremsen, nicht zur Blüte gereiftes Leben.
Darin hat ihnen das Wesen aus der Ursuppe etwas voraus: Es macht sich auf den Weg zu seiner Vervollkommnung. Die Blutspur weist zum Ozean. Mama ist ein wenig stolz.