Politik bedeutet heute, aus einem überwiegend medialen Entscheidungszwang heraus zu handeln, obwohl wir nicht wissen, was zu tun ist. Eine europäische Nahost-Strategie gibt es nicht. Wir sind Getriebene und treiben nichts voran. Das Vakuum, das die derzeit verunsicherten und ziemlich orientierungslosen USA im Nahen Osten hinterlassen, füllen wir weder mit Gedanken aus noch mit Taten. So viele Jahrzehnte sind wir den USA im Windschatten gefolgt, dass wir vergessen haben, was eine gestaltende Außenpolitik ist. Zu Zeiten des Kalten Krieges war Außenpolitik einfach: Man tat alles, was die USA wollten, und verzichtete dabei auf militärische Beteiligung. Das 21. Jahrhundert hat andere Koordinaten und erfordert eine europäische Außenpolitik, die mehr im Blick hat als die Sicherung ökonomischer Interessen. Bislang stellt sich eine solche Politik als eine einzige Überforderung dar, national und europäisch. Deutsche, allen voran der talentierte Herr Steinmeier, sind besonnene Diplomaten zwischen Streithähnen. Eine Zukunftsstrategie dagegen ist bei keinem Konfliktherd in Sicht.
Der Politologe Herfried Münkler sieht den Grund dafür in unserer überalterten Gesellschaft. Sie gestalte nicht, sondern formuliere bevorzugt Werte, Regeln und Normen. Schreibtischphilosophen statt Macher, könnte man Münkler zusammenfassen. Alles richtig. Aber liegt das tatsächlich an der Überalterung unserer Gesellschaft? Ein anderer Grund dürfte noch wichtiger sein: Der Motor unserer politischen Entwicklung, nicht nur beim "Krieg gegen den Terror", ist der Affekt und nicht die Vernunft. Nicht durchdachte Zukunftsszenarien bestimmen unser politisches Handeln, sondern die Entrüstungsindustrie der Massenmedien. Politiker reagieren darauf mit taktischen Entscheidungen, nicht mit strategischen. Taktik bedeutet, das situativ Opportune zu tun; Strategie bedeutet, auf ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten.
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Was Mangel an strategischem Denken und Voraussicht bedeutet, lässt sich in der Flüchtlingsfrage anschaulich zeigen. Wenn heute Millionen Menschen aus armen Ländern vor unserer Tür stehen, so trifft uns das angeblich völlig überraschend. Wer hätte das wissen können? Die Antwort: jeder! Die Menschenströme folgen den Kapitalströmen, das wusste schon Karl Marx. Menschenströme lassen sich nicht aufhalten. Das ist noch nie jemandem gelungen! Seit Jahrzehnten schießen US-Grenzposten auf mexikanische Einwanderungswillige. Mehr als 10.000 Menschen verloren dabei ihr Leben. Doch die Zahl der illegal erfolgreich Eingewanderten ist weit höher und wird weiter anwachsen.
Auch Europa kann sich nicht abschotten, um seine Wohlfühlmatrix nicht teilen zu müssen. Haben wir wirklich geglaubt, wir bekämen eine Globalisierung de luxe? Nur die Sonnenseite und nicht die Schatten? Europa als digitales Schlaraffenland? Eine Kultur- und Denkmalschutzoase für überalterte, schönheitsoperierte User und Konsumenten? Ein Welterholungsgebiet für Wohlhabende, vom Naturschutz konserviert und vom Klimawandel zu vielen neuen Blüten gebracht? Zugeschüttet durch Produkte aller Couleur von den laufenden Bändern in China und Bangladesch, verkauft als unendlicher Spaß aus der Sinn- und Unsinnproduktion?