Erstmal: Puh! Ich hatte zwar im Vorfeld gelesen, dass die eher ne melancholische Schiene fahren. Aber der Sound hat mich überrascht.
Hot-Take: Manche Passagen klingen wie Oasis. Wie Oasis bei ihren melancholischen Tracks. Wie eine halbe Zeile von Oasis auf ihren melancholischen Tracks. Nur als ganzer Track. Als ganzes Album.
Bei mir rennt man mit Traurig-Traurig-Streicher-Streicher-Tristesse-Tristesse offene Türen ein. Aber genau deshalb: bin ich hinsichtlich Traurig-Traurig-Streicher-Streicher-Tristesse-Tristesse auch picky.
Sigur Rós - Ágætis byrjun
Visuals:
Ich hab mir vorher keine Bilder von der Band angesehen. Da ich tendenziell vorverurteilend sein kann, wenn mir z.B. das linke Ohr des dritten Bassisten nicht gefällt. Visuell gibts ja trotzdem etwas: das Cover. Ich würde die ein oder andere isländische Krone darauf setzten, dass ich ziemlich dumm bin. Falls nicht: gibt es keine überraschende visuelle Idee. Doppeldeutigkeit. Meta-Ebene. Oder irgendein Twist. Auch den Albumtitel hab ich mir nicht übersetzen lassen. Und würde hier wiederum keine isländische Krone darauf setzen, dass es irgendwas mit Geboren / Anfang / Brut zutun hat.
Long Story Short: ich gehe sehr neutral an das Album ran.
Intro:
Ich werde von einer reverbgeschwängerten Soundfläche abgeholt. Klingt wie Musik im Abspann einer HBO-Serie über den Massensuizid einer Sex-Sekte in Ohio. Wenn es über den Massensuizid einer Sex-Sekte in Ohio eine Serie auf HBO gäbe. Ich kann noch nicht identifizieren, ob ein Mann oder eine Frau singt. Eigentlich kann ich nicht einmal identifizieren, ob überhaupt jemand singt.
Um es auf den Punkt zu bringen: ich vermute, dass das Intro den grundsätzlichen Ton des Albums auf den Punkt bringt.
Svefn-G-Elfar:
Euphoriebeschwipst glaube ich noch daran, dass ich mir ableiten kann, was Svefn-G-Elfar bedeutet. Oder bedeuten könnte. Kann es aber nicht. Was ich allerdings richtig gut kann: daneben liegen. In meinem horizontarmen Musik-Kosmos hab ich es gelernt, dass nach dem Intro meistens ein Brecher folgt. Bei 50 Cent kommt schliesslich auch „In the Club“ nach dem Intro (oder?). Also bestimmt auch bei Sigur Ros? Überraschung: Nein.
Der Sound wird allerdings etwas klarer. Bleibt aber noch ordentlich „dizzy“. Würde HBO eine Max Payne Serie produzieren, dann würde dieser Song im Abspann einer Max Payne Serie auf HBO laufen. Fazit: Sigur Ros sind nicht 50 Cent. Und der Song Svefn-G-Elfar ist erstmal okay.
Ich bin gespannt, ob sie diesen „schwammigen“ Sound durchziehen. Oder klarer werden.
Staralfur:
Mir fällt das erste Mal auf, dass ich die Atmosphäre des Sigur Ros-Sounds mag. Ich wollte gerade schreiben, dass dabei aber ein latenter Creepiness-Faktor mitschwingt. Und in diesem Moment drehen die Streicher mal richtig auf und die Sängerin (jetzt eindeutig) ebenfalls. Ein bisschen Gänsehaut. Aber noch immer ein bisschen Unwohl sein. Die Sängerin umarmt einen nicht. Und ihr Gesangs-Style (und die fucking Sprache) lässt sie etwas über den Dingen stehen. Eher schweben. Ich weiß nicht, ob sie über die Schönheit der Natur während des isländischen Sommers besingt. Oder den letzten Ritualmordrausch.
Auch hier wieder eine visuelle Verknüpfung: Ich musste direkt an „Absolute Giganten“ denken. Und außerdem denke ich das erste Mal darüber nach, ob die Instrumentals alleine nicht schöner wären.
Flugurelfassin:
Uff. Starker Einstieg. Dazu sieht man in Slow-Motion Peaky Blinders zigarettenrauchend durch die Gassen marschieren. Ich habe das Gefühl, dass hier jemand anderes singt? Gefällt mir besser. Mehr kokslädierter Rockstar mit Augenringen unter den Augenringen nach 6 1/2 Tagen Hotel-Eskapaden mit reichlich Transvestiten. Vorher was es mir zu sehr Mittelalter-Markt.
Wahrscheinlich ist der Song von der Struktur am nächsten an den „üblichen“ Hörgewohnheiten. Ich find den Gesang hier bisher am Besten. Die Streicher im Song davor, haben mich allerdings mehr berührt.
Für heute lege ich die Kopfhörer zur Seite. Und bin gespannt, ob sie sich im Verlauf des weiteren Albums noch stärker gewohnten Song Strukturen nähern.
Neuer Tag. Neue Tracks. Ich bin heute Morgen auf meine guten Kopfhörer getreten. Das war nicht gut. Ich spüre ein wenig Scham gegenüber Sigur Ros, da ich nun mit 10 Euro-Ersatzkopfhörern in ihre Tracks eintauchen werde. Das Album am Arbeitsplatz laut über die Boxen zu hören wäre zwar möglich – aber ich möchte einem Gespräch mit der HR: „Du kannst dich jederzeit melden, wenn du Hilfe brauchst“ entgehen.
Ny Battery:
Der Song startet so, wie eine Staffel von Vikings enden könnte. Mir wird langsam klar, warum mir immer diese visuellen Verknüpfungen in den Kopf schiessen: die Musik von Sigur Ros setzt zu 99% auf Atmosphäre. Hier ist nichts reguliert. Hier ist nichts Catchy. Hier strömt gewollt ungewollter Klangmonsun in die Gehörgänge. Ich merke spätestens jetzt, dass sich eine gewisse Ungeduld im Magen breit macht. Ich warte darauf, dass es jetzt mal scheppert. Ich warte darauf, dass der Song einem Höhepunkt entgegensteuert. Oder mich irgendwie überrascht. Stattdessen torkelt er weiter vor sich hin. Die blechernden Drums im späteren Teil und der Gesang helfen nur bedingt.
Ich reflektiere das erste Mal meine eigene Meinung und stelle fest: für mich persönlich funktionieren bisher alle Songs für sich genommen. Aber in Albumlänge machen sie es mir bisher sehr schwer.
Hjartað hamast (bamm bamm bamm):
Kaum „beschwere“ ich mich, kommt der Song Hijartao hamst (bamm bamm bamm). Ich gebe zu, dass das „bamm, bamm, baam“ meinem einfachen Gemüt Hoffnung spendet, dass es hier mal krachen könnte. Tut es nicht.
Aber meine isländischen Freunde steigen klangtechnisch überraschend ein. Ich hätte gesagt, dass ich mich wie im Abspann einer HBO Serie über den Wilden Westen fühle, wenn HBO nicht bereits eine Serie über den Wilden Westen produziert hätte (Deadwood). Und auch wenn es nicht „kracht“ – ca. ab Minute 2:50 passiert es …. ein Höhepunkt! Die Streicher streicheln emotional mein tristesseliebendes Ohr und der Gesang formt eine Art Hook. Und macht damit diesen Track zu meinem bisherigen Höhepunkt des Albums.
Im Gegensatz zu meiner gestrigen Vermutung, bin mir mittlerweile übrigens sicher, dass hier immer die gleiche Person singt.
Viðrar vel til loftárása:
Ich muss zugeben: ich weiß, was der Titel dieses Songs bedeutet. Warum? Weil ich ihn nicht selbständig in diesen Beitrag tippen wollte und
aus Wikipedia kopiert habe (dahinter stand die Übersetzung). Ändert das was? Nein.
Der Song klingt nach Begleitmusik einer versöhnlichen Montage-Szene eines dystopischen Animes nach der epischen Endschlacht. Kurzzeitig dachte ich sogar, dass der Song so eingängig ist, dass er fast anbiedernd wirkt? Aber wer sich anbiedern möchte, der wartet nicht 6 Tracks.
Zu meinem Hot-Take am Anfang: ab ca. 7:47 kommt z.B. wieder so eine Passage, die mich an 1-2 Oasis-Tracks erinnert.
Olsen Olsen:
Der Titel des Tracks klingt wie ein Ikea-Einbauschrank (Mario Barth-Voice). Aber der Sound erinnert an den federgeschmückten Traumfänger in einer Selbstversorger-Kommune. Ich bekomme langsam das Gefühl, dass ich ein Gefühl für Sigur Ros bekomme. „Olsen Olsen“ empfinde ich als vergleichsweise harmlos.
Und wünsche mir für den Rest des Albums maximale Disruption. Nach acht Tracks fühle ich mich bereit dafür.
Ágætis byrjun:
Was soll ich zu dem titelgebenden Track sagen? Ich bin kurz davor die Kopfhörer zur Seite zu legen und den Song laut über meine Boxen zu spielen. Möchte aber vermeiden, dass mich die neue Design-Praktikantin zum Impro-Theater in der Sauerkrautfabrik Harburg einlädt. Bedeutet: mir zu harmlos. Schade.
Avalon:
Fast schon wehmütig starte ich den letzten Tracks des Albums. Und für mich spannenden Reise. Ich bin völlig frei von Erwartungen und lasse mich überraschen. Hier überrascht nichts. Vielleicht überraschend: das enttäuscht mich nicht. Das Outro fasst wie das Intro den grundsätzlichen Tenor des Albums zusammen und begleitet einen unaufgeregt bis zur Tür. Die ich erstmal hinter mir zumache. Aber sicherlich zeitnah nochmal öffnen werde, um mir andere Alben von Sigur Ros anzuhören.
Fazit:
Folgt. So wie 1 bis 10 Bergtrolle als Gesamt-Rating